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"
UNIVERSITAT HANNOVER
It
.,
FAKULTAT FUR GEISTES-
UND sOZ~vnSSENSCHAFTEN
HABILITATIONSSCHRIFT
CENTRE REPROGRAPHIQUE OE L'ENSEIGNEMENT SUP~RIEUR· 42193

I
"ES WANDELT NIEMAND UNGESTRAFT UNTER PALMEN"
GOETHE UND DIE GOETHEZEIT IM FRANKOPHONEN
SCHWARZAFRIKA
DR.
GNEBA KOKORA MICHEL
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aus Versehen unt.erblieben., Ich bitte um Verständnis dafür.
Das Wort "N~gritude" wird mit. " ~ " geschrieben 'und wird~.~
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in Anm. 10
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nach der Sonne.
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in Anm. 1.5
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(In diesen
11.
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in Anm.58
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Lit.eraturwissenschaft
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19
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1.5
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19
benuzt
benut.zt'
1 in Anm~85
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der -heutigen deut.-
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'schen Verhält.nisse
··
43
11
':' Messaqe'de Goethe.
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16
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6
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53
20
ni c hts andel"es
nichts Andel"es
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13
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54
18
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56
4
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L

2
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:
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6
in Anm. 142
Scheint wohl,
64
15
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..
~ i ."
6.5
12
folgende Worte Aus~
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2
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histol' ische ...
Historische ...
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. 7.5'
15
.übergeordende Macht
überordende Macht
..
76
1 ~in Anm. 168
in Verhältnis zu
im Verhältnis zu
,
I
:
nicht An,jel'es
nicr,ts. An,jeres . "
10
spielen kann
spie1en könne.
90
2
in Anm.212 :
vel'nachläßigt
vel'nachlässigt
4
in Anm.216
Schi' i ft betitelt
Schrift
! i
"
6
in Anm.217
Abhan,jlung betitelt
Abhandlung,
.
,
95
'3
in Anm.·231
chansons ,je nous
chansons.:de .chez .nous
97
10
schreit,t er'
s'cr'l'iebich'
97
Anm.238
Siehe Fußnote 4&
• Siehe Fußnote 193
"
Anm.239
• Siehe Fußnote 47
:
Siehe Fußn~te 194
. '38-
:. 2
in Anm. 24ü :
Be'~F' i f f s
- .'
116 :
Anm.288
Siehe Kap. C j .
.
Diese Anm.
entfällt
.
8
., hab't ihr
habt
129
17
'Sklavenhadels
Sk lavenhan,jels
Anm.320
Anm. (63)
Anm.304
;
;
135
1
in Anm. 3:3.5
jener Nüchternheit
jene··Nüchtel'nhei t
.
142
1 Co
o~
Negritude-Bewegung
· . Negr i tude-Bewe';Jung
"
14
typischdeutsch
typisch' deutsch
144
21
tl'a,ji tionnellen
t I'ad i t ione 11 en
147
21
Neg r itwje-Bewe';)un';)
• Negritude-Bewegung
"
16
hat man hiel'
hat man
I
!
153
Anm.391
Siehe Anm.
(1)
Siehe Anm.
17
"
0
t,
.
154
1 ~,
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Negritude-Theoretiker N~gritude-Theoretiker
,
"
16
. "
"
"
"
,"
"
.

Seite : Zei le
:
statt
: bi tte. lesen .-'~:t'
1.54
18
Negritude-Theoretiker N~gritude-Theoretiker
157
Anm. :395
Hajo H,jlborn:
V.;)l.
Hajo Holbol'n:
1·58
11
kämft
kämpft
, .
.
161
. 17
Negritude-Bewegung
N~gritude-8ewegung
".
13
"
"
. "
"
"
"
21
Schwar'zafr- ikas
." Schwarzaf r' ika
-166
Annl. 428
op.cit.
. :..' Geschi-chte.'·del'_:.N ie.,-
,jerlan,je •.. Gotha 190-5
.•
168
1
Negritude-Theoretiker N~gritude-Theoretiker
16'3
7
Staßen
Stl'aßen
j,
176
19
Var'aussetzUl1 l;J

Voraussetzunl~
177
1 in Anm. 465
(siehe Anm.4ll
(s i ehe Anm. 46:::n
179
Anm.470
::;iehe Anm.
(45)
Siehe AIJm.467
18:::
Anm. 4:'::1
r
187
20
aus unfähig
aüs fÜI'
unfätü'::J
191
7
'::Jetrogen
betl'ogen
199
16
Quaketl'of>\\petten
Quaketl'ompeten
200
:;:
Glaubenbekenntnis
G~aubensbekenntnis
201
9
EI'gbnis
EI'gebnis
204
.-, .....,
L L
Helena
..•
Hel ene
:
i :'
228
9
Negritude-Theoretiker N~gritude-Theoretiker
229
6
bstand
bestand
1
2:34
22
Verwiklichung
:
V~rwirklichung.
, \\
235
18
Fausts Verantwortung:
Gretchens:.
2.50
1 in Anm.640
unter unter unter . . •
unter .•
i ;
252
1
" ... Menschen" I
1I

~' • Menschen"
I :
253
9
Identikation
Id~ntifikation
256
12
Vernunft geheilt
Vernunf t.-,
gehei'l·t
"
1:3
abI' i ngen
abbl' i n'::Jen
2.59
Anm.662
Siehe Anm. (1)
Siehe Anm.656

Seite : Zeile
: stat.t.
.
bitte lesen.
346
1
:
:349
16
Negritude-Theoretiker N~gritude-Theoretiker
,
..
:3.5'"3
Anm. 859
N~gritude et math~­
(dem aber als unter-
rüatique
stl'ichen
!
:3.57
1
t(reutzervorgeschla-
~Cr'eut.zer· ·.:vQI:-I~eschla- ,".
';Jen
';Jen ." i

2.2.2.2
Vergleich der von Goethe geforderten Ästhetik mit der
von Senghor dargestellten schwarzafrikanischen . . . . . 142
2.3
MODELLE DER REBELLION:
SENGHOR UND DER STÜRMER UND
DAANGER GOETHE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . • • • • • • . . . . . • • • • 151
2.3.1
Sturm und Drang und Romantik in senghors Sicht ....• 152
2.3.2
Rebellionsvorbilder
155
2.3.2.1
Ein unpassendes Vorbild: Götz von Berlichingen •..•• 155
2.3.2.1.1
Götz,
ein Kämpfer für politische Unabhängigkeit? •. 156
2.3.2.1.2
Götz,
Störer der öffentlichen ordnung oder Verfechter
der Tradition?
160
2.3.2.2
Politik und kulturelle Eigenheit:
Egmont • . . . • . . . . . . 164
2.3.2.2.1
Egmont,
ein unpolitisches Opfer der Politik? ....•• 168
2.3.2.2.2
Politische Integration und kulturelle Eigenheit ..•• 174
2.3.2.2.2.1 Kultur und Politik bei Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . • . . • • 179
2.3.2.2.2.2 Egmont und Senghor
182
2.3.2.3
Größe und Schönheit der Selbständigkeit: Prometheus
und Ganymed
189
2.3.2.3.1
Die Größe der Selbständigkeit: Prometheus
190
2.3.2.3.2
Schönheit durch Selbständigkeit: Ganymed
196
3
EIN PROBLEMATISCHES VORBILD:
FAUST
200
3.1
FAUST, VERBÜNDETER DES NEGRITUDE-THEORETIKERS
SENGHOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • • . . . . . • • 200
3.1.1
Faust an der Grenze der rationalen Erkenntnis
201
3.1. 2
Die Unzulänglichkeit der rationalen Erkenntnis:
Homunculus
, . . . . . . . . . . . • . . . • . • • 203
3.1.3
Der Magier Faust und das traditionale
Schwarzafrika
210
3.1.4
Faust, Verbündeter gegen den christlichen Gott des
Okzidents
215
3.2
SENGHORS EINSEITIGE DEUTUNG VON GOETHES "FAUST" . . . . 229

3.2.1
Eine Parallaxe kulturellen Ursprungs:
die Mißdeutung
der Magie
229
3 . 2 . 2
Fausts bedenkliche Rolle in Politik und
Wirtschaft
,
243
3.2.2.1
Faust, Verbündeter einer ungerechten Sache
243
3.2.2.2
Faust,
der problematische Modernisierer . . . . . . . . . . • . 246
3 . 2 . 3
Der "faustische Mensch"
von Oswald Spengler und
Senghors "Faust a visage d'ebene" . . . • . . . . . . . . . . . • . . 250
3.3
DIE UNBEGRIFFENE MAHNUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . 256
3 . 3 • 1
Senghor und Faust auf dem Weg nach Griechenland .••. 257
3 • 3 • 2
Goethes große Mahnung:
Euphorion . . . . . . . . . . . . . . . . . • • 262
4
MODELLE DER REIFE:
SENGHOR UND DER KLASSIKER
GOETHE . . . . . . • • . . . . • . . . . . . . . • . . . . • • • . • • • . . • . • • • • • • . • 272
4.1
GOETHES KLASSIZITÄT UND DIE NEGRITUpE
273
4.1.1
Die Rolle Gides und Valerys in Senghors Umgang mit
dem Klassiker Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • 273
4.1.2
Die Weimarer Klassik und die Negritude . . . . . . . . . . • . . 278
4.2
MODELLE KLASSISCHER REIFE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • 287
4 . 2 . 1
Gleichgewicht zwischen Herz und Vernunft:
"Iphigenie
auf Tauris"
287
4.2.1.1
Die Suche nach innerem Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . • . 290
4.2.1.2
Nationale Bindung und das Zusammenleben der
Völker
" "
297
4.2.1.3
Die Frau als Trägerin des Humanitätsideals
299
4.2.1.4
Humanität,
eine göttlich-menschliche Pflicht
303
4.2.2
Das Modell einer künftigen schwarz afrikanischen
Litera tur:
"Hermann und Dorothea"
310
4 . 2 . 2 . 1
Goethes Begriff "Weltliteratur"
und Senghors
"Civilisation de lIUniversel"
311
4.2.2.2
Die Versöhnung von Authentizität und
Universalität
315
t . t
• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
4.2.2.3
"Hermann und Dorothea"
und Senghors "Priere
de Paix" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • 322
121
Ai!!
;C:;:,i
Iit

VI
4 . 3
SENGHOR UND DER NATu~FORSCHER
GOETHE
330
4.3.1
Goethes Kritik an der neuzeitlichen
Naturwissenschaft
333
4.3.2
Goethes Naturanschauung und die von Senghor
dargestellte schwarzafrikanische Ontologie
341
5
ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNG . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . 351
5.1
Eine Bilanz
351
5.2
Die Zukunft Goethes und der Goethezeit im frankophonen
Schwarzafrika
.'
,
354
LITERATURVERZEICHNIS . . . 1 • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 359
. . . .0.
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iii,,;·;.;;.:i;·N~j;;;*...-;;;;···
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VORWORT
Jeder Germanist aus der Dritten~Welt im allgemeinen und im
besonderen aus Schwarzafrika hat Schwierigkeiten,
seine Tätigkeit
als nützlich für seine Gesellschaft zu legitimieren. Wie kann eine
"geisteswissenschaftliche Disziplin; die sich mit den sprachlichen
Kulturzeugnissen des germanischen und besonders des deutschen
Sprachraums befaßt"
(1),
sich neben anerkannt
entwicklungsfördernden Disziplinen wie Medizin, Biologie,
Geologie, Agronomie,
Physik, Maschinenbau behaupten?
Im Thema meiner Dissertation über Das Bild Afrikas in der
deutschen Literatur von 1750 bis 1884 fand ich eine Zeitlang einen
gewissen Trost, weil ich damit eine wissenschaftliche Leistung
erbrachte, die sich auf meinen Kontinent bezog und einer
germanistischen Kompetenz bedurfte.
Daß es den ersten Generationen
von afrikanischen Germanisten ähnlich erging,
führte dazu, daß das
Forschungsfeld "Afrika in der deutschen Literatur" in einigen
Jahren erschöpft wurde. Ob man sich nun dadurch an der Lösung der
für diesen Kontinent lebenswichtigen Entwicklungsprobleme
beteiligt hatte,
blieb weiter fraglich.
Der 1979 in Dakar über dasselbe Thema gehaltene Kongreß der
französischen Hochschulgermanisten ließ die Begrenztheit und die
Irrelevanz einer solchen Orientierung der Germanistik für
afrikanische Entwicklungsprobleme zu Tage treten.
Das führte zu
einer Debatte über die Legitimation einer Germanistik in Afrika.
Im Rahmen dieser Debatte veröffentlichte Leo Kreutzer einen
Artikel mit dem Titel Warum Afrikaner Goethe lesen sollen.
l)Deflnition vom Literatur-Brocknaus, hrsg.
und bearbeitet von Werner Habicht,
Wolf-Dieter Lange und cer BrockhauB-Redaktion, Hannheim 1988, Bd.2, 5.41
. .,: !
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&

VIII
Ich kannte damals schon Senghors Essays Le Message de Goethe
aux Negres nouveaux,
Negritude et germanite I und II und L'accord
conciliant (2)
und hatte mich in deren Sinn damit begnügt,
Fragen
wie die von Leo Kreutzer aufgeworfene mit meinem Glauben an die
vorn deutschen Ethnologen Leo Frobenius behauptete und von Senghor'
in den Essays vertretene Verwandtschaft zwischen deutscher und
schwarzafrikanischer Kultur abzutun.
Kreutzers Beitrag zur Debatte
über die Legitimierung einer Germanistik in Afrika gab mir die
Anregung dazu, meine eigene Stellung zu meinem Fach zu überprüfen.
Mit meinem Thema Goethe und die Goethezeit im frankophonen
Schwarzafrika habe ich Kreutzer beim Wort nehmen und seine Frage
auf meine Weise beantworten wollen.
Hannover, den 15. April 1992
2)BibliographiBche Angaben zu allen hier zitierten Titeln Bind im
Literaturverzeichnie zu finden.

EINLEITUNG
0.1.
ERLÄUTERUNGEN ZUM THEMA
"Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen,,(l).
Goethe und andere Autoren seiner zeit wandeln insofern unter
Palmen,
als sie seit einigen Jahrzehnten hie und da
im
frankophonen Schwarzafrika gelesen werden. Wie es ihnen dabei
bisher ergangen ist, warum es so gewesen ist und wie man dort
künftig mit ihnen umgehen sollte,
soll hier untersucht werden.
Zunächst aber bedarf es einer Präzisierung des Begriffes
"Goethezeit,,(2). Unter "Goethezeit" wird hier die Periode der
deutschen Sozial- und Geistesgeschichte verstanden,
in der die
deutsche Philosophie und Literatur im Gefolge der AUfklärung durch
den sturm und Drang,
die Weimarer Klassik und die Romantik eine
zuvor auf deutschem Boden noch nie erreichte Fülle und Tiefe
gekannt haben. Goethezeit wird diese Periode auch hier genannt,
weil sie mit dem Leben Johann Wolfgang Goethes,
ihres
herausragenden Vertreters,
zusammenfällt.
Ihr Beginn ist
anzusetzen in der Mitte des 18. Jahrhunderts,
mit der
l)Diesen Satz aue Ottiliens Tagebuch in den Wahlverwandtschaften von Goethe hat
Hans Christoph Buch zur Überschrift eines Kapitels seines Buchs Die Nähe und die
Ferne.
Frankfurter Vorlesur.gen
(Frankfurt a.Main 1991,
5.37-50)
gemacht.
Buch
zeigt dert,
wie Goethe trotz seiner Scheu ver der tropischen Welt dieser
durchaus nicht so fern gestanden habe, was sich in Alexander von Humboldts Werk
über diese Welt erwiesen habe.

2)EB scheint unter Fachleuten sehr anmaßend,
einen Begriff noch einmal klären zu
wollen, über dessen Entstehung und Sinn kein Geheimnis besteht. Ein Bolcher
Versuch erklärt sich aber dadurch,
daß die Abgrenzung der Goethezeit hier mit
der der Epoche nicht ganz übereinstimmt,
die Hermann August Korff zum ersten Mal
Ba bezeichnet
hat.
Vgl.
dazu H.A.Korffö Geiet der Goethezeit
{1914-1954),
3
Bände,
9.Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
Darmstadt 1974

Veröffentlichung der ersten Schriften Lessings und Klopstocks,
jener Kämpfer für eine nationale deutsche Kultur,
Schriften,
welche zur Entstehung der Sturm-und-Drang-Bewegung führten.
Die Vorstellung vom Ende der Goethezeit verband sich schon bei
den Zeitgenossen mit dem Namen Heinrich Heines, der 1831 schrieb:
"Meine alte Prophezeiung von dem Ende der Kunstperiode, die
bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird,
scheint ihrer Erfüllung nahe zu sein.
Die jetzige Kunst muß zu
Grunde gehen, weil ihr prinzip noch im abgelegten,
alten Regime,
in der heiligen römischen Reichsvergangenheit wurzelt.
Deshalb,
wie alle welken Überreste dieser Vergangenheit,
~teht sie im
unerquicklichen Widerspruch mit der Gegenwart."(
)
Schon 1830,
ohne auf Goethes Tod zu warten,
schrieb der
Linkshegelianer Theodor Mundt in der Einleitung einer Rezension
der zweiten AUflage von wilhem Meisters Wanderjahre:
"Die zeit der unbedingten Bewunderung und Anbetung( ... )für
Goethes Werke ist gewiß vorüber.,,(4)
In diesem Zusammenhang spielte Goethes wirklicher Tod also keine
Rolle mehr.
1830 galt die Zeit, die er verkörperte,
als vergangen.
Hier endet auch die Periode,
über welche die vorliegende Arbeit
geschrieben wird.
Gearbeitet wird über die Rezeption philosophischer und
literarischer Texte dieser Periode durch schwarzafrikanische
3)Heinrich Heine:
Sämtliche Schriften.
Band 5,
Schriften 1831-1837, hrsg. von
Karl Pörnbacher,
HUnchen/Wien 1976,
S.72
Den Begriff "Kunatperiode"
verwendet bereite Friedrich Schlegel in einem
Brief vom 27.Februar 1794 an seinen Bruder August Wilhelm,
in dem er Goethe als
den Dichter einer "ga~z neuen Kunst-Periode" bezeichnet.
In: oakar F.
Walzel
(Hrag.):
Friedric:: Sch:ecels B::-ie:e an seinen Bruder A'ugust Wilhelm,
8erlin
1890,
5.170
4)Zitiert nach Karl Robert Handelkow: Goethe in Deutschland.
Rezeptionsgeschichte eines Klassikers.
Band 1
(1773-1918),
HUnchen 1980,
S.77
BE
.iaj!

3
Intellektuelle aus den ehemaligen französischen Kolonien,
auch
solchen,
die,
wie Togo und ein Teil von Kamerun,
erst nach dem
Ersten Weltkrieg unter französisches Mandat gestellt wurden.
AUfgrund der gemeinsamen kolonialen Vergangenheit besteht zwischen
diesen Ländern ein kultureller Zusammenhang.
0.2
DIE UNTERSUCHUNGSGEGENSTÄNDE
Quantitativ gesehen,
ist die Rezeption der Goethezeit bei den
frankophonen schwarzafrikanischen Intellektuellen äußerst gering.
Dies erklärt sich zunächst dadurch,
daß es hier um einen
außereuropäischen und frankophonen Rezeptionsraum geht,
in dem der
zugang zur deutsch-sprachigen Kultur räumlich und sprachlich
erschwert ist.
Ein Franzose,
der Deutsch lernt, erlernt die
Sprache eines europäischen Nachbarvolks,
dessen Leben ihm nicht
gleichgültig sein kann.
Dies ist nicht der Fall bei einem
ehemaligen französisch-kolonisierten Schwarzafrikaner. Außer der
Tatsache, daß dieser mit dem deutschen Volk nicht den Lebensraum
teilt,
ist sein Kontakt mit diesem Volk in der Geschichte entweder
inexistent oder sehr kurz gewesen.
Dieselbe Geschichte also,
welche ihm die französische Kultur und Sprache aufgezwungen hat,
hat ihm den Zugang zu deutscher Kultur und Sprache erschwert.
Die deutsche Kolonialzeit in Afrika
(1884-1918)
ist zu kurz
gewesen,
um bei den Afrikanern ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit
den Deutschen entstehen zu lassen; dies konnte um so weniger
entstehen,
als Deutschland in seinen Kolonien keine
Assimilationspolitik betrieb. Bis 1907 konnte die deutsche
Kolonialschule die einheimischen heranwachsenden Bevölkerungen
nicht ernsthaft in die deutsche Kultur einführen. Als die

4
Reichsregierung sich dann anschickte,
aus den Einheimischen durch
schulische Erziehung Angehörige des deutschen Reiches zu machen,
hatten viele von ihnen schon die bittere Erfahrung gemacht, daß
die Deutschen nicht als Freunde oder "wohlwollende Väter",
sondern
als Eroberer -
ja als grausame Eroberer - bei ihnen waren.
Die
Zeit zwischen 1907 und 1914 war nun zu kurz gewesen, um die
Früchte der von Bernard Dernburg eingeführten,
von seinem
Nachfolger im Staatssekretariat für Kolonialangelegenheiten Solf
fortgesetzten,
den einheimischen Bevölkerungen einigermaßen
günstigen Kolonialpolitik zu ernten(5).
Diese Politik hätte nicht
einmal ihre erste Schülergeneration zum Abitur führen können, da
alsbald der Erste Weltkrieg ausbrach und der deutschen
Kolonisation in Afrika ein Ende setzte.
Daß während dieses Kriegs
die deutschen Schutztruppen in Afrika eine aufrichtige
Unterstützung bei den einheimischen Bevölkerungen ihrer Kolonien
gefunden haben,
erlaubt auch noch nicht,
von einern wahren
Zusammengehörigkeitsgefühl bei diesen Afrikanern mit ihren
deutschen Kolonialherren zu sprechen.
Und da die deutsche
Kolonialschule nicht bis zum Abitur ausbildete, kann man mit
Sicherheit folgern,
daß die Rezeptionsschancen einer auf Deutsch
verfaßten Literatur unter den damals geschulten Einheimischen der
deutschen Afrika-Kolonien äußerst reduziert waren.
Die späteren Generationen europäisch-gebildeter Afrikaner aus
den ehemaligen deutschen Kolonien hatten schon mit anderen
europäischen Kulturen - hier mit der französischen -
zu tun.
Entsprechend spärlich sind die schriftlichen Zeugnisse über
eine Rezeption der Goethezeit bei den frankophonen
5)vg1.Hans Georg Ste1tzer:
Die Deutschen und ihr Kolonialreich.
In: Hundert
Jahre Afrika und die Deutschen,
hrBg.
von Wolfgang Höpker,
Pfullingen 1984,
S.21ff
..
.. .. ia:afoLtl"':1if:lfi:glisa" tlilillii! Wlil 'q, J!
"

5
schwarzafrikanischen Intellektuellen.
Insgesamt handelt es sich um
kaum hundert Druckseiten.
Einen großen Teil davon macht allein die Goethe-Rezeption des
Senegalesen Leopold Sedar Senghor aus,
der eine besonders tiefe
Sympathie für die deutsche Kultur im allgemeinen und im besonderen
für die der Goethezeit bekundet und ihr eine bedeutende Rolle bei
der Formulierung seines Negritude-Konzeptes zugesprochen hat.
Senghor ist nicht nur der allererste,
sondern auch der einzige
frankophone schwarzafrikanische Intellektuelle,
bei dem eine
evidente und Schule machende Rezeption der Kultur der Goethezeit
nachzuweisen ist.
Die Untersuchung seiner Goethe-Rezeption nimmt
deshalb in meiner Arbeit den größten Raum ein.
Senghor, geboren 1906,
ist mit mehreren Gedicht- und
Essaybänden einer der bekanntesten Schriftsteller aus dem
frankophonen Schwarzafrika.
Er gilt auch als eine der wichtigsten
politischen Figuren Westafrikas und besonders seines Landes
Senegal, das er ab 1946 im französischen Parlament vertrat,
bevor
er zum ersten Präsidenten dieser 1960 unabhängig gewordenen
ehemaligen französischen Kolonie wurde.
seit seinem freiwilligen
Zurücktreten aus dieser Funktion im Jahre 1980 lebt er als freier
Schriftsteller in Dakar.
Seit 1981 ist Senghor auch Mitglied der
Academie Francaise.
Sein 1949 veröffentlichter Goethe-Essay Le Message de Goethe
aux Negres Nouveaux(6)
ist das älteste Zeugnis einer bewußten
Rezeption deutscher Literatur der Goethezeit im frankophonen
Schwarzafrika.
Der Essay wurde im Rahmen der Würdigung Goethes
durch die UNESCO zu seinem <OO.Geburtstag verfaBt. Auf wenigen
6)L.S.Senghor: Le Heseage da Goethe aux N~gree Nouyeaux (1949). In: Der •. ;
Liberte 1,
Pari. 1964,
5.83-86
_ _ _ _........_ _ä··.·-iii·;;,···iii·iiiiiii···
......
·..
· ..,"IIllI
...
&:"',"'._. . ._,.......
.L..,.......
_

6
Seiten faßt Senghor das zusammen, was er für Goethes Botschaft an
Schwarzafrika hält.
Diese Botschaft folgert er aus seinem eigenen
Umgang mit Goethes Werk.
Er sei in den dreißiger Jahren auf
Anregung der Schriften des deutschen Ethnologen Leo Frobenius,
in
denen dieser eine Wesensverwandtschaft zwischen deutscher und
schwarzafrikanischer Kultur postulierte, von dem Stürmer und
Dränger Goethe so sehr begeistert gewesen, daß er sich mit
Gestalten mancher seiner damaligen Werke identifiziert habe,
um im
Rahmen der entstehenden Nlgritude-Bewegung den westeuropäischen,
insbesondere französischen KUlturimperialismus zu bekämpfen.
"NegritUde" ist ein von Aime Cesaire am Anfang der dreißiger
Jahre geprägter Begriff, der die Gesamtheit aller Kulturwerte der
Schwarzen aus Afrika und der Diaspora bezeichnen soll. Diese Idee
machten sich fast alle damals in Paris studierenden jungen
Schwarzen zu eigen, um der verachtungsvollen Haltung ihrer
Kolonialherren gegenüber den schwarzafrikanischen Kulturen
entgegenzutreten. Die abendländisch-rationalistische Kultur wurde
zugunsten einer eher gefühlsbetonten schwarzafrikanischen von
ihnen entschieden abgelehnt.
In seinem Goethe-Essay aus dem Jahre 1949 führt Senghor aus,
wie er in jenen dreißiger Jahren auf Anregung von Frobenius'
Schriften im Stürmer und Dränger Goethe das Modell jener Rebellion
gegen die Kulturwerce des Abendlandes,
besonders gegen seine
Vernunft,
gesehen habe
(7).
Der Stürmer und Dränger Goethe sei für
7)
"Leo Frobeniue neua avait embrigadee dans un nouveau Sturm und Drang,
neue
avait conduita ä Wolfga~g Goethe( ... ).
A la suite du rebelle,
neue naue
insurgiona contre l'ordre et les valeurs de
l'Occident,
ainguliärement contra ea
raison."
(Leo FrobeniuB hatte Un9 tür einen neuen sturm und Drang angeworben,
une
zu Walfgang Goethe geführt
( ... )
In der Gefolgschaft des Rebellen
lehnten
wir une gegen die Ord~ung und die Werte des Abendlandes,
besondere gegen seine
vernunft auf.)
L,s,senghot-:
La Hessage de Goethe ...
op.cit.,
5.84
-Ich werde in dieser A=beit frar.zöaiach-aprachige Zitate aus Texten,
die nicht
in einer deutGche~ FaGG~~g vorliege~1 ins Deutsche übersetzen.
Wenn deutsche
Lid
ElSi
2&2 Eh

ihn gleichsam der mit den Negritude-Vertretern verbündete,
kulturverwandte Deutsche bei deren Kampf gegen die
rationalistische französische Kultur gewesen.
Von dieser aggressiven Zurückweisung der rationalistischen
französischen Kultur sei er durch den Zweiten Weltkrieg und die
Nazi-Verbrechen geheilt worden(8). Wie Goethe vom Stürmer und
Dränger zum Klassiker,
habe er sich nun durch den Umgang mit
dessen Werk und Leben vom Vertreter der aggressiven Negritude des
Kampfes zum Prediger der Negritude der Öffnung und der Aussöhnung
entwickelt(9).
Goethes Botschaft an die neuen Schwarzen (aux
Negres nouveaux)
sei seine klassische Reife,
die darin bestehe,
daß er, der nordische Mensch,
dem Ruf der Vernunft bis an die
Küste des Mittelmeeres gefolgt sei.
Dort sei er,
Senghor, der
Mensch aus dem Süden,
aus Schwarzafrika,
ihm begegnet(lO). Jeder
Schwarze habe,
wie er selbst,
von Goethe zu lernen:
Übersetzungen, ~ie im Falle mancher Schrif~en von Senghor, vorhanden sind, werde
ich auf diese zurückgreifen wnd jeweils die Quelle angeben.
8)
"La defaite de la F'rance et ce l'Occideilt,
en 1940,
neue avait,
d'abord,
rendu8 stupides,
:-leus,
lee
intellec"C'.:els negres.
Neue noue reveillä..'l1es,
bient6t,
BOUs
l'aiguillon de
la catastrophe,
nUB et
degrisee
( ... ) Noue nows etiona mis,
du moine lee prisonniers,
a reli~e nos classiques avec la lucidite du revell.
Goethe se crouvait p3~mi e~x .. ,"
(Die Niederlage Frankreichs und des
Abendlai1des im Jahre JS';O haLte 'J:;9 ~:eser-InLellektuelle zunächst fassungslos
gemacht. Wir er~ach~en bald unter dem Stachelstich der Katastrophe,
nackt und
ernüchtert
( ... ) W~r hatten,
zumindest '""ir Kriegsgefangenen,
angefangen,
unsere
Klassiker mit der Hellsichtigkeit des Er~achenB wiederzulesen.
Zu ihnen gehörte Goethe .... ) Ebenda,
S.84
9)Ebenda,
S.85f
10)
"Etrange rencontre,
leFon aignifi.cative.
( ... ) Il avait march6 depui.
l'Etreme-Nord,
ä la recher~he du soleil. Nous venione
du Sud vers des paya plus
temp~res. Et voilA que nous nows etions rencontres sur les bords de la Mer
mediane, nombril du mo~de.~ (Setsame Begegnung, bedeutsame Lehre.
( ... ) Er war
vom äußersten Norden a~f der Suche nach Sonne hergewandert. Wir kamen vom SUden
nach milderen Ländern.
U:1d ....,ir ....'are:1 I..::1S an der Küste des Mittel-Meeres,
am
Nabel der Welt,
begegnet.) Ebenda,
S.86

8
"Jeder sei auf seine Art ein Grieche!
Aber er sei's,,(11)
Dieses Wort des Klassikers Goethe sei der Inbegriff seiner
Botschaft an die neuen Schwarzen. Grieche sein,
heiße für die
neuen Schwarzen nicht,
daß sie auf ihr Wesen und ihre Geschichte
verzichten sollen,
sondern daß sie künftig "Herren der herrlichen
tellur ischen Kräfte" sein werden,
"wodurch sich die Negritude
ausdrückt",
daß ihr Verstand den Ausdruck ihrer Ideen beherrschen
werde(12). Auf diese Weise werde sich die künftige
schwarzafrikanische Literatur neben Werke wie Hermann und Dorothea
von Goethe auf die stufe der Weltliteratur erheben,
ohne
aufzuhören,
echt schwarzafrikanisch zu sein(13).
Als erster Präsident des ein Jahr zuvor unabhängig gewordenen
Staates Senegal verfaßt Senghor 1961 seinen zweiten der deutschen
Kultur gewidmeten Essay unter dem Titel Negritude et
Germanite(14).
Darin stellt er sein von Kind auf gepflegtes
besonderes Verhältnis zur deutschen Kultur dar.
In der
katholischen Missionsschule von Ngasobil habe er während des
Ersten Weltkriegs durch die Erzählungen des Missionars Pater
Casson über diesen Krieg zum ersten Mal von den Deutschen gehört.
11) J.W.Goethe:
Antik und Modern.
In:
Werke,
Hamburger Ausgabe,
München 1982,
Bd.12,
5.172-176,
Zitat dort 5.176.
Zitiert von Senghor in:
La Message da
Goethe ...
op.cit.,
S.85:
"Chacun doit etre Grec a sa facen, mais doit l'Atre."
12)vgl. dazu Ebenda,
5.85f
13)Ebenda;
5.86
14)In:Ders.:
Liberte 3.
Negritude et Civili8atio~ de l'Universel, Paris 1977,
S.11-17.
Der ursprüngliche Titel,
"Negritude et Germanisme",
wurde
~ahrBcheinlich auf Anraten des senegalesischen Germanisten hmadou Booker
Washington Sadji BQ u~fo~muliert, der in seiner 1972 anläßlich der Verleihung
der senegalesischen Go~court-Prei8e in Dakar in Anwesenheit des Präsidenten
Senghor gehaltenen und im Jahrbuch der
dortige~ Philosophischen Fakultät
(Nr.6/1976,
5.211-225)
u~ter dem Titel Negritude et Germanit~ veröffentlichten
Rede zeigt,
wie der Begriff "Germanite"
in diesem Zusammenhang angebrachter sei
als
~GermaniemeM.
-
z
&::2

AUfgrund seiner traditionalen,
auf Tapferkeit ausgerichteten
Serer-Erziehung habe er mit seinen Schulkameraden große
Bewunderung für die Deutschen empfunden(15).
Diese kindliche
Vorstellung von den Deutschen sei in Schwarzafrika im allgemeinen
auch die der Volksmasse,
wobei ihr heutzutage wissenschaftliche
und technische Geschicklichkeit beigemischt werde(16).
Mit der deutschen Kultur sei er,
Senghor,
aber erst im
französischen Gymnasium Louis-le-Grand dank der intellektuellen
Redlichkeit seiner dortigen Lehrer in Kontakt gekommen, und dann
später an der Sorbonne. Über seine damalige Reaktion auf die
deutsche Kultur schreibt er:
"Et je trouvais,
chez les Allemands,
comme des echos aux
appels que je lan9ais dans la nuit:
comme les express ions
expressives des ioees et sentiments ineffables qui s'agitaient
dans ma tete,
dans mon coeur. Je decouvrais,
chez leurs
philosophes,
comme une vision,
mieux,
un sentiment, mieux encore,
une saisie en profondeur des choses.
Mais ce ne sont pas les
philosophes qui,
les premiers,
retinrent mon attention; non plus
que les linguistes,
dont les noms retentirent si souvent a mes
oreilles. Ce furent les musiciens et,
d'abord,
les Romantiques
allemands.
Sans doute etaient-ils plus faciles a comprendre,
je
dis:
a sentir. Mais, s'il en etait ainsi, c'est aussi qu'ils me
lS)"Notre jeu
favori,
1e jeudi et
1e dimanche r etait la querre.
( ... )
Dans ces batailles,
le9 Germains,
les Allemands,
etaient preaque toujours
presents:
grands,
blo:lds,
lee yel.:x plus bleue que
le8 Gaulois,
pas Bouvent
genereux, mais guerriera ruses et d'un courage temeraire.
Cela 8uffisait pour
naUB seduire.
(.,.)
naUB mangions,
chacun,
beaucoup de
"kemado" ou craute da riz
pour etre "ser ieux COITune \\.:n Pru6sien".
{ Unser Lieblingsspiel arn Donnerstag wie
am sonntag \\o..'ar das Kriegsspiel.
( ... )
In diesen Schlach:en ",'aren auch die Germanen,
die Deutschen,
fast
immer
gegenwärtig:
groß,
blond,
die J;.,uge:1 blauer als bei den Galliern,
nicht immer
edel aber listenreiche Kr~eger von tollkUhner Tapferkeit.
Das reichte hin,
uns
zu verführen.
( ... ) und -.·;ir aßen 'lLel
"Id~mado" oder Reiskruste, um "ernst zu
sein wie ein Preuße".)
Keqritude et Germanite,
op.cit.,
5.12.
Übersetzung von
GUnther Birkenfeld,
erschienen unter dem Titel Afrika und die Deutschen bei
Horst Erdmann Verlag,
!~bingen und Basel 1968/
S.g
l6)"L'imagerie enfantine que voilä,
j'en ai l'impression,
reste assez souvent,
en Afriq'Je,
Itimagerie populaire,
nuancee,
aujourd'hui,
d'habi1ete techniq'Je,
scientifiq'Je."
(Diese Kindervorstellu:1g hier - dünkt mich -
bleibt häufig genug
in Afrika die heute zutage mit technischer und wissenschaftlicher
Geschicklichkeit nuanc~erte Vo1ksvorstel1ung) Ebenda,
5.121 Übersetzung,
op.cit., Ebenda.
-
5
iMkiU'i!rt '
-

parlaient le langage le plus expressif,
au 9iveau de l'äme,
ou se
rencontrent Germains et Negro-Africains.,,(l )
Die wichtige Rolle des deutschen Ethnologen Leo Frobenius bei
dieser Begegnung mit der deutschen Kultur wird von Senghor hier
noch einmal besonders unterstrichen(18). Auch hebt Senghor
nochmals seinen durch die Erfahrungen während des zweiten
Weltkriegs,
insbesondere durch die LektUre von Goethes Werk,
herbeigefUhrten Übergang von der aggressiven Negritude zur
Negritude der Öffnung hervor.
Deutschland sei r,eute nicht mehr "das ewige Deutschland":
"Nous avons le sentiment qu'elle n'est plus l'Allemagne tout ä
fait:
"l'Allemagne eternelle".
Cette fois-ci,
les civilisations du
fait semblent avoir remporte,
sur elle,
une victoire morale:
elles
ont emousse son sens du reel,
assoupi son energie creatrice.
( ... )
Qu'onse rassure,
je ne regrette pas les genies obscurs du Sang
ni de la Foret,
meme chantes par wagner.
Mais "etre grec ä sa
facon",
comme le voulait Goetr,e,
qui represente l ' ideal de
l'humanisme allemand,
du moins l'equilibre entre coeur et esprit,
ce ne saurait etre se convertir au "materialisme":
1 la
civilisation du confort.
( ... ) Je me demande si la solution n'est
pas dans ce retour aux sourees:
1 la symbiose des deux cultures
qui informerent,
avec la nation allemande,
l'humanisme allemand.
En tout cas,
11 fut
la splendeur du genie allemand.
Et sa verite.
Car
( ... )
l'avenir appartient 1 la civilisation metisse:
a celle
17) "Unct bei den Deutschen fand
ich 80 etwas wie ein Echo auf die Rufe,
die ich
in die Nacht entsandte:
als den ausdrücklichen Ausdruck der nicht auadrückbaren
Gedanken und Gefühle,
die sich in meinem Kopf,
in meinem Herzen bewegten. Bei
ihren Philosophen entdeckte ich ein Schauen,
besser: ein Empfinden, besser noch:
ein Ergreifen in die Tiefe der Dinge.
Aber es waren nicht die Philosophen,
die
ale erste meine Aufmerksamkeit
festhielten;
auch nicht die
Sprachwissenschaftler,
deren Namen 80ft in meinen Ohren widerhallten.
Es waren
die Musiker und vor allem die de~tschen Romantiker.
Fraglos waren sie viel
leichter zU verstehen I
ich meine:
zu
fühlen.
Aber wenn es an dem war,
dann auch
darum,
weil
sie zu mir
in der ausdruckvollsten Sprache redeten,
und zwar auf
jener seelischen Ebene ,
auf der sich Deutsche und Schwarzafrikaner begegnen."
Ebenda,
S.13,
Übersetzung von Günther Birkenfeld,
op.cit.,
S.lOf
18)vgl. dazu Ebenda,
S.l3f
Übrigens fühlt
sich Senghor Leo Frobenius gegenüber immer noch deshalb zu
Dank verpflichtet,
~eil ~iemand besser als er Afrika und die Afrikaner ihnen
selbst offenbart habe
(\\'gl.
dazu L.S.Senghor:
Les Lecons de Leo Frobenius
(1973).
In:
DerB.:
LLoerce 3,
op.cit.,
S.398ff)
'f'
;ii 1m
II 2".
l t

qui aura join~, au ~?n de la creation, celui de l'organisation ä
la greco-roma lne. " (
)
.
Grieche zu sein,
bedeutet also für Senghor sozusagen,
eine
kulturelle Mischehe einzugehen,
d.i.
eine Mischkultur zu gründen,
die sich dadurch charakterisiere, daß in ihr das Gleichgewicht
zwischen Verstand und Herz gepflegt werde,
was dem deutschen
Humanismus besonders gelungen sei.
Einer solchen Mischkultur
gehöre die Zukunft.
1968,
anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des
deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main,
entwickelt der
Preisträger Senghor in seiner Rede denselben Gedanken im
Zusammenhang mit der Auffassung des Friedens bei dem traditionalen
Schwarzafrikaner:
"Ma is
( ... ) pour le Negro-Africain,
la pa ix n' est pas·
seulement une negation:l'absence de guerre.
C'est surtout une
situation positive:
un jeu de rapports equilibres,
aussi bien
individuels qu'interpersonnels.
Paix est synonyme d'ordre et
d'harmonie
( ... )
Pour le Negro-Africain donc,
l'Homme,
dans sa vie individuelle
et dans sa vie sociale,
a pour vocation de reparer le mal, qui
provient du desordre originel,
en recreant l'ordre primordial de
la creation a l'exemple et image de Dieu: cet ordre qui est
harmonie parce que justes proportions et participation de tous les
19)"Wir haben da. Gef~hl, daß es Uberhaupt nicht mehr jenes "ewige Deutschland"
ist.
Diesmal scheir.e~ die Kulturen der Vernunft über Deutschland einen durchaus
moralischen Sieg davongetragen zu haben;
sie haben seinen sinn für das Wirkliche
stumpf gemacht I.lnd se:,,;-,e schöpferische Kraft erschöpft.
( . . . )
Ganz gewiß klage
i~h hier nich: de~ dunklen Geistern des Blutes und der
w~lder nach,
mögen sie Wagnermelodien singen.
Aber "griechisch zu sein auf seine
Weise"
wie Goathe es w811te,
was das
Ideal des deutschen Humanismus verkörpert,
zum mindesten das Gleichgewicht zwischen Körper und Geist:
das hätte sich nicht
in "Materialismus" ve!'"kehren sollen,
in eine Zivilisation des Komforts.
( ... )
Ich frage mich,
ob ~ic~~ die Lösung in einer Rückkehr zu den Ursprüngen liege,
in einer Symbiose cer beiden K~lturen, dLe mit der deutschen Nation den
deutschen Huma~ismus bilde:en.
Darin lag jedenfalls die Größe des deutschen
Genius.
Und die Wahrheit.
Denn die Zukunft
( ... ) gehört der Mischkultur:
einer,
die mit der eigenen schöpferischen Kraft
jene andere vereint,
die in der
griechisch-römischen Ordnung ihren Ausdruck fand."
Ebenda,
S.16f,
Übersetzung
von G.Birkenfeld op.cie.,
S.lSf
11I1
snxu
f!
&
.1

\\2
elements qui constituent la personne,
la societe,
le monde,
l'univers.,,(20)
Damit sei der Schwarzafrikaner dazu veranlagt,
das Ideal der
Weimarer Klassik zu teilen.
Denn das griechische Wesen, das ihre
Vertreter, Goethe und Schiller,
so faszinierte,
sei der Ausdruck
der Pflege derselben Harmonie gewesen,
welche der AUffassung des
Friedens beim Schwarzafrikaner zugrunde liege.
Übrigens sei das
griechische Wesen das Produkt einer Mischkultur gewesen, die aus
der Verflochtenheit und der gegenseitigen Befruchtung kultureller
Beiträge aus Afrika,
Asien und Europa entstanden sei(21).
In Negritude et Germanite 2 wiederholt Senghor 1972 alle diese
Gedanken. Das Neue hier ist,
daß ein erfolgreicher Anschluß der
Schwarzafrikaner an die Moderne möglich sei,
genauso wie es dem
ihnen kulturverwandten deutschen Volk gelungen sei,
von der
"diskursiven Vernunft"
(la raison discursive)
Gebrauch zu machen,
um "Kenntnisse anzuhäufen" und "Fakten zu organisieren"(22).
20) .lFür
( ... ) den Schwarzafrikaner ist Friede jedoch nicht nur eine Negation,
eine bloße Abwesenheit von Krieg.
Friede ist zunächst und vor allem ein
positiver Zustand:
die :reie Entfaltung ausgewogener Beziehungen und
ausgeglichener Verhält~iBse, 90wo~1 im Innern des einzelnen Menschen wie
zwischen den versch~eder.en Henschen.
Friede ist gleichbedeutend mit Ordnung und
Harmonie. ( ... )
Für den Schwarzafrikaner iet es somit der Beruf des Menschen,
sowohl in
seinem Eigenleben als auch in seinem Zusammenleben mit den anderen Menschen das
Erbübel wieder gutzumachen,
das aus der mit seinem Ursprung als Menschen
zusammenhängenden verwirrung der Ordnung entstanden ist,
indem er nach dem
8eispiel und dem Vcr~ild Gottes die anfängliche Ordnung der Schöpfung neu
schaff t , eine Ordnung, ~ie Harmonie ist, weil an ihr alle Elemente der Person,
der Gesellschaft,
der Erde und des Weltalls im rechten Verhältnis teilhaben."
L.S.Senghor: L'Accord conciliant.
Frankfurt a.Hain 1968, S.43f, mit deutscher
Übersetzung
(Die Versöhnung der Gegensätze)
S.58t
21)vgl. dazu Ebenda,
5.50t,
deutsch S.68t
22)
"Dans son effert de classification des civilisations,
not re savant allemand
range l'allernande et l'ethiopienne dans le groupe de l'Est,
celui de la
rnystique , parmi les "civilisations qui n'ont pas encore perdu 1 'äquilibre entre
l'ame et l'entendernent"( ... ) Les Allemands Ont prouv~ qu'ile savaient, usant de
la raison discursive,
"amaeser des connaissancee" pour "organiser les faite"."
(In seiner Bemühung zur Klassifizierung der Kulturen ordnet unser deutscher
Gelehrter die deutsche und die äthiopische in die östliche Gruppe,
in die der
Mystik, ein,
also "unter die Kulturen,
die das Gleichgewicht zwischen Seele und
I!lfiIi' I Uf"
:Iil
&+,

13
0.3
KRITIK AN SENGHORS VERHÄLTNIS ZU~ DEUTSCHEN KULTUR
Die Senghorsche AUffassung des Verhältnisses des
Negroafrikaners zur deutschen Kultur ist auf erhebliche Kritik
gestoßen.
Im Sog der in den 70er Jahren einsetzenden, mehr oder
weniger heftigen Kritik von schwarzafrikanischen Intellektuellen
an der Senghorschen Negritude-Theorie(23)
haben einige Studien
auch von Nicht-Afrikanern versucht,
auf die Gefahr aufmerksam zu
machen, die sich hinter jener großen Zuneigung Senghors für die
deutsche Kultur,
insbesondere der Goethezeit,
verstecke.
In seiner Studie Leopold Sedar Senghor und Deutschland, deren
Thesen in seiner Habilitationsschrift über Les antecedents et la
Verstand noch nicht verloren haben."
( ... ) Die Deutschen haben bewiesen, daß
eie,
von der diskursiven Vernunft Gebrauch machend,
"Kenntnisse anzuhäufen~
wußten,
um
"Fakten zu organisieren".)
L.S.Senghor:
Negritude et GerrnaQit~ 2.
In:
Ders:
Liberte 3,
Paris 1977,
5.338-344,
Zitat 5.340
23) Vgl.
dazu:
-Jean-Marie Abanda Ndengue:
Oe la negritude au negrisme, Collection Point de
vue, Yaounde 1970
-Ebenez.er Ndjoh-Moelle: Recherche d'wne mentalite neuve.
Collection Point de
vue, Yaounde 1970,
dort besondere S.42f
-Derselbe:
L'Africa~i9me d'aujourd'hui. Collectlon Point de vue, YaoundA
1975, dort besonders S.20f
-Marcien TQwa:
Leopold Sedar Senghor:
negritude cu eervitude.
Collection
Point de vue ,
Yaounde
1971,
zB:
"Les vues de Senghor 1e aituent beaucoup plus
pree da Gobineau ~e da Cesaire ou da tout autre tenor da la negritude
(Damas,
Roumaio,
Dadi€!).
Sa concet:rtion n'appartient qu'A lui:
e'ast du eenghorieme."
{Mit seinen Ansichten ist Senghor Gobineau näher ale C~8aire oder jedem anderen
Vertret.er der Negritude
(Dumas,
Roumain,
Dadie).
Seine Auffaeung gehört ihm
allein:
es iet SenghorismU8)
5.11
-$tanielBs Adotevi:
Negritude et. negrologues.
Paria 1972,
dort ~8.: "La
negritude da Senghor, du P~re beIge Tempele,
da l'Allemand Jahn
(avec Bon Munt.u)
et da tant d'autree er.core,
ast un belier lance contre les illusions de ces
n~gres fous qui croient que liberer le negre des phantasmes du passe et du
present est une des conditions prem~~res de developpement de l'Afrique et da
not re orgueil."
(Die ~egritude von se~ghor, dem belgischen Pater Tempels, dem
Deutschen Jahn
(mit seinem Huntu)
und von noch anderen mehr,
ist ein
sturmbalken,
der gegen die Illusionen jener
verrückten Neger gerichtet wird,
die glauben, daß eine der ersten 8edingunge~ der Entwicklung Afrikas und unseres
Stolzes darin besteht, de~ Neger von den Phantasmen der Vergangenheit und der
Gegenwart zu befreien) 5.62
.ta
Sill
::2
!SaLZ
6
LEI JULi
lSi: i! _:
( Ilrre
JaSS_iF

genese de la negritude senghorienne(24)
wiederholt,
erweitert und
vertieft worden sind,
wirft Martin steins ein neues Licht auf die
"Wurzeln eine5 intensiv gepflegten Auseinandersetzung Senghors
mit Deutschland" ( 5)
steins Arbeiten -
besonders seine Habilitationsschrift -
liefern
viele Informationen über die Atmosphäre unter den schwarzen
Studenten der 30er Jahre im Pariser Quartier Latin. Man erfährt,
wie Senghor,
nachdem er wie alle damaligen Kämpfer gegen den
Kolonialismus mit der französischen Linken gemeinsame Sache
gemacht habe(26),
ihr gegen Ende des Jahrzehntes den Rücken
gekehrt(27)
und trotz der wiederholten Mahnungen seines
französischen Freundes Delavignette(28)
einen originalen Weg,
nämlich den Weg des kulturellen Nationalismus auf der Basis der
Rasse,
eingeschlagen habe.
Der ImpUls hierzu sei von der wenn
nicht befremdenden,
so doch sehr kühnen Lehre Leo Frobenius' ,
eines schon bei seinen Lebzeiten von der Fachwelt belächelten
24)Martin Steine:
Lee ant~cedentB et 1a gen~se de 1a n~gritude eenghorienne.
Habilitationsschrift
(Th~8e d'Etat) vorgelegt an der Universität Paris 111-
Sorbonne Nouvelle 1981,
1300 Seiten in 3 Bänden,
dort besonders S.1099-1221
25)1'1artin .Steine:
U;opold Sedar Senghor und Deutechland.
In:
Zeitschrift für
KulturauBBtauech,
29.
Jg.
1979/2,
2.Vj.,
5.225.
Wird weiter unter der Verkürzung
senghor und Deutschland zitiert.
26)
"Zu Beginn bewegten eich alle Widerstände gegen die Kolonia1regimes im
Kielwasser der europäischen Linken." Senghor und Deutschland,
5.226
27),,( ... ) die klare Absase , die Senghor 1939 in einem seiner ersten Essays der
französischen Linken und vor allem,
stellvertretend für die revolutionäre
Tradition von 1789,
ihrem intellektuellen Wortführer Jean Gu~henno
erteiltei ..• )" Ebenda,
S.227
28)
"L~opold Sedar Senghor, c'est A vous que je veux m'adreBser( ... )leB n~griers
racistes d'Allemagne veulent vous partager pour VOUB parquer."
(Leopold S~dar
Senghor,
an Sie will
ich mich wenden( ... ) Die rassistischen Negerjäger
Deutschlands wollen e~ch teilen und in Lager einsperren.),
Zitiert nach Martin
Steins
lEbende,
S.237)
und von mir übersetzt.
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2 ...
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.............
...._ ...............
_

deutschen Ethnologen(29) / gekommen. Nach jener These seien die
Neger nicht nur zivilisiert(30) / sondern ihr KUlturtypus,
der
"äthiopische",
sei mit dem deutschen verwandt.
Beide KUlturtypen
charakterisierten sich durch Einfühlungskraft und die Neigung zur
Mystik, während der "hamitische" Typus,
dem alle romanischen
Völker und das englische Volk angehörten,
sich durch die Magie,
den Sinn für Fakten und den willen zum Herrschen kennzeichne(31).
Da Frobenius selbst in der deutschen Romantik die letzte Blütezeit
jener mit der "äthiopischen" verwandten Kultur gesehen habe(32),
sei es selbstverständlich gewesen, daß die schwarzen
Intellektuellen, die ihn in den 30er Jahren - genauer 1936 -
entdeckten,
nicht nur von ihm begeistert gewesen seien, sondern
auch in ihrem Verhältnis zur deutschen Kultur der Romantik und der
ganzen sensibilitätsbewegung in Deutschland einen privilegierten
Platz eingeräumt und sich ihrer bedient hätten(33),
um sich gegen
die cartesianische Kultur des französischen Kolonialherrn
aUfzulehnen(34).
Somit kommt Steins zu folgendem Schluß:
29)
"Sein großangelegter und lebenslanger Versuch,
eine wissenschaftliche
Kulturmorphologie zu gründen,
wurde dagegen Bchon zu seinen Lebzeiten von der
Fachwelt belächelt." Ebenda,
5.231
30)Vgl.
dazu Lee Frobenius:
KUlturgeschichte Afrikas:
Prolegomena zu einer
hiBtorischen Gestaltlehre.
Wien 1933/ S.13!!
3l)vgl. dazu Darstellung und Kommentar von Hartin SteinB, op.cit., S.231f
32)
"FrobeniuB aber hatte gleichzeitig die Romantik alB die letzte große BlUte
des "äthiopischen"
Geistes in Deutschland dargestellt." Senghor und Deutschland,
5.232
33)Vgl. Ebenda
34)
"Der WiderBtandBwille der Schwarzen gegen die !ranz6BiBche ABBimilierung
erBchien nicht mehr bloß alB ein Kampf der gleichen Art wie der der Romantik,
sondern es war derselbe Kampf."
Ebenda,
5'.233
-Es darf hier nicht übersehen werden,
daß man mit einer solchen Interpretation
der Frobeniua- und Romantikrezeption bei den Begründern der N~gritude-Theorie
nicht mehr weit davon er.~fernt ist, einen Zusammenhang zwiBchen ihrer Haltung
i
und dem Gebrauch zu sehen,
den die Nationalsozialisten von der deutschen
Romantik machten,
wie es Hartin Steins fast unverhohlen tut.
Er beschUldigt
nämlich die Begründer der N~gritude-Theorie, Frobenius ' Theorie pervertiert zu
I
_._. - . . -_.-----_._..... _.__..~.

16
"Ohne den Einfluß Frobenius'
sKhe die Negritude mit Sicherheit
anders aus,
wen~ sie überhaupt zu einer ideologischen Formulierung
gelangt wKre."(
5)
Fast im gleichen Sinne argumentiert Hugo Dyserinck in seinem
Beitrag zum AGES-Kongreß in Dakar über Die Ouellen der Negritude-
Theorie als Gegenstand komparatistischer Imagologie(36).
Er zeigt,
wie die Entdeckung der deutschen Sensibilitätsbewegung durch die
schwarzafrikanischen Intellektuellen sie dazu geführt habe,
sich
das im Europa des 18. Jahrhunderts einigermaßen positiv bewertete
Bild des Negers als Naturmenschen anzueignen(37).
Besonders
erleichtert worden sei eine solche Aneignung durch die analoge
ablehnende Haltung der deutschen Stürmer und Dränger und
Romantiker einerseits und andererseits der von den Franzosen
kolonisierten Schwarzafrikaner der französischen rationalistischen
Tradition gegenüber(38).
haben,
indem aie einen Rassenbegritt da eingewoben hätten,
wo es eich nur um
eine Kulturmorphologie,
um Kulturelle Charaktere,
gehandelt habe, welche von
jeder Rasse unter gleichen Lebensbedingungen entwickelt werden könnten
(Vgl.
dazu 5enghor und Deutschland,
5.233f)
35)Ebenda, 5.231
36)Hugo Dyserinck. Die deutschen Ouellen der Negritude-Theorie als Gegenetand
komparatisticher Imagologie.
In:
N~gritude et Germanit~: l'~frigue Noire dans la
litt~rature d'expression allemande.
NEA,
Dakar 1983,
5.125-128
37)"Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein sogenanntes Heteroimage
(d.h.
ein Bild von einem anderen Land,
Volk U8W.),
sondern um ein sogenanntes
Autoimage
(d.h.
ein Bild vom eigenen Land,
der eigenen Gemeinschaft und der
eigenen Kultur). Außerdem geht e9 hier um einen jener Fälle,
wo diejenigen, die
von einer Heteroimage-8ildung betroffen werden
(i.c. dem Bild von Afrika und den
Schwarzen,
das sich schon vor der eigentlichen Kolonisation im europäischen
Geistesleben entwickelt hatte),
auf dieses Image mit der be~ßten Entwicklung
eines Autoimage reagieren,
das dann meistens in der Verlängerung des
betreffenden Heteroimage liegt." Hugo Dyserinck, op.cit.,
5.125
38)"Zu dem Prozeß der Umkehrung von Hetero- in Autoimage kam im vorliegenden
Fall noch ein zweiter höchst interessanter Vorgang hinzu:
die Entdeckung durch
die unter französischer Kolonisation erzogenen Schwarzen eines bereits älteren
innereuropäischen Vorgangs,
bei dem in ähnlicher Weise Vertreter eines "anderen
Landes"
im Verhältnis zu Frankreich und dessen "rationalistischer" Tradition,
von deren Einfluß u~d Dominanz eie sich
befreien wollten,
ein Autoimage
entwickelt hatten,
das sich( ... ) für die Schwarzen ebenfalls als brauchbar
erwies.
Es ging um den Prozeß der "nationalen" Bewußtwerdung des deutschen Sturm

17
In Anlehnung an steins(39)
zeigt der Senegalese Alioune Sow in
seiner Magisterarbeit über Frobenius und Senghor:
eine kritische
studie(40), wie senghor,
durch seine Lektüre von Frobenius
verblendet, manche Klichees über den Neger im Deutschland des 18.
und 19. Jahrhunderts unkritisch übernommen und daraus die
Charakteristika einer vermeintlichen Negerseele (äme negre)
1
gemacht habe(41) .
I~
rr
0.4
STELLUNGNAHME ZUR KRITIK AN SENGHOR
Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen,
ob das heutige
Mitglied der Academie Francaise in seiner Jugend,
d.h.
am Anfang
der Negritude-Bewegung,
fast ein Bewunderer des
Nationalsozialismus gewesen sei, wie Martin steins durch manche
Anspielungen suggeriert(42).
Durch die ständige Demütigung unter der Kolonialherrschaft
erbittert, waren die Anhänger der Negritude-Bewegung zwar anfangs
(1931-1936)
gegen Ehen zwischen Schwarzen und Weißen, wie es
und Drang des 18. Jahrhunderts,
und dies eindeutig im Sinne eines ~ufstandes
"deutsche"r n Romantik. gegen "franz.ösischen" Rationalismus,
Klassizismus,
CartesianismuB UBW." Ebenda,
5.126
39) ~ußer der Tatsache, daß A.Sow H. Steins zitiert, übernimmt er (5.97) von ihm
folgenden Satz;
~Das Anti-rationale war 89 also, das Senghor faszinierte.~
(Senghor und Deutschland,
5.230)
40) Hagisterarbeit vorgelegt an der Universität Saarbrücken 1980
4l)"Senghor akzeptier~ trotzdem Bolehe Klischees der Nicht-Objektivität der
Neger -
be~ßt oder unbe~ßt - und um eich davon abheben zu können, macht er aus
der "!me neire" eine unbedingte Wesenheit: ein unwandelbares Orundwesen."
Alioune Sow,

op,cit.,
5.100
42)
siehe dazu u.a.
folgenden Satz:
"Diese Zeilen,
die sich auf die chaotische
Revolte Deutschlanda gegen seine Niederlage von 1918 bezogen, mußten Senghor zu
der AuffasBung beflügeln,
der Na~ionalsozialismus verspreche den Sieg über die
"magische" WeltherrBchaf~ der atlantischen KolonialmäChte und ihre
materialistische Weltanschauung,
die sie auf die überseeischen Völker zu
übertragen suchten.~ M. Steins:
5enghor und Deutschland,
op.cit.,
5.238
. ····-·_~·"··"'7·....-,····,~..,.":"_yoo""1'IQ';l'I' .."i·l5'j·.·,.· .....!.,...'.;: 4QL I' ;: .....9 ..

18
Senghor selbst oft bekannt hat(43).
Es scheint aber übertrieben,
Senghor mit sidia gleichzusetzen, wie es steins anspielungsweise
"
'f',
t
Es mag noch angehen,
daß steins Senghors Aussage bezweifelt, er
und seine Gesinnungsgenossen hätten "die typische Unterscheidung
zwischen dem Nationalsozialismus und dem deutschen Volk"
gernacht(45). Daß aber Hitler nicht der Beschützer der Neger war,
war den Begründern der NegritUde-Theorie -
Senghor zumindest -
ganz klar(46).
Nur konnte sein Triumph ihre Begeisterung für die
43)
z.B.:
"Malgrt!i le nombre des mariages mixtes -
peut-1!tre a cause de cela -
chez les intellectuels africain9,
un certain nationallsme les a pro8crits.
Je me
le rappelle,
dans les annees 1931-1936,
les militants de la Negritude avaient
falt,
de ce refus,
une condition majeure de la fid61it~." (Trotz einer Anzahl
von Mischehen unter den afrikanischen Intellektuellen -
oder vielleicht deshalb
-
sind eie durch einen gewissen Nationalismus untersagt worden.
Ich erinnere
mich noch, wie in den Jahren 1931-1936 die Anhänger der Negritude aus dieser
Ablehnung eine Hauptbedingung der Treue gemacht hatten.) L.S.Senghor:
Pet er
Abrahams cu 1e classigue da 18 Negritude.
In:
Libert~ 1, op. cit., 5.426
44)
Sidia ist in Mirage da Parig
(1937),
einem Roman von OUBmane Soce,
ein
Bchwarzafrikanischer Student in Paris.
Diese Romanfigur bewundert Hitler und
weigert sich auS rassistischen Gründen,
bei der Taufe eines in einer Mischehe in
Paris geborenen Kindes Pate zu stehen.
Der Romancier legt Sidia folgende Worte
in den Hund:
"Si tu envisages la question d'un point de vue individualiBte,
il
n'y a pas de mal.
Seulement la question te depasse.
Elle interesse notre race et
son avenir meme."
(Wenn du die Frage von einem individualistischen Standpunkt
aus betrachtest,
so ist es nicht schlimm. Allein die Frage geht über dich
hinaus.
Sie betrifft unsere Rasse und deren Zukunft.)
Zitiert nach H.Steins:
Senghor und Deutschland, op.cit.,
5.235
Zwar identifiziert Steins im Kapitel
IX seiner oben erwähnten
Habilitationsschrift
(S.724-772)
jenen senegalesischen Studenten Sidia in Soces
Roman als Emile Faure.
Im Artikel Senghor und Deutschland aber deutet er eine
Verbindung zwischen Sidia und Senghor an und
leitet daraus die Hypothese einer
möglichen Sympathie Senghors für das Hitler-Regime ab,
von welchem der
Negritude-Theoretiker geglaubt habe,
"jenseits des Rheins
finde,
wiederum, eine
völkische Neugeburt statt,
eben jener Art,
wie er selbst sie für Afrika
anstrebte," Ebenda,
S.236
45)
"Nous faisions
la distinction classique entre le nazisme et le peuple
allemand." L.S.Senghor: Negritude et Germanite 1,
op.cit.,
S.14
-Dazu Hartin Steins:
"Ob diese Differenzierung im Urteil über das
zeitgenössische Deutschland wirklich so scharf war, wie Senghor es nach dem
Krieg angedeutet hat,
ist fraglich." 5enqhor und Deutschland,
S.234
46) Hierzu die Anspielung senghors auf den Skandal der Berliner Olympischen
Spiele von 1936 bei seinem am 10.
September 1937 in Dakar gehaltenen Vortra9
über Le probl~me culturel en A.O.F. (Das kulturelle Problem in A.O.F.)
In diesem
Vortra9 findet sich folgender fiktiver Dialog:

19
deutsche Kultur nicht auslöschen(47). Aber Steins selbst erkennt
die Unsicherheit des Bodens,
auf dem er hier baut; also schreibt
er:
;;
j
"Wie weit Senghor diesen Weg damals beschritten hat,
zu
welchen Spekulationen er vordrang und wieviel davon in seinen
späteren Schriften - seinem Handeln als politiker -
Ubriggeblieben
ist,
läßt sich bei d~W heutigen Stand der Dokumentation nicht
genau feststellen."(
)
Festzustellen ist,
daß alle diese Studien die von Senghor
selbst häufig behauptete Bedeutung seines durch Frobenius'
Schriften bekräftigten Verhältnisses zur deutschen Kultur bei der
Formulierung der Negritude-Theorie(49)
bestätigen.
-"Que ferons-nous de l'homme noir de demain,
plus precisement de l'Ouest-
Africain?
(Was ~erden wir aus dem künftigen Schwarten,
genauer dem
Westafrikaner,
machen?
)
-Un FrancaiB,
re pond Demba N'Diaye.
(Einen FranzoBen,
ant~ortet Demba N'Diaye)
-N'Diaye~ avez-vous assiste aux Jeux Olympiques de Berlin? (N'Diaye, ~aren Sie
bei den 8erliner OlympiBchen Spielen?
)
-Pour me faire lyncher!
En tout cas j'en ai lu les comptes rendus."
(Um mich
totBchlagen zu laBBeni
JedenfallB habe ich die 8erichte darüber geleBen.)
-Je crois que Hitler ne vous eüt pas asset estimä pour vous
faire lyncher ll
(Ich
glaube, Hitler hätte Sie nicht genug geBchätzt,
um Sie totBchlagen zu laBsen.)
L.S.Senghor:
Le probleme culturel en A.O.F.
In,
Libert6 1,
Paris 1964, S.12
47)"Hon enthousiasme,
notre enthouBiasme etait tel que le triomphe de Hitler ne
put l'eteindre."
(Hein Enthusiasmus,
unser Enthusiasmus ~ar so groß,
daß Hitlers
Triumph ihn nicht auslöschen konnte.) Negritude et Germanite 1, op.cit.,
5.14/
G.8irkenfeldB deutsche Übersetzung,
op.cit.,
S.14
481senghor und Deutschland, S.237
49)Hierzu z8.:
"C'est 4 la fin de cette periode,
4 la fin de mee etudes que je
d6couvrie
( ... ) l'autre face du genie allemand:
de l'ärne allemande au sens de
C.G.Jung, pour qui l'ärne est en meme temps penBee et Bentiment. Cs fut surtout
plus tard quand,
jeune professeur,
je revins aux sources,
en poursuivant mes
etudes dans les directions de l'echnologie,
singulierement des civilisations
negro-africaines. e'est alors que Paris et la France decouvraient A nouveau le
romantisme allemand.

Cecte double decouverte des civilisacions negro-africaines
et du mouvement du Sturm und Drar.g fut d'une importance decisive dans la
formulation du concepc de Negritude. Du moins pour moi."
(Am Ende jener Periode
und am Ende meines Studiums entdeckte ich( ... )das andere Gesicht des deutschen
Geistes,
der deutschen Seele im Sinne von C.G.Jung,
fUr den die Seele das Denken
und Fühlen zugleich umfaßt.
Und es ~ar vor allem noch später,
als ich junger
Lehrer zu den Quellen zurückging und meine Studien auf völkerkundlichem Gebiet,
insbesondere im Hinblick auf die schwarzafrikanischen Kulturen,
fortsetzte.
Eben
damals entdeckten Paria und Frankreich von neuem die deutsche Romantik. Diese
gleichzeitige Encdeckung der sch~artafrikanischen Kulturen und der deutschen

20
Senghor hat sich aber bei seiner Auseinandersetzung mit der
deutschen Kultur auf literarische Texte,
vor allem von Goethe,
bezogen. Die Autoren der bisherigen studien über senghors
Verhältnis zur deutschen Kultur sind diesen Hinweisen nicht
nachgegangen.
Für den Germanisten, der ich bin,
ist es von
Bedeutung, diese Texte mit der Absicht zu analysieren, den Wert
der Lehren, die Senghor selbst daraus gezogen zu haben meint,
in
bezug auf die damalige und heutige situation Schwarzafrikas
abzuschätzen.
Inwieweit entsprechen jene Texte dem Kontext,
auf
den Senghor sie bezogen hat? Wie erklären~\\~s§cn4~ventuelle
A~-~l..-;I'
Fehldeutungen dieser Texte? In der Bea~~~tung'so{bher Fragen
U.;, ('-:_~..it1
\\;:,
kann der spezifisch germanistische Be~\\fag zur~r~fhung über
Senghors Verhältnis zur deutschen KUltu.~~estehe~t)1
.....:.,,,
..ne'·J
. ,-ementS~
Neben Senghors Goethe-Rezeption ist im franRophonen
Schwarzafrika eine zwar schwache aber deutliche Reaktion auf die
deutsche Literatur und Philosophie der Goethezeit nachzuweisen,
welcher bisher weder in Afrika noch in Europa eine zureichende
wissenschaftliche Behandlung zuteil geworden ist(50).
Dieser
Aspekt der Rezeption der deutschen Kultur der Goethezeit im
frankophonen Schwarz afrika wird im ersten Teil der vorliegenden
Arbeit erörtert.
Bewegung des Sturm und Drang war.
zumindest
für mich.
von entscheidender
Bedeutung für die Herausbildung des Begriffe der N~gritude.) L.S.Senghor:
L'Accord conciliant,
op.cit.,
Französisch 5.45,
Deutsch 5.62
(Hervorhebung von
mir)
50)
L~opold S~dar Senghor und DeutBchland von Martin SteinB (op.cit.), Die
deut9chen Quellen der N~qritude-Theorie ale Gegenstand komparatietiecher
Imagologie von Hugo Dyeerinck
(op.cit.)
und Une äme n~gro-africaine
face au
message du romantisme ailemand
(in:
Negritude et Germanit~. L'Afrigue Noire dans
18 litt~rature d'expression allemande,
Dakar 1983,
5.129-136)
von mir selbst
sind Studien,
die sich nur mit einzelnen Aspekten
der Goethezeit befassen.
Sie
liefern keinen geBamten Überblick der Rezeption dieser Periode im frankophonen
Schwarzafrika.

21
0.5
ZIEL UND METHODE DER STUDIE
1
;1;."
~::
j
Ziel dieser Arbeit ist es,
die Auseinandersetzung
schwarzafrikanischer Intellektueller mit Ideen, Autoren und Texten
aus der Goethezeit darzustellen,
den Gebrauch, der davon gemacht
worden ist, kritisch zu beleuchten,
um bessere Gebrauchsaussichten
für Forschung und unterricht an schwarzafrikanischen Universitäten
aufzuzeigen.
Es soll die Bedeutung herausgearbeitet werden,
die
bislang im frankophonen Schwarzafrika der Kultur der Goethezeit
beigemessen worden ist, und es soll ferner deren Relevanz für die
Debatte über die Legitimation einer Germanistik in jenen
Gesellschaften, deren erste Sorge "Entwicklung"
heißt, abgeschätzt
werden.
Die Debatte über die Problematik "Germanistik und Entwicklung"
hat längst begonnen.
In diesem Zusammenhang schrieb Leo Kreutzer
schon 1984:
"( ... ) als vergleichende Kulturwissenschaft hätte die
Germanistik eine Chance,
sich in Afrika nützlich zu machen.
Sie
hätte Aussicht,
sich dort als Entwicklungsfaktor zu legitimieren,
indern sie Entwicklung als kulturellen Prozeß im Sinne einer
Entfaltung spezifischer Lebensverhältnisse zu verstehen suchte,
statt sich ohne weiteres einer Definition anzuschließen,
die darin
nichts weiter als "Modernisierung",
nichts anderes als einen,
aus
afrikanischer Perspektive,
ökonomisch und techg~logisch
voranbringenden Vorgang zu sehen bereit ist."(
)
Leo Kreutzer präzisiert seinen Gedanken wie folgt:
"Eine afrikanische Germanistik,
die sich nicht politisch auf
ein Entwicklungskonzept festlegen lassen wollte,
das ganz auf
Technologie-Transfer setzt, die folglich ihr Heil nicht darin
suchen möchte,
diesem durch fach- und wissenschaftssprachliche
Sonderangebote zuzuarbeiten,
sollte also fürs erste so frei sein
dürfen, eine Kritik des Eurozentrismus,
eines europäischen
"~,
Il Sl)Leo Kreutzer. Warum Afrikaner Goethe leBen Bollen, op.cit., 5.14
~,,':':
.- -..
"" ..

22
Öbertragungsdenkens im a5~gemeinen und der Kolonialpädagogik im
besonderen zu leisten."(
)
Im Bereiche der Literatur macht er folgenden Vorschlag:
"Eine afrikanische Erfahrungsweise europäischer Literatur
könnte gegenwärtig aber vielleicht darin bestehen, mit ihrer Hilfe
( ... ) zu reflektieren,
mit welchem Gewinn,
aber auch welchen
Verlusten an Lebensqualität der europäische Weg hin zu einem hohen
wirtschaftlich;2 und technologischen Entwicklungsstand verbunden
war und ist."(
)
Gefordert wird hier eine kritische Lektüre deutschsprachiger
Literatur im Lichte der Entwicklungsprobleme Afrikas.
An diesen Gedanken anknüpfend,
der mir nicht grundsätzlich von
dem verschieden scheint, was ein Jahr zuvor Sadji(54)
und Klaus
Schüle(55) mit anderen Formulierungen ausdrückten,
und den Alioune
52 )Ebend.
53)Ebenda
54)"ce qu'il Y a simplement A retenir en rapport avec notre pr~sent propos,
c'est que t'abondance des problemes d'ordre social, politique et culturel,
ainsi
que des problemes humains en decoulant,
auxquels l'Europe,
et, pour ce qui nous
concerne,
les pays germanophones,
se trouv~rent confrontes au cours du processus
d'emergence des Etats nationaux,
et qu'il leur fallait r~soudre en th60rie et en
pratique,
qui par consequent se sont refletes dans les chefs-d'oeuvre de la
litt~rature et de la philosophie,
peut au moins servir de mod~le de r~flexion
pour les citoyens de nos Etats
( ... ) Evidemment,
la condition pr~alable pour une
telle approche,
c'est ~Je ces chefs-d'oeuvre ( ... ) soient exploit~s de fa50n
critique et f~conde... " (Was aus den hier angestellten Überlegungen festzuhalten
ist,
ist einfach,
daß die Fülle von Problemen sozialer,
politischer und
kultureller Art,
und von daraus entstehenden menschlichen Problemen, mit denen
sich Europa und, was uns betrifft, die deutschsprachigen Länder im
Entstehungsprozeß der Nationalstaaten konfrontiert sahen,
die eie in Theorie und
Praxis lösen mußten/
und die folglich sich in den Meisterwerken der Literatur
und der Philosophie widergespiegelt haben,
den Bürgern unserer Staaten zumindest
als Reflexionsmodell dienen kann( ... ) Voraussetzung tür ein derartiges Verfahren
ist selbstverständlich, daß diese Meisterwerke
( ... ) kritisch und befruchtend
benutzt werden( ... )" Amadou Booker 5adji:
Prol~gom~nes A prooos de
l'enseignement de l'allemand et des ~tudes germanigues au S~n~gal.
In: Etudes
Germano-africaines Nr.l
(1983),
5.17-27,
Zitat 5.22
55)"Der Vergleich als Möglichkeit zur selbstbestimmten Aneignung fremder
gesellschaftlicher Erfahrungen,
als Möglichkeit zur Überprüfung fehlgeleiteter
gesellschaftlicher Entwicklungen( ... ) müßte begünstigt werden." Klau8 5chüle'
Deutschunterricht und Germanistik im Frankophonen Afrika.
In:
Etudes Germano-
africaine8,
Nr.l
(1983),
5.28-38,
Zitat 5.31
! .
-~~---------...,-

23
-,
Sow ein Jahr später in Anlehnung an Moussa Gueye(56)
und Klaus
Schüle(57)
um den Begriff "Ideologiekritik"
erweiterte(58), wird
hier untersucht werden,
ob der Gebrauch,
den frankophone
schwar~afrikanische Intellektuelle von den Ideen, Autoren und
Werken aus der Goethe~eit gemacht haben, von der Natur des
rezipierten Objekts und der Absicht des rezipierenden Subjekts her
zutrifft oder nicht.
Es wird also versucht werden,
sich nicht nur
mit dem "Verstehen"
des Objekts im Diltheyischen Sinne(59),
sondern auch und besonders mit der Art und Weise,
wie der
jeweilige afrikanische Leser mit dem re~ipierten Gegenstand im
Habermaschen sinne kommuni~iert(60), auseinanderzuset~en.
Dies impli~iert, daß die Bedeutung des re~ipierten Objekts,
d.h. der Idee, des Autors oder des Textes,
in seinem ganzen
historischen Zusammenhang dargestellt wird. Sicher liegt schon
56)MOuSSa Gueye,
Ansätze einer Ideologiekritik des Deutschunterrichts in der
Republik Senegal.
Dissertation. Osnabrück 1982
57)"Diese Uberlegungen machen deutlich,
daß jede landeskundliche Strategie in
Afrika vom Lehrenden und Lernenden eine ideologiekritische Haltung erforderlich
macht, die eine Selbst- und Fremdkritik umfassen muß" Klaus Schüle, op.cit.,
5.34
58)"Eine Germanistik,
die zur Uberwindung von struktureller Abhängigkeit und von
"Unterentwicklung"
beiträgt,
kann dieser "Rolle von Wissenschaft als
Determinante von Unterentwicklung"
entgegenwirken,
indem sie nicht nur die
deformierten produktionsweisen,
sondern auch die heterogenen Konatitutionsweisen
problematisiert und ihre Ursachen auf der Ebene einer Ideologiekritik
thematisiert."
Alioune Sow: Germanistik ale Entwicklungs-Wissenschaft? op.cit.,
5.73
o
59)Wilhelm Dilthey:
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den
Geisteswissenschaften.
Neuausgabe,
Frankfurt/Main 1970,
S.98ff
60)"Auf dem Boden der Intersubjektivität kommen sie
(die individuierten
Einzelnen)
in einem Allgemeinen derart Uberein,
daß sie sich miteinander
identifizieren und gegenseitig als gleichartige Subjekte
(hier Autor und Leser)
ebenso erkennen wie anerkennen; gleichzeitig können aber die Einzelnen in der
Kommunikation auch vonsinander Abstand halten und gegeneinander die
unveräußerliche Identität ihres Ich behaupten.
Die Gemeinsamkeit,
die auf der
intersubjektiven Geltung ( ... ) beruht, ermöglicht beides in einem: die
gegenseitige Identifikation und das Festhalten an der Nicht-Identität des Einen
mit dem Anderen.~
Jürgen Habermaa: Erkenntnis und Interesse.
In DerB.: Technik
und Wissenschaft als "Ideologie",
Frankfurt/Main 1968, 5.168

24
über jeden Aspekt der Goethezeit eine unmenge kritischer Literatur
vor.
Es werden hier nur die wichtigsten - und vor allem die
neuesten -
jener studien herangezogen.
In Auseinandersetzung mit
diesen studien werden eigene Ansichten über die analysierten Texte
und Zusammenhänge vorgetragen.
Von einer so erarbeiteten position
aus wird der Gebrauch überprüft, der von diesen Texten und
Zusammenhängen in der bisherigen frankophonen schwarzafrikanischen
Rezeption gemacht worden ist.
1
DIE ROLLE DER GOETHEZEIT IM KAMPF DER FRANKOPHONEN
SCHWARZAFRIKANISCHEN INTELLEKTUELLEN GEGEN DEN
EUROPÄISCHEN KULTURIMPERIALISMUS
seit der Entdeckung Amerikas durch die Europäer ist der
afrikanische Kontinent im allgemeinen und im besonderen der Teil
südlich der Sahara Opfer des westeuropäischen Imperialismus durch
den Sklavenhandel
(von der Mitte des 16. bis zur Mitte des
19.Jahrhunderts), die Kolonisation
(im 19. und 20. Jahrhundert)
und den Neokolonialismus nach den Unabhängigkeiten.
seitdem ist
das ganze Leben der Völker dieses Kontinents mehr oder weniger von
dieser geschichtlichen Realität geprägt. Untersuchungen über
Gesellschaft und Kultur dieser Völker können von der Problematik
des Imperialismus nicht absehen. Das Problem der Rezeption von
Philosophie und Literatur der Goethezeit durch die frankophone
afrikanische Intelligenz südlich der Sahara bildet hier keine
.
._._-_._~-_._----

25
Ausnahme. Bevor es aber im einzelnen erörtert wird, drängt sich
die Frage auf: wie überhaupt frankophone Schwarzafrikaner mit der
deutschen Kultur,
insbesondere der Goethezeit,
in Kontakt gekommen
sind?
1.1
ZUR ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG VON
REZEPTIONSBEDINGUNGEN DER GOETHEZEIT IM
FRANKOPHONEN SCHWARZAFRIKA
Um sich mit der Goethezeit,
einem ihnen geographisch und
historisch so entlegenen Phänomen,
beschäftigen zu können, muß den
frankophonen schwarz afrikanischen Intellektuellen ein globaler
Rezeptionsrahmen dazu historisch geschaffen worden sein.
Diese
allgemeine Rezeptionsmöglichkeit soll in diesem Kapitel
dargestellt werden.
Soll von Rezeption deutscher Kultur überhaupt bei frankophonen
Schwarz afrikanern die Rede sein,
so muß selbstverständlich zuerst
an die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika gedacht werden .
..__
_.._._._--_ _--_._--_ _---_.._-_._-

1.1.1
DIE VERMITTLUNG DEUTSCHER KULTUR IN DEN DEUTSCHEN
'KOLONIEN IN AFRIKA
Die deutsche Kolonisation wurde am Anfang von der
Reichsregierung als Angelegenheit der in jenen fernen Ländern
tätigen Deutschen betrachtet, denen das Reich nur seinen Schutz
gewähren wollte. Verantwortlich fühlen sollten sich die Kaufleute
im Bereiche der wirtschaft und der Verwaltung, die Missionare in
dem der KUltur(61).
Von der Gesamtzahl der Schulen her betrachtet, kann man wohl
behaupten, daß eine beträchtliche Arbeit auf diesem Gebiet in den
deutschen Kolonien geleistet wurde. Daß dabei eine große
Disproportion zugunsten der Missionsschulen herrschte,
läßt sich
daraus ersehen, daß 1913 z.B.
in Kamerun neben "mehr als 600
Missionsschulen" mit rund 63.000 Schülern nur 4 6ffentliche
Schulen mit 833 Schülern bestanden(62).
Bis 1897 aber bewahren die
Missionsgesellschaften -
besonders die protestantischen Missionen
-
insofern eine Kontinuität zu der vorkolonialen Zeit, als der
Unterricht in den einheimischen Sprachen gehalten wurde.
Die
Schule sollte vor allem alphabetisieren, damit die Evangelisierung
der Einheimischen erleichtert und beschleunigt werde.
Bis 1897
konnte man also sagen, daß die Schulen in den deutschen Kolonien
61)Joseph KbaBsil
LeB ~coleB au Cameroun en p~riode allemande: t~moignageB
vivantef1884-1914\\,
In: 'Kum'a Ndumbe(Hreg):
L'Afrigua et l'A11emagna da 1a
colonisation cl la coop~ration (1884-1985)",
Actes du colloque Bur 19 mame thäme.
Yaound~ 1985,
5 246-267, Vgl.
dort insb.
5.247f
62}J.Mbaeei,
op,cit.,
5.248
'"
_: ."..

27
in Afrika meist mehr gute Christen als deutsche Reichsuntertanen
ausgebildet hatten(63).
Die seit 1887 in Duala existierende einzige öffentliche Schule
konnte an dieser Tendenz der Bildungspolitik in der Kolonie
~ Kamerun wenig ändern. Der Reichskanzler Bismarck hatte den
~
~ dortigen Kaufleuten die Gestaltung des Unterrichtsprograrnrns
Iüberlassen. Denen ging es vor allem darum, "das notwendige
Personal zur Verwaltung der Kolonie auszubilden"
(64). Die
~
~ damaligen Lehrer der öffentlichen Schulen aber, die meist aus
Württemberg karnen,
beschränkten sich nicht auf die Vorschriften
:J
~ der Kaufleute und schienen im Geiste einer von der Deutschen
[t
, Kolonialgesellschaft gehegten Idee zu arbeiten, wie sie 1888 von
:' der Deutschen Kolonialgesellschaft formuliert wurde:
:;
~
J
r-:
"Es gibt sicherlich kein besseres Mittel, unsere schwarzen
Landsleute zu zivilisieren und zu germanisieren,
als daß man ihnen
die Gelegenheit bietet, mit der Sprache, dem Lied und anderen
europäischen Ideen und Auffassungen vertr~Mt zu werden. Dieser
Kontakt wird durch die Schule erfolgen."(
)
IIn der Zeitung "Morgen" schrieb 1893 einer von ihnen:
1
"Ich verließ die Schule mit dem Gefühl, daß diese jungen Duala
zu einern ~ivilisierten und hoffnungsvollen Volk reifen
würden." (66)
63)Madiba Eaaiben:
Eneeignement scolaire et expansion ~conomique ay Cameroun
sous administration allemande.
In:
Kum'a Ndumbe,
op.cit.,
5.69-85, Vgl. dort
inBb.
5.80f
64)J.MbaBBi,
op.cit.,
5.248
65)CeutBche Kolonialzeitung,
1888, 5.107
66)Zitiert nach Philippe Laburthe-To1ral RemiBe en caUBe de certaineB id~eB
toutes faLtes concernant la colonisation allemande du Camerouo.
In: Kum'a Ndumbe
(HrBg),
op.cit.,
5.228-233, Vgl.
inBb. 5.230

28
\\
Die von der Deutschen Kolonialgesellschaft formulierte AUfgabe der
Kolonialschule wurde von der Reichsregierung unter Kaiser Wilhelm
11. übernommen und zur Vorbedingung von seit einiger Zeit von den
Missionsgesellschaften geforderten Zuschüssen zur Deckung der
Betriebskosten ihrer Schulen erklärt. Daß diese AUfgabe erst 1907
von den Missionsgesellschaften übernommen wurde, ist ein Hinweis
darauf, wie wenig sie sich bis dahin auf die einheimische
Bevölkerung ausgewirkt haben kann.
Weder in den öffentlichen Schulen noch in den Missionsschulen
konnte das Unterrichtsniveau eine vertiefte Kenntnis der Kultur
der Goethezeit ermöglichen. Flüchtige Begegnungen müssen sich auf
einige Gedichte und Volkslieder beschränkt haben. Nur in
Sekundarschulen hätten weitergehende Kenntnisse vermittelt werden
können; aber die Kolonialschule in Togo und Kamerun hatte leider
keine Sekundarstufe. Wohl mögen einige privilegierte junge Leute,
die in der Metropole hatten weiterlernen können(67), über gewisse
Vorstellungen von der Goethezeit verfügt haben. Aber nennenswerte
Spuren einer in dieser Form denkbaren Rezeption der Goethezeit
sind für diese Länder nicht nachzuweisen.
Auf jeden Fall drängt sich hier eines auf: Während der rund
dreißig Jahre deutscher Kolonisation in Afrika ist kaum ein
Jahrzehnt lang eine Bildungspolitik betrieben worden, die zu einer
Rezeption der deutschen Kultur überhaupt hätte führen können. Auch
in diesem einen Jahrzehnt wurde die Bildung in den Kolonien auf
einem so niedrigen Niveau gehalten, daß es fast ausgeschlossen
werden kann, eine von den dortigen Schulen ermöglichte Rezeption
67)vg1.Joseph Gomsu; La formation da Camerounais en A11emagna pendant 1a p~riode
coloniale.
In; Cent ans da relations entre 18 Caroeroun et les Allemagpes 1884-
1984,
Cahiers d'allemand et dt~tude8 germaniques, Universit6 da Yaound~, vol.l,
No 2
(19 eS),
s. 5 e f
. • ~r"", . - -... ,._._. - - ... - ...... ~~.--.--"2_#_

\\29
,
der Goethezeit zu erwarten. Die deutsche Niederlage im Ersten
Weltkrieg und die Übernahme von Togo durch Frankreich, von Kamerun
durch England und Frankreich, haben dazu geführt, daß diese Länder
sehr früh und für eine längere Periode (1918-1960) mit anderen
afrikanischen Ländern entweder die englische oder die französische
Kolonisation geteilt haben. Konnte nun die französische
Kolonialschule da mehr Erfolg haben, wo die deutsche
Kolonialschule eigentlich mehr Chancen zu haben schien?
1,1.2
DIE VERMITTLUNG DER GOETHEZEIT DURCH DIE FRANZÖSISCHE
KOLONIALSCHULE
"La France est belle,
Ses destins sont benis.
vivons pour elle,
Vivons, vivons unis. ,,(68)
So wurde in den französischen Kolonialschulen wie in denjenigen
des Mutterlandes mit oder ohne Überzeugung die Schönheit und die
Größe Frankreichs besungen, um welche alle sich in Eintracht
scharen sollten, denn:
,.,
6B)AUe dem Kopf zitierte Worte eines Lieds, das ich 195B in einer katholischen
Missionsschule in der Elfenbeinküste gelernt habe.
"Frankreich ist schön,
Gesegnet sind seine Geschicke.
Dafür laßt uns leben,
Laßt uns. laßt uns geeinigt leben."
In die folgende Darstellung der französischen Kolonialschule und des
Deutschunterrichte sowie der Anfänge eine. Germanistikstudiums im nachkolonialen
Afrika werde ich bewußt persönliche Erfahrungen und Reminiszenzen einfließen
lassen.
_ _ _lIIiiiii·
..
"
_,
--•.... --...,.
~
~
;;;",-....::...:.,:.'
-
_._~--~_._~.
-

30
"Dans ses territoires d'iutre-Mer, la France traite les
Africains comme ses fils."(6 )
Dieser Satz aus einem Text betitelt La France et ses territoires
d'Qutre-Mer vermittelt eine Idee von der Propaganda für die
Assimilationspolitik in den französischen Kolonien. In jenem Text
wurden alle guten Werke aufgezählt, die Frankreich aus väterlicher
Fürsorge für seine Kinder in Afrika tue. Unter diese Wohltaten
zählte Frankreich auch seine Schule. Die französische
Kolonialschule war tatsächlich Frankreichs massivstes Argument zur
Rechtfertigung seines vermeintlichen zivilisatorischen AUftrags
("mission civilisatrice").
Von Anfang an wurde festgelegt, daß die Einheimischen durch
Bildung allmählich zu derselben Würde wie die Franzosen erhoben
werden sollten. Gewiß ging es in der ersten Etappe auch darum, das
notwendige Personal zur Verwaltung der Kolonien auszubilden. Die
Unterrichtsprogramme aber, auch wenn sie die afrikanischen Schüler
von ihrem natürlichen Lebensmilieu nicht abkoppeln sollten, hatten
in den wissenschaftlichen Fächern denselben Inhalt wie die des
Mutterlandes. Dies hatte natürlich zur Folge, daß in Geschichte
und Geographie der Akzent zwar in einer kolonialistischen Absicht,
aber auch und besonders aus Mangel an für afrikanische
Verhältnisse geeigneten Lehrwerken auf Frankreich und Europa
gesetzt wurde. Bildungsmäßig also wollte man hier aus den
J~1
Afrikanern Franzosen machen. Zu derselben Logik gehörte es, daß
"
die einheimischen kulturellen Werte zugunsten der französischen
unterdrückt wurden. Diese Politik hatte neben allen von ihr
69}Ebenfalls aus dem Kopf zitierter Satz aus einem in derselben Missionsschule
auswendiq zu lernenden Text.
"In seinen überseeischen Territorien behandelt Frankreich die Afrikaner wie
seine Söhne."

31
angerichteten kulturellen Schäden den vorzug, daß hier offiziell
kein Rassenunterschied galt.
Nach und nach wurde das Bildungsniveau von der Volksschule zur
Mittelschule und dann über die Oberschule zur Hochschule
i:
,
angehoben. Schon in den Mittel- und Oberschulen konnten die
1~'"
Schüler durch den Musikunterricht mit Namen wie Johann Sebastian
Bach, Mozart und Beethoven, durch den Philosophie-Unterricht mit
denjenigen von Kant,
Hegel und Nietzsche vertraut gemacht werden.
Dank ihrer assimilationistischen Auffassung konnte die
französische Kolonialschule also einige wichtige Elemente der
deutschen Kultur vermitteln.
Im unterricht wurde die Heimat dieser
deutschen Künstler und Philosophen flüchtig erwähnt, sie wurden
vor allem - und dies mit Recht - als Vertreter des europäischen
Geisteslebens Überhaupt ausgegeben und von den Schülern so
hingenommen.
Spätere Spezialisten der Musik, der Philosophie und
anderer Geisteswissenschaften mögen sie deutlich in Verbindung mit
deren Vaterland gebracht haben,
aber ihre kulturelle Leistung
wurde im allgemeinen als europäisches Verdienst betrachtet.
Zu diesen Namen konnten im Deutschunterricht einige Gestalten
aus der deutschen literarischen Welt von 1750 bis 1830 wie Johann
Wolfgang Goethe,
Friedrich schiller und Heinrich Heine hinzugefügt
.:
werden, denn in der Logik der Assimilationspolitik wurde in
,.I
französischen Kolonialschulen auch Deutsch gelehrt.
Obwohl der Deutschunterricht in den ehemaligen deutschen
Kolonien nicht selbstverständlich gewesen war, wurde einige Jahre
~':
nach dem zweiten Weltkrieg Deutsch als zweite Fremdsprache in
Jaunde, Lome und Duala eingeführt,
sobald Mittelschulen und
Oberschulen dort eröffnet wurden, um dadurch einige einflußreiche
einheimische Familien zu versöhnen,
die eine evidente Sympathie
~,.

für Deutschland bewahrt hatten(70).
In den anderen Ländern von
A.O.F (= Afrique Occidentale Francaise)
und A.E.F
(= Afrique
Equatoriale Francaise) war die deutschfeindliche Tendenz unter
Europäern,
insbesondere Franzosen, unmittelbar nach dem zweiten
Weltkrieg noch so stark, daß fünfzehn Jahre lang keiner es hier
gewagt hätte, von Deutschunterricht zu sprechen.
Die einzige
Ausnahme war die militärische Pflanzschule von Saint-Louis in
Senegal, wo einer in Frankreich geläufigen Meinung gemäß, nach
welcher man "die Sprache des Feindes lernen"
sollte, Deutsch als
einzige Fremdsprache gelehrt wurde.
1957 aber wurde das "Rahmengesetz"
(La Loi-cadre)
verabschiedet,
das es erlaubte,
jede Kolonie von der bisherigen
föderativen Hauptstadt (Brazzaville für A.E.F.
und Dakar für
A.O.F.)
zu trennen und darin die französischen Verwaltungsbehörden
durch eine Lokalregierung mit begrenzter Selbständigkeit
Frankreich gegenüber zu ersetzen.
"Im Schulwesen hieß dies, daß anstelle des französischen
Inspecteur d'Academie ein einheimischer Minister das letzte Wort
hatte.
Es kam nun darauf an,
ob dieser neue Unterrichtsminister
mit dem neben ihm weiterhin amtierenden Inspecteur d'Academie
zusammenarbeitete,
sich von ihm beeinflussen ließ o~Ir ob er
eigene Gedanken selbständig verwirklichen wollte."(
)
Der Unterrichtsminister der Elfenbeinküste
(heute RepUblik COte
d'Ivoire)
zeigte genug Charakterstärke und Geschicklichkeit,
im
Jahre seiner Ernennung
(1957)
Deutsch als zweite Fremdsprache
neben Spanisch in den Mittel- und Oberschulen einzuführen.
Einige
Jahre lang
(1959-1970)
brachte man es hier dahin,
Deutsch sogar
7D)Franziska Raynaud.
Der Deutsch-Unterricht im frankophonen Afrika sÜdlich der
Sahara.
In:
N~gritude et Germanit~, NEA, Dakar 1983, 5.283-288, Vgl. dort insb.
5.283
71)F.Raynaud, op.cit., 5.284
i. JQ

33
als erste Fremdsprache neben Englisch zu lehren.
Dieser ivorische
unterrichtsminister muß jene Sympathie für die deutsche Kultur
empfunden haben,
welche die Schriften des deutschen Ethnologen Leo
Frobenius in den dreißiger Jahren unter schwarzafrikanischen
Intellektuellen ausgelöst hatten,
und die selbst die Verbrechen
des Nationalsozialismus und des zweiten Weltkriegs nicht hatten
auslöschen können, wie es folgenden Worten Senghors zu entnehmen
ist:
"11 reste que nous Itions,
nous Itudiants prisonniers,
plus
que nos camarades,
sans haine. Nous nous Itions meme mis A
apprendre l'allemand ( ... ) Nous avions 7~flechi que nous ne
pouvions pas halr les allemands
( ... )"(
)
Nicht die Deutschen, sondern den Nationalsozialismus und alles
damit Verwandte sollte man haßen.
In der französischen
Kolonialschule wurde gelehrt, daß ein volk durch seine Sprache und
seine Literatur erkannt werde. Deutschland, der gestrige Feind der
Kolonialmacht Frankreich, das total besiegte Land, das aber in
einigen Jahren das geleistet hatte, was man "das deutsche Wunder"
nannte, erregte große Neugier.
Zur größten Überraschung der Schulbehörden, die damals noch
alle von Franzosen besetzt waren,
waren die Deutsch-Klassen von
Schülern überfüllt.
Auch wenn versucht wurde, diese unerwartete
Begeisterung der afrikanischen Schüler für die Sprache Hitlers,
der die schwarze Rasse vernichten wollte,
zu bremsen(73) , muß
72)"Irn übrigen waren wir gefangenen studenten, mehr als unsere Kameraden, ohne
Haß. Wir hatten sogar angefangen,
Deutsch zu lernen( .•• ). Wir hatten überlegt
und gefunden,
daß wir die Deutschen nicht hassen konnten( ... )" L.S.Senghor:
N~gritude et Germanit~ I. In ders., Libert~ 3,N~gritude et civilisation de
l'universel,
Ed. du Seuil,
Paris 1977,5.11-17,
Zitat dort 5.15
73)"Da die Wahl der Fremdsprache den Schülern zustand, meldeten sich so viele
Afrikaner zum Deutschunterricht, daß die erschreckten Schuldirektoren, obwohl es
nicht an Lehrern mangelte,
die Schüler davon abzubringen versuchten und
"-".~;:.'
" . . -
I
43

;p..'
34
anerkannt werden, daß Frankreich das Personal bezahlte, um
afrikanische Schiller die Sprache des Feindes zu lehren, den diese
überhaupt nicht als solchen zu betrachten schienen. Gelobt sei
auch hier die Haltung der meisten damaligen französischen
Deutschlehrer, die bei der Ausübung ihres Berufes die Kultur des
Feindes von gestern mit keinerlei Feindseligkeit, vielmehr mit
ansteckender Begeisterung behandelten(74). Auch wenn man weiß, daß
in den Deutsch-Klassen unter den afrikanischen Schülern Kinder von
Franzosen und anderen Europäern saßen(75) , kann man sagen; daß die
Einführung des Deutschunterrichts in den Mittel-und Oberschulen
der Elfenbeinküste ein Hinweis darauf ist, daß viele Afrikaner
zwischen deutscher Kultur und dem Deutschland von Wilhelm II. und
Hitler zu unterscheiden gewillt waren.
Erst nach der deutsch-französischen Verständigung 1962/63
bürgerte sich der Deutschunterricht in den anderen frankophonen
Ländern langsam ein(76).
Als Lehrwerke für den Deutschunterricht wurden in allen Klassen
der ivorischen Schulen diejenigen aus der von Leon Bodevin und
pierre Isler(77) veröffenlichten Reihe benuzt. Die Autoren sorgten
neben der Erlernung der deutschen Sprache dafür, daß der Schüler
ein Land, das zum gemeinsamen europäischen kulturellen Erbe
beträchtlich beigetragen hatte, ein Volk, das der Menschheit eine
schließlich 1957/58 nur je eine Klasse im 6., 4. und 3. Schuljahr eröffneten."
F.Raynaud, op.cit., S.286
74)Gedacht wird hier besonders an Herrn Strehl, meinen ersten Deutschlehrer in
der damals noch Mittelschule von Sassandra.
75) F.Raynaud, op.cit., S.286
76)F.Raynaud, op.cit., S.287
77)Bodevin (L6on) et Ialer (Pierre). Deutschland von gestern und heute/
Deutachland daheim und draußen etc ... Masson et Cie, Paris 1952/ 1957
'''. '(' ,,'
"t
j
0:.-.,
..
.....
_ - - - - -
__
_---- __._---------
..
....._
...

35
von den Zielen Hitlers und des Nationalsozialismus ganz
verschiedene Botschaft verkündet hatte, entdeckte und schätzen
lernte.
"Sinous avions Itl de petits Goethe, notre premier mot sur
llAllemagn7 eüt etl "Wie lacht die Flur!" (col1\\Ille la campagne est
riante!)
( 8)
So drückten sich 1966 in der Zeitung Fraternitl Matin drei
ivorische Gymnasiasten nach einem vom Goethe-Institut finanzierten
zweimonatigen Aufenhalt in der Bundesrepublik Deutschland aus(79).
Daß diese Schüler aus dem Mailied von Goethe zitieren konnten,
bezeugt, daß das damalige Progral1\\Ill des Deutschunterrichts in den
ivorischen Schulen geeignet war, auch in die deutsche Literatur
der Goethezeit einzuführen.
Aber im Jahre 1966 hatte die Elfenbeinküste wie alle ehemaligen
französischen Kolonien schon sechs Jahre Unabhängigkeit hinter
sich, und es könnte verwundern, daß mit einem Beispiel aus dieser
Periode die Leistung der französischen Kolonialschule im Fach
Deutsch illustriert wird. In der Tat war aber das Deutsch-
Unterrichtsprogral1\\Ill dasselbe wie zur Kolonialzeit geblieben. Auch
waren fast alle Deutschlehrer bis zu diesem Jahr noch
Franzosen(80). Also waren diese Gymnasiasten eigentlich Produkte
78) "Wenn wir kleine Goethe gewesen wären, wäre unser erates Wort gewesen: Wie
lacht die Flur!

In: Mare Zik~: Leg troie ieunes Ivoiriene reviennent d'Allemaone
ou ils ont ete invites par le Goethe In9titut.
In:
Frat.Mat.
vom Mittwoch dem
21. September 1966,
S.)
79)Die drei ivorischen Schüler,
Anaky Kobenan Innocent und Kouba Zohouri
Theodore
(Oberschule von Abidjan) und ich selbst, damals frischgebackaner
Abiturient der Oberschule von Bouak~, reisten mit drei anderen aus der
Militärpflanzechule yon saint-Louis,

einem Senegalesen und zwei aus dem
damaligen Obervolta
80)
"( ... )von 1966 an hat die Bundesrepublik Deutschlehrer in jedes dieser
Länder geschickt." F.Raynaud,
op.cit., S.2B7. Erst ab diesem Jahr war der
Deutsch-Unterricht im Frankophonen Afrika südlich der Sahara also nicht mehr die
Sache Frankreichs allein.

36
der französischen Kolonialpädagogik,
die sich seit einigen Jahren
schon bis zur Hochschule erstreckte.
1.1. 3
DIE VERMITTLUNG DER GOETHEZEIT IM FRANKOPHONEN
SCHWARZAFRIKA NACH DER UNABHÄNGIGKEIT
Im Rahmen der Assimilationspolitik eröffnete Frankreich am
Anfang des Schuljahres 1959/60, nur einige Monate vor der
Erlangung der Unabhängigkeit der Elfenbeinküste, ein
Hochschulzentrum in Abidjan,
das im Jahr 1963/64 zur zweiten
Universität in der ehemaligen A.O.F.
neben der von Dakar wurde.
Schon während des Universitätsjahres 1961/62 wurden zur Ergänzung
"
.'
des Programms der "licence" für Englisch Deutsch und Spanisch als
Nebenfächer eingeführt. Dem Anglisten wollte man hier Kenntnisse
der deutschen Sprache auf einem Niveau beibringen, daß er im
Rahmen eventueller Forschungsarbeiten einen Text auf Deutsch ohne
Schwierigkeit lesen könne. Kenntnisse über die Goethezeit konnte
er nur aus seiner Mittel- und Oberschulzeit haben,
nicht durch den
Deutschunterricht, den er neben dem Englisch-studium erhielt.
Im Oktober 1967 aber fand ein für die Geschichte der
Germanistik im Afrika südlich der Sahara grundlegendes Ereignis
statt. An der Universität Abidjan wurde als die erste im Afrika
südlich der Sahara eine Deutsch-Abteilung gegründet, wo bis zur
"licence d'allemand'~ ausgebildet werden konnte. Schon ein Jahr
zuvor (1966) war auf Initiative eines der von der Bundesrepublik

37
Deutschland zum ersten Mal entsandten Deutschlehrer an der
E.N.S.(Ecole Normale superieure= Pädagogische Hochschule) von
Abidjan damit begonnen worden, nach einer noch nicht
ausgearbeiteten lokalen Formel Deutschlehrer für den Unterricht in
Mittelschulen auszubilden. Diese Lehrerausbildung an der E.N.S,
die auf eine Doppelkompetenz in den Fächern Deutsch und
Französisch abzielte, zog dem Erwerb von Kenntnissen in Literatur
und Landeskunde die Beherrschung der deutschen Sprache vor.
Das Programm der Ausbildung zur "1icence d'allemand" an der
Universität Abidjan war am Anfang vollkommen nach dem Modell der
französischen Germanistik konzipiert. Nach dem französischen
System soll der "licencie d'allemand" die deutsche Sprache sowohl
schriftlich als auch mündlich beherrschen. Er soll in der
Literatur und der Landeskunde der deutschsprachigen Länder über
einen solchen Überblick verfügen, daß er fähig sei, sich für
besondere Aspekte der deutschen Kultur und Lebensverhältnisse zu
interessieren, worüber er dann eine Magisterarbeit, gegebenenfalls
eine Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde oder später eine
Habilitationsschrift (hier doctorat d'Etat) schreiben kann.
Dasselbe Licence-Niveau muß ihm auch die intellektuelle Fähigkeit
~
sichern, dem anspruchvollen Agregation- oder C.A.P.E.S-
unterrichtsprogramm zu folgen, um sich auf den Nationalwettbewerb
zur Qualifikation als Lehrer an Oberschulen vorzubereiten.
In einem solchen System ist es unmöglich, die Ausbildung zur
"Licence d'allemand"
zu beenden, ohne Kenntnisse über die
Goethezeit zu erlangen.
Im französischen System, das die Deutsch-Abteilungen der
Universität Abidjan und später der Unversitäten anderer

38
frankophoner afrikanischer Länder südlich der Sahara(8l) ererbt
haben, geht es darum, Deutschland und die deutschsprachigen Länder
durch ihre Sprache und Kultur zu begreifen. In dieser Hinsicht
beschränkt sich die Erlernung der deutschen Sprache nicht auf
deren täglich-kommunikativen Aspekt. Man zielt hier darauf ab,
solche sprachliche Fähigkeiten zu erwerben, daß man durch das
studium schriftlicher, insbesondere literarischer Dokumente alle
möglichen Aspekte der deutschen Kultur erforschen könne. Diese
durch Lehrwerke wie die Reihe "Bodevin und Isler"
schon in den
Mittel- und Oberschulen verwirklichte Auffassung des
Deutschunterrichts konnte Gymnasiasten erlauben, Goethe, Schiller,
Heine und andere große Vertreter der deutschen Literatur
kennenzulernen. Die künftigen Lehrer, die eine solche Auffassung
des Deutschunterrichts zu verwirklichen haben würden, müssen nicht
nur der deutschen Sprache vollkommen mächtig sein, sondern auch
vertiefte Kenntnisse über die deutsche Kultur erlangen. Was die
künftigen Dozenten und Professoren der auszubildenden Lehrer
anbelangt, so sollen sie sich durch Forschung auf gewisse Aspekte
der deutschen Sprache und Kultur spezialisieren, damit sie an der
AusfÜhrung des gesamten Programms zur Licence-, Magister-,
C.A.P.E.S-, Agregation- und Doktoranden-Ausbildung teilnehmen
können.
Neben diesem französischen Modell, das in den Deutsch-
Abteilungen der frankophonen schwarzafrikanischen Universitäten
und Hochschulen trotz mancher landesspezifischer Adaptierungen
bewahrt worden ist, existiert eine andere Auffassung, die den
Akzent auf die kommunikative Funktion, d.i. den Erwerb und die
81)Lomä 1969/70/ Dakar 1971/72/ Jaunde 1980/81/ Bamako, Cotonou und Ouaqadouqou
1984/85

39
Beherrschung der schriftlichen und mündlichen modernen deutschen
Sprache setzt. Daß die Dimension der Einführung in die deutsche
Kultur hier fehlt, könnte dadurch erklärt werden, daß dieses
Modell des Deutschunterrichts von den ersten aus der
Bundesrepublik gekommenen deutschen Lehrern konzipiert worden ist,
deren position in Schwarzafrika und gerade bezüglich der
Vermittlung deutscher Kultur sehr heikel war. Offenbar wollte man
sich nicht den Vorwurf zuziehen, man wolle in Afrika für die
deutsche Kultur missionieren, auch fand man wohl, daß ein in die
deutsche Kultur einführendes Unterrichtsprogrogramm die koloniale
Last der Afrikaner verschlimmern wUrde. Diese Auffassung des
Deutschunterrichts wirkte sich neben der Ausbildung der künftigen
afrikanischen Deutschlehrer auf die Erarbeitung entsprechender
Lehrwerke aus.
Manfred Schröder und Rolf Dieter Beißner gaben Anfang der
siebziger Jahre die erste Anwort auf diese Frage. Das war das
"afrikabezogene'l Lehrwerk Yao lernt Deutsch, das alle
französischen Lehrwerke ersetzen sollte. Wenn diese neue
orientierung des Deutschunterrichts in der Elfenbeinküste eine
Zeitlang auf den widerstand der französischen Deutschlehrer, die
nach und nach von einheimischen Lehrern ersetzt wurden, stoßen
konnte, wurde sie in den anderen frankophonen schwarzafrikanischen
Ländern wohl deshalb ohne große Schwierigkeiten eingeführt, da die
Neuorientierung sich unter deutschen Lehrkräften vollzog. Wenn man
zudem weiß, daß die Beratung der afrikanischen Deutschlehrer in
der Hand vom Bundesverwaltungsamt entsandter bundesdeutscher
Lehrer liegt, welche ihre einheimischen Nachfolger ausbilden, kann
man unschwer voraussagen, daß diese neue AUffassung die künftige

40
Orientierung des Deutschunterrichts im frankophonen Schwarzafrika
bestimmen wird.
Dies kam bereits 1982 im Verbandsblatt der Deutschlehrer in der
Elfenbeinküste zum Ausdruck:
"11 s'agit d'enseigner a nos <1ileves ä comprendre et ä parler,
puis a lire et ä ecrire correctement la langue courante
d'aujourg'hui, ä expliquer oralement d'abord les faits et les
id<1ies. "( 2)
Fast dieselbe Ansicht vertrat zwei Jahre früher Heinrich Schiffer
in Senegal:
"( ... )der afrikanische Schüler soll in die Lage versetzt
werden, sich im R~gang mit Deutschen sprachlich zu
behaupten ( ... ) " (
)
Schiffer setzte aber hinzu:
"Gewiss, sie sollen die wichtigsten geographischen,
geschichtlichen, ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten des
Landes, dessen Sprache sie erlernen, kennen und Verständnis für
die andere Zivilisation bekommen. Der Unterricht soll ihnen jedoch
auch ermöglichen, i~~e
Erfahrungen und Probleme darzustellen in
der Fremdsprache." (
)
Während Schiffer die Gegebenheiten, die die Schüler kennen
sollten, historisch nicht situiert, sind die für den
Deutschunterricht verantwortlichen ivorischen Behörden für den
Deutschunterricht in diesem Punkt ganz explizit. Das ivorische
82)"Es geht darum,
unsere SchUler zu lehren.
die heute geläufige deutsche
Sprache gut zu verstehen und zu sprechen, dann zu lesen und zu schreiben, Fakten
und Ideen zunächst mündlich zu erklären." Bulletin da liaison des profeeeeure
d'allemand en cöte d'Ivoire,
No.3 Mars 1982, 5.3
83)Heinrich Schiffer.
Deutsch als Fremdsprache im frankophonen Afrika. EN5 Dakar
1980, 5.5
84)H.schiffer, op.cit .• 5.5

41
Erziehungsministerium formuliert als Lernziel des
Deutschunterrichts:
"petmettre A l'~l~ve une ouvertui~ progressive sur les
r~alit~s allemandes d'aujourd'hui."l
)
Unter diesen Bedingungen kann der Deutschunterricht seit Anfang
der siebziger Jahre in den Mittel- und Oberschulen der
Elfenbeinküste, aber auch der anderen frankophonen afrikanischen
Länder südlich der Sahara, keine Kenntnisse mehr über die
Goethezeit vermitteln.
Die Existenz von Goethe-Intituten in den Hauptstädten fast all
dieser Länder kann hier nichts ändern.
Es scheint den Deutschen zu
genügen, daß sie ihren auswärtigen Kulturzentren den erhabenen
Namen von Goethe gegeben haben. Der Bezug der Aktivitäten dieser
Kulturzentren zu Goethes Leben und Werk beschränkt sich auf die
Pflege des Geistes,
in dem er den Begriff Weltliteratur prägte.
Indem sie Sprachkurse anbieten,
schaffen sie einen Zugang zu den
deutschsprachigen Ländern.
Indem sie über die geschichtlichen,
ökonomischen und kulturellen Realitäten jener Länder Filme
vorführen und Vorträge organisieren,
fordern sie die Afrikaner
auf,
sie kennenzulernen.
Parallel dazu aber fördern die Goethe-
Institute lokale kulturelle Initiativen. Wohl findet man in ihren
Bibliotheken auch Werke von Vertretern der Goethezeit. Aber diese
Werke werden zur Unterstützung der Unterrichtsprogramme der
Deutsch-Abteilungen an den Universitäten und Hochschulen bereit
gehalten.
85)"dem Schüler wachsendes Verständnis der deutschen Verhältnisse ermöqlichen."
Zitiert nach Theodore Bahoure Zahui: L'Enseignement de l'allemand en COte
d'Ivoire: probl~mes et finalit~s. Th~se de doctorat de 3e cycle, Strasbourq
1984, S.43

42
Anstatt sich proportional zu der Vermehrung der Deutsch-
Lernenden in den frankophonen schwarzafrikanischen Ländern zu
verbreitern, hat sich die Kenntnis über die Goethezeit auf die
Germanisten und darüber hinaus vielleicht auf einige Historiker,
Philosophen und Linguisten reduziert. Obwohl die deutsche Sprache
im frankophonen Schwarzafrika weiterhin als "la langue de Goethe"
bezeichnet wird, wird sie dort nicht mehr gelernt, um Goethe und
seine Zeit zu kennen, sondern um mit seinen heutigen Landsleuten
umzugehen, von denen viele ihn als eine Art kulturellen Fossils
betrachten.
1.2
KRITIK AN KANT UND HEGEL
AUffällig an der Reaktion frankophoner schwarzafrikanischer
Intellektueller auf Philosophie und Literatur der Goethezeit ist,
daß sie im Rahmen ihres Kampfes gegen den westeuropäischen
Imperialismus erfolgt und zum Ausdruck kommt. Zwei Grundtendenzen
zeichnen sich dabei ab. Die eine besteht in einer überraschend
großen Sympathie für die deutsche Kultur im allgemeinen und
besonders für die Goethezeit, die andere in einer ablehnenden
Haltung Autoren und Ideen dieser Epoche der deutschen
Geistesgeschichte gegenüber. Diese zweite Tendenz, mit der dieses
Kapitel sich befassen soll, entsteht dadurch, daß frankophone
schwarzafrikanische Intellektuelle die Goethezeit undifferenziert
- und dies mit Recht - zum damaligen europäischen Denken rechnen.
Kant und Hegel treten deshalb nicht als deutsche sondern als
westeuropäische neben anderen westeuropäischen Philosophen in
- ..
_...
.
'

I
43
Schriften schwarzafrikanischer Autoren auf,
welche die Suche nach
kultureller Identität schwarzafrikanischer Völker behandeln.
Beispiele hierfür sind zwei Beiträge zum ERSTEN KONGREB SCHWARZER
SCHRIFTSTELLER UND KÜNSTLER,
der vom 18. bis zum 22. September
1956 auf Anregung von PRESENCE AFRICAINE,
einer Zeitschrift, die
seit 1947 die Produktion schwarzer Autoren und Künstler von Paris
aus bekannt macht,
organisiert wurde.
Es sind dies der Beitrag von
Meinrad Hebga über Une seule pensee, une seule civilisation(86)
und der von C,S.Tidiany Le Noir africain et les cultures indo-
europeennes(87).
Beide Beiträge sind in dem Geist der Rebellion
verfasst worden,
den Senghor in seinem Essay Message de Goethe aux
Nigres nouveaux als Insurrektion "gegen die Ordnung und Werte des
Abendlandes,
insbesondere gegen dessen Vernunft" (88)
bezeichnet.
1.2.1
KANTS KRITIZISMUS ALS REPRÄSENTANT DES EUROPÄISCHEN
DENKENS
86)Meinrad Hebga,
yne Beule penBee,
une Beule civiliBation.
Inl
PreBence
Atricaine,
Nr.14-1S
(1957),
5.301-307
87)C.5.Tidiany, Le Noir africain et leB cultures indo-europeenneB.
In:
PreBence
Africaine, Nr.14-15
(1957),
5.7-29
88)"A 1a Buite du rebelle (Goethe),
nOUB nouB inBurgionB contre l'ordre et 1es
valeurs da l'Occident,
Binguli~rement contra 9a raison." L.S.Senghor, La Message
de Goethe aux Negres nouveaux.
In: Liberte 1,
Ed. du 5euil, Paris 1964, 5.84
-In Beiner Behr umfangreichen HabilitationBBchrift
(TheBe d'Etat)
über LeB
ant6cedenta et 18 genese da 18 negritude aenghorienne
(Paris 111- Sorbonne
Nouve11e 1983)
Btel1t Martin 5teinB
(beBonderB 55.111-892) den ganzen
po1itiBchen und kulturellen Hintergrund jeneB KampfeB in PariB zwiBchen dem
ersten und zweiten Weltkrieg dar.
-
.
,
~ ,'~,.
..-
.. ..........., "
.
-
. .
~
~.

44
"Nous repoussons 1e meme criticisme kantien dans 1eque1 le
jugement synthetique
(seul jugement scientifique d'apres Kant)
est
l'acte par leque1 l'esprit rend le monde intelligible. Toutes ces
theories ont un vice capital:
nees du subjectivisme et du
mediatisme cartesiens,
elles aboutissent pratiquement a la
separation de verite et realite,
ce qui exclut la connaissance
objective certaine.
Pour nous au contraire,
il ne faut que
distingg~r et non separer verite intrinseque et verite extrinseque
( ... )"(
)
Mit dieser Zurückweisung des Kritizismus von Kant ist - wie aus
Hebgas Text zu folgern ist -
fast die ganze westliche
Erkenntnisphilosophie seit P1aton gemeint.
Kant warf ja nur ein
neues Licht auf die Frage der menschlichen Erkenntnis, die Platon
mit seinem Höhlengleichnis schon beantwortet hatte,
und über
welche Descartes am Ende seiner zweiten Meditation schreibt:
"( ... ) da ich jetzt weiß, daß ja selbst die Körper nicht
eigentlich durch die sinne oder durch die Fähigkeit der
Einbildung,
sondern einzig und allein durch den Verstand erfaßt
werden,
auch nicht dadurch,
daß man sie betastet oder sieht,
sondern,
daß man sie denkt:
so erkenne ich ganz offenbar, daß ich
nichts le6chter und augenscheinlicher erfassen kann -
als meinen
Geist.,,(9 )
Wenn die Objekte nur durch das Denken Wirklichkeit erlangen,
dessen Realität allein vom wahrnehmenden Subjekt mit Gewißheit
behauptet werden kann,
besteht tatsächlich die Gefahr,
entweder
daß "die sichere, objektive Erkenntnis"
(la connaissance objective
certaine) ausgeschlossen wird, oder daß zumindest zwischen
89)"Wir lehnen den Kritizismus Kants ab,
in welchem das synthstischs Urtsil
(nach Kant das einzige wissenschaftliche Urteil) der Akt ist, wodurch der
menschliche Gsist die Welt verständlich macht. All diese Theorien haben einen
Hauptmangel:
aus dem Cartesianischen Subjektivismus und Mediatismua entstanden,
führen sie praktisch zur Trennung von Wahrheit und Wirklichkeit, was die
sichere,
objektive Erkenntnis ausschließt.
Nach unserer Auffassung muß man,
im
Gegenteil,
innere von äußerer Wahrheit nur unterscheiden,
sie aber nicht
trennen ... "
M. Hebga,
op.cit.,
5.303. UbersetzunQ von mir
90)Renä Qescartes:
Msditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den
sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Übersetzt und herausgegeben von Artur
Buchenau,
Hamburg 1965,
S.26
li ' .. ~.

"innerer und äußerer Wahrheit"
(v~rit~ intrinsäque et v~rit~
extrinsäque) getrennt wird, wie es Hebga mit Recht behauptet.
Diese europäische Auffassung der Erkenntnis verdeutlichte sich
mit John Locke, Berkeley und insbesondere mit David Hume, der
schrieb:
"Dieser Tisch hier,
den ich jetzt vor Augen habe,
ist nur eine
Vorstellung (ein Bewußtseinsinhalt), ~~d alle seine Eigenschaften
sind Eigenschaften von Vorstellung "(
)
Diese Konzeption der Erkenntnis wurde dann von Kant, Fichte und,
etwas später,
von Arthur Schopenhauer so systematisiert, daß es
nicht übertrieben ist, wenn z.B. über Kant behauptet wird,
er sei
der erste im abendländischen Denken, der die Vernunft vor ihr
eigenes Gericht gefordert habe(92), um über die absoluten
Bedingungen der Erkenntnis zu urteilen, d.i. die Elemente apriori
zu bestimmen, durch welche universal erkennbar ist, was in der
Erfahrung kontigent und individuell wahrgenommen wird(93).
sicher unterstreicht Kant bereits im ersten Satz der Einleitung
zur Kritik der reinen Vernunft
(1781)
die Bedeutung der Erfahrung
im Erkenntnisprozeß(94).
Damit will er aber nur deren auslösende
91)David Hume zitiert nach Eberhard Othbandt, Geschichte der großen Philosophen,
Hanau/Hain,
o. J.,
5.307
92)Hierzu siehe Joseph Comb~s, L'rd~e de eritigue ehez Kant, pur, Paris 1971,
5.56
93)Ebenda, 5.56
94)"Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange,
daran ist gar kein
Zweifel; denn wodurch Bollte das Erkenntnisvermögen Bonst zur Ausübung erweckt
werden,
geschähe es nicht durch Gegenstände,
die unsere Sinne rUhren und teils
von selbst Vorstellungen be~irken. teils unsere Verstandes fähigkeit in Bewegung
bringen, diese zu vergleichen,
sie zu verknüpfen oder zu trennen, und 80 den
rohen Stoff Binnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu
verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in
une vor der Erfahrung vorher,
und mit dieser fängt allee an. R
I. Kant, Kritik
der reinen Vernunft (1781),
2.Auflage (1787),
Frankfurt a. Hain 1974, 5. 45

46
Rolle und nicht deren Qualität als grundlegendes Prinzip, will er
sie als Vermittlerin und nicht als Quelle der Erkenntnis
anerkennen. Für Kant ist die Erfahrung ja schließlich nur das
Produkt, das der Verstand aufgrund von Eindrücken der äußeren
Objekte auf die Sinne erarbeitet hat. Und eben von diesen
Eindrücken muß als von bloßem kontigent Gegebenem abstrahiert
werden, wenn das Grundlegende, Notwendige und universale, was Kant
als apriori bezeichnet,
im Erkenntnisprozeß identifiziert werden
soll. Hierzu unterscheidet Kant zwei Arten von Urteilen: die
analytischen und die synthetischen Urteile(95}.
Analytisch ist z.B. ein Urteil wie "alle Körper sind
ausgedehnt", denn "eine Ausdehnung haben"
ist notwendig und
universal mit dem Begriff "Körper"
verbunden(96}. Dagegen ist ein
urteil wie "alle Körper sind schwer"
synthetisch, weil die Schwere
mit dem Subjekt des Satzes "Körper"
nicht notwendig verbunden ist.
Es handelt sich hier also um eine synthetische Verbindung zweier
anfangs voneinander unabhängiger KonzePte(97}. In diesem letzten
urteil ergänzt das Prädikat "schwer"
das Subjekt "Körper"; es
erweitert es. Im ersten Urteil ist die Verbindung SUbjekt-Prädikat
apriori und arm (dem Inhalt nach), während sie im zweiten a
posteriori und reich ist.
Um nun eine wissenschaftliche Erkenntnis zu begründen, brauchen
wir
Urteile, die zugleich apriori und reich, d.i. synthetische
9s)"Nun beruht auf solchen synthetischen, d.i. Erweiterungsgrundsätzen die ganze
Endabsicht unserer spekulativen Erkenntnis a prioril denn die analytischen sind
zwar höchst wichtig und nötig,
aber nur,
um zu derjenigen Deutlichkeit der
Begriffe zu gelangen, die zu einer sicheren und ausgebreiteten Synthesis, als zu
einem wirklich neuen Erwerb,
erforderlich iat." Ebenda,
5.52
96)Ebenda, 5.s2f
97)Ebenda, 5.s3f

Urteile apriori sind.
Eine Formel wie "alles, was geschieht, hat
seine Ursache"
ist ein Beispiel hierfür.
Mit dem Konzept von einem "synthetischen urteil apriori"
(nicht bloß "synthetisches Urteil", wie Hebga schreibt)
als
Grundlage der wahren wissenschaftlichen Erkenntnis hat Kant
bereits in der Einleitung zur Kritik der reinen vernunft die
Prämissen gesetzt, deren Analyse zur Bestimmung der reinen
Konzepte oder Kategorien des Verstandes führt.
verständlich wird
dann eine Aussage wie die folgende:
"Wir haben also sagen wollen: daß alle unsere Anschauung
nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei; daß die Dinge, die
wir anschauen,
nicht das an sich selbst sind,
wofür wir sie
anschauen,
noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen
sind, als sie uns erscheinen,
und daß, wenn wir unser Subjekt oder
nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben,
alle die Beschaffenheit,
alle Verhältnisse der Objekte im Raum und
Zeit,
ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden,
und als
Erscheinungen nicht an sich selbst,
sondern nur in uns existieren
können. Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich
und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit
haben möge,
bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts als
unsere Art,
sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch
nicht notwendig jedem Wesen,
ob zwar jedem Menschen,
zukommen muß.
Raum und zeit sind die re~gen Formen derselben,
Empfindung
überhaupt die Materie.
" ( )
.
Somit schließt sich Kant seinem Vorgänger Platon an,
um (zwar auf
eine andere Weise als Platon) die Unzugänglichkeit der äußeren
Realität durch den menschlichen Verstand, d.i. die absolute
Relativität der Erkenntnis,
zu behaupten. Mit anderen Worten ist
die Außenwelt - wie wir sie wahrnehmen - nur für uns
(für die
menschliche Gattung)
gültig.
Und da die Menschen trotz der
Angehörigkeit zu derselben Gattung nicht streng uniform beschaffen
sind,
kann letzten Endes aus Kants Theorie der Erkenntnis ein
absoluter Subjektivismus gefolgert werden, was Hebga die
98)Ebenda, 5.87
,0

48
Ausschließung "der objektiven und gewissen Erkenntnis"
(connaissance objective certaine)
nennt.
Dieses Verfahren, das
darin besteht, die Unzugänglichkeit der Außenwelt zu behaupten und
somit nur die dem erkennenden Subjekt zugängliche innere Realität
für gewiß zu halten,
sieht Hebga als eine bloße Schikane, als
einen unnützen Versuch an,
innere Wahrheit
(verite intrins~que)
von äußerer Wahrheit
(verite extrins~que) zu trennen, statt sie
nur zu unterscheiden.
Solchem Denken entgegengesetzt, erklärt
Hebga in einem bild lichen und provokativen Satz die Kultur seiner
schwarzafrikanischen Vorfahren und die scheinbar naive
Erkenntnishaltung, die sich daraus ergibt:
"( ... )si tu ne crois voir que jeux d'imagination dans les
symboles algebriques des quantites imaginaires et qu'au contra ire
tu comprennes que deux piquets qui se recouvrent sont egauxi si
l'eclat de rire est pour toi l'expression de l'admiration,
ne te
ratatine pas,
ne te comprime pas, dresse-toi et ~§ame la culture
ancestrale ä ebranler les assises de la terre."(
)
Dies ist eine stolze Behauptung der kulturellen Alterität
schwarzafrikanischer Völker im Vergleich zu den europäischen.
Während aber Hebga es unterläßt, die Erkenntnisart des
Schwarzafrikaners genauer zu bestimmen,
ist C.S.Tidiany darüber
expliziter.
"Pour l'Africain donc la plus grande des certitudes, c'est
l'experience de la pratique quotidiennei
la mati~re agit sur nous,
elle existe en dehors de nous,
son dynamisme est exclusif de notre
conscience.
"Le realisme narf",
ce realisme de l'action
quotidienne est trop certain pour qU'on en discute ( ... )i car
enfin la connaissance scientifique,
la vie sociale, ne sont
possibles qu'au prix de la certitude que les objets qui nous
99)"( ... )wenn du in den algebraischen Symbolen der imginären Mengen nur Spiele
der Einbildungskraft zu· sehen glaubst und im Gegenteil begreifst,
daß zwei sich
deckende Stöcke gleicher Länge sind; wenn das schallende Lachen für dich
AusdrUCK der Bewunderung ist,
schrumpfe nicht,
drücke dich nicht ZUBaIMlen,
richte dich auf und verkünde die Kultur der Ahnen so,
daß die Grundlage der Erde
erschüttert wird." M.Hebga,
op.cit.,
5.306

49
entourent existent reellement, que les hommes que nous cOtoyons
existent reellement. Cette existence du mon~Ö exterieur ne fait
pour nous aucun doute meme philosophique."(
0)
Die Erkenntnisart des Schwarzafrikaners sei also "der naive
Realismus", der als die pure Negation jener westeuropäischen
erkenntnisphilosophischen Tradition erscheine. Indem er schreibt:
"Cette existence du monde exterieur ne fait donc pour nous
aucun doute meme philosophique",
macht C.S.Tidiany eine sehr durchsichtige Anspielung auf
Descartes, den Vater des philosophischen Zweifels, der von den
englischen Empiristen vom Ende des 17. und der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts übernommen und gesteigert wurde. Die berühmte
Formel Berkeleys, "Sein ist wahrgenommen werden", wird hier von
Tidiany für leer und nichtig erklärt(101). Ferner unterstreicht
er:
"( ... )le sujet n'est pas necessaire a l'existence de
l'objet,.( ... )la conscience de l'homme ne cree pas le monde." (102)
100)" Die größte der Gewißheiten für den Afrikaner,
das ist also die Erfahrung
der täglichen Praxis; die Materie wirkt auf uns,
sie existiert außerhalb von
uns,
ihre Dynamik ist von unserem Be~ßtgein unabhängig.
"Der naive Realismus",
dieser Realismus des täglichen Handelns ist zu gewiß,
als daß darüber zu
diskutieren wäre( ... );
denn echließlich sind die wissenschaftliche Erkenntnis
und das gesellschaftliche Leben nur durch die Gewißheit möglich,
daß die
Gegenstände um uns herum wirklich existieren, daß die Menschen, denen wir
begegnen, wirklich existieren.
An dieeer Existenz der Außenwelt besteht für uns
gar kein Zweifel,
nicht einmal philosophisch." C.S.Tidiany, op.cit., S.lO
101)"( ... )est non seulement une proposition negative mais une proposition qui
n'a pas de eens."
( ... iet nicht nur ein negativer sondern auch ein sinnloser
Satz.) Ebenda.
102)"( ... )das Subjekt iet nicht der Existenz des Objekte notwendig,( ••• )das
Bewußtsein des Menschen schafft nicht die Welt." Ebenda, S.lO

50
Beim Lesen dieses Satzes kann man schwer vermeiden, an Arthur
schopenhauer(103) und besonders an Johann Gottlieb Fichte zu
denken.
1. 2.2
DER DEUTSCHE IDEALISMUS ALS REPRÄSENTATIVE EUROPÄISCHE
PHILOSOPHIE
In der Wissenschaftslehre von Fichte ist folgendes zu lesen:
"Das Bewußtsein eines Dinges außer uns ist absolut nichts
anderes als ~82 Produkt unseres eigenen Vorstellungs-
vermögens."(
)
In demselben Sinne heißt es weiter:
"Alles
was du außer dir erblickst, bist il1\\lller du
ö
selbst.,,(l 5)
Damit ist nun nicht gemeint, daß Fichte die Existenz der Außenwelt
absolut verneine. Nach seiner "psychologischen" Analyse aber ist
diese Außenwelt, das Nicht-Ich, woran sich das Ich, jene sich ins
Unendliche entwickelnde Urtätigkeit, stößt, nur ein Moment, das es
dem Ich ermöglicht, sich auf sich selbst zurückzuwenden, um zuerst
Einbildungskraft und, nach Wechselwirkung zwischen Ich und Nicht-
l03)Gedacht wird hier an Bein Werk Die Welt alB Wille und Vorstellung (1819).
l04)J.G.Fichte, Über den Begriff der Wissenschafts lehre oder der sogennanten
PhiloBophie. In, Sämtliche Werke, hrsq. von J.H.Fichte, 1.Bd., Berlin 1845,
5.249
l05)Ebenda

51
Ich,
das zu werden, was Bewußtsein genannt wird und dessen Wesen a
priori jene ursprüngliche Tätigkeit selbst ist(106). Auf das ganze
Menschengeschlecht erweitert, wird das Ich (das absolute Ich = das
Menschheit-Ich)
gleichsam zum Schöpfer der Welt(107). Hier braucht
man nur das Wort Ich durch Gott zu ersetzen, um die Lehre Spinozas
wiederzufinden,
dessen Anhänger Fichte war, bevor er (besonders
durch Die Kritik der reinen Vernunft)
zu Kant überging(108).
Der oben zitierte Satz von Tidiany ist also eine Zurückweisung
dieser Auffassung des Verhältnisses Mensch-Außenwelt bei Fichte
und allen Vertretern des deutschen Idealismus.
Daß gleich nach Tidianys Anspielung auf Fichte der Name von
Hegel mit besonderem Nachdruck erwähnt wird,
ist daher nur
konsequent.
Hegel war ja der hervorragendste Vertreter des
deutschen Idealismus.
In dem Kapitel "Die Philosophie des Geistes"
der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
heißt es:
"Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein und
dieses ist der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles
Bewußtsein eines anderen Gegenstandes Selbstbewußtsein ist;
ich
~eiß von dem Gegenstande als dem meinigen (er ist meine
Vorstellung),
ich weiß daher darin von T6~' Der Ausdruck vom
Selbstbewußtsein ist Ich = Ich;
( ... )" (
)
106)"Das Ich ist schlechthin thätig und bleibt thätig -
das ist die absolute
VoraU8setzung. ft Ebenda,
5.250
107 1 "DaS absolute Ich soll demnach seyn ursache des Nicht-Ich an und fUr sich,
d.i.
nur desjenigen im Nicht-Ich,
~as übrig bleibt, wenn man von allen
erweisbaren Formen der Vorstellung abstrahirtj desjenigen, welchem der Anstoß
auf die ins Unendliche hinausgehende Thätigkeit des Ich zugeschrieben wird."
Ebenda, 5.251
108)vgl.Martial Gu~roult, Etudes sur Fichte, ~ubier Ed. Montaigne, Paris 1974,
5.4
109)G.W.F.Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,
IIr.Teil:
Die Philosophie des Geistes.
In: Werke in zwanzig Bänden,
Frankfurt/Main 1970,
10.Bd.,
5.213

52
Dies ist auch der Ausgangspunkt, von dem aus Fichte den Primat des
Ich als einziger wahrer Realität im Erkenntnisprozeß postuliert.
Dieser Idealismus und der sogenannte naive Realismus, zu dem sich
C.S.Tidiany als Schwarzafrikaner bekennt, schließen
selbstverständlich einander aus; und man kann verstehen, daß
Hegel, der im westeuropäischen Denken als hervorragendster
Vertreter jener idealistischen Philosophie gilt, hier pauschal
verworfen wird.
Es scheint aber, daß C.S.Tidiany das Kind mit dem Bade
ausschüttet, wenn er über Hegels Philosophie schreibt:
"La nature n'est pas l'ali~nation de l'id~e A la mani~re de
Hegel; mais plutöt l'id~e serait le reflet de la nature. Celle-ci
est le point de depart parc r gU'elle est reelle au sens mat~riel
et existe pour elle-meme."( 1 )
1. 2.3
KRITIK DER KRITIK
Es scheint zwar Hegels Denken zu widerlegen, wenn behauptet
wird, die Idee sei die Widerspiegelung der Natur, welche der
ersteren damit auch keineswegs entfremdet sei. Denn die Natur wird
in Hegels Philosophie in der Tat chronologisch als das scheinbar
Erste definiert, obwohl sie eigentlich nur das zweite Moment in
der Entwicklung der Idee, d.h. des Absoluten, ist(lll). Es ist
110}"Pie Natur ist nicht die Entfremdung der Idee, wie Hegel meint/ vielmehr
wäre die Idee die Widerepiegelung der Natur. Piese ist der Ausgangspunkt, weil
sie im materiellen Sinne wirklich ist und für sich existiert." C.S.Tidiany,
op.cH., 5.10
111)"Oie Natur ist in der Zeit das Erste, aber das absolute Prius ist die Ideel
dieses absolute Prius iet das Letzte, der wahre Anfang." Hegel. Enzyklop~die der
philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, II.Teil, Werke in zwanzig Bänden,
op.cit., 9.Bd., 5.30
.:".::- .s.":'-'-'~:"I"'--"""~''''_. _ _.,...."'.,
========-
_

I53
aber zu fUrchten,
daß Tidiany einem Mißverständnis über den
Begriff Idee bei Hegel unterliegt.
Bei Hegel heißt es:
"Die Idee selbst ist nicht zu nehmen als die Idee von irg!~9
etwas,
sowenig der Begriff bloß als ein bestimmter Begriff."(
)
Um einem Mißverständnis entgegenzuwirken, wie es auch Tidiany
unterläuft,
schreibt Hegel weiter:
"Die Idee wird häufig,
insofern sie nicht eine Existenz zu
ihrem Ausgangs- und Stützungspunkt habe,
für ein bloß formelles
Logisches genommen. Man muß solche Ansicht den standpunkten
überlassen,
auf welchen das existierende Ding und alle weiteren
noch nicht zur Idee durchdrungenen Bestimmungen noch für
sogenannte Realitäten und wahrhafte Wiklichkeiten gelten."(113)
Und an anderer Stelle schreibt Hegel über den Begriff der Idee:
"Die Idee kann als Vernunft ... als Subjekt-objekt, als Einheit
des Ideellen und Reellen,
des Endlichen und Unendlichen, der Seele
und des Leibs,
als Möglichkeit, die ihre Wirklichkeit in ihr
selbst hat,
als das,
dessen Natur nyr als existierend begriffen
werden kann u.s.f. ge faßt werden."l 14)
Die Idee bei Hegel ist also nichts anderes als das, was er das
Absolute nennt,
und dessen Wesen das Werden als Produkt der
Dialektik zwischen dem Sein und dem Nichts ist, wie es aus
folgendem Satz zu entnehmen ist:
"Die Wahrheit des Seins sowie des NiI~ts ist. •. die Einheit
beider; Diese Einheit ist das Werden."(
)
112)G.W.F Heqel, Enzykl.
I.Teil: Die wissenschsft der Logik, Werke in zwanziq
Bänden, 8.Bd., S.368
113) Ebenda.
114)G.w.F.Heqel, Enzykl. 8.Bd., op.cit., 5.370
11S)Ebenda, 5.188
I

Mit Hegel, diesem Schüler des berühmten protestantischen Tübinger
Stiftes, wo gediegene Bibelkenntnis beigebracht wurde, könnte man
sagen, daß alles wie am Anfang des vierten Evangeliums (Johannes
1, 1-4) geschieht. Aber Statt des "Logos", "Verbs" oder "Wortes"
wie im Evangelium, hieße es eher bei Hegel:
"Im Anfang war die Idee, die Vernunft, der Geist oder das
Absolute."
Man braucht nur noch den dritten Vers jenes Evangeliums
entsprechend neu zu formulieren, um klar herauszustellen, daß für
Hegel nichts Existierendes außerhalb der Idee, des Geistes, des
Absoluten, ja außerhalb Gottes vorstellbar ist. Hegels Logik ruht
auf diesem Glauben an die Einheit des Universums in Gott; und
seine Philosophie der Natur - sowie die des Geistes - kann nur
unter dieser Voraussetzung entziffert werden. Die Originalität
besteht hier darin, daß Gott, der absoluter Geist oder die Idee
ist, im ersten Moment seiner Entwicklung sich in die Natur
uUfgelöst habe, welche dann die Idee in der Form des Anders-seins
sei, wie es folgendermaßen formuliert:
"Die göttliche Idee ist eben dies, sich zu entschließen,
dieses andere aus sich herauszusetzen und wieder in ~±gh
zurückzunehmen, SUbjektivität und Geist zu sein ... "(
)
Daß die Natur "die Entfremdung" der Idee ist, heißt, mit Schelling
gesprochen, daß die Natur eine "versteinerte Intelligenz" sei. Für
Hegel aber bleibt es nicht bei der Versteinerung des Geistes:
ll6)G.w.F.Hegel, Enzykl. II.Teil: P;e Naturphilosophie, Werke in zwanzig Bänden,
9. Bd., 5.24

"( ... )Der Gott bleibt aber nicht versteinert und verstorben,
sondern die 'steine schreien und heben sich zum Geiste auf. Gott
ist Subjektivität, Tätigkeit, unendliche Aktuosität, worin das
Andere nur momentan ist und an sich in der Einheit der Idee
bleibt, weil es selbst diese Totali~ät der Idee ist.,,(ll')
Für Hegel ist die Natur Gott selbst, der vorübergehend in
dieser Form erscheint, die seinem Wesen als absolutem Geist fremd
ist, sich aber ständig zu ihm zurückentwickelt.
"Die Natur ist an sich ein lebendiges Ganzes; die Bewegung
durch ihren Stufengang ist näher dies, daß die Idee sich als das
setze, was sie an sich ist; oder ... daß sie aus ihrer
Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit, welche der Tod ist, in sich
gehe, um zunächst ein Lebendiges zu sein, aber ferner auch diese
Bestimmtheit,
in welcher sie nur Leben ist, aufhebe und sich zur
Existenz des Geistes hervorbringe, der die Wahrheit und der
Endzweck der Natur und die wahre Wirklichkeit der Idee ist.,,(ll8)
Es widerlegt also Hegel nicht, im Gegenteil, es bestätigt sein
Denken, wenn C.S.Tidiany schreibt:
"Le mouvement de la rlalitl suit une courbe de complexitl
croissante de l'inorganique au vital et du vital a l'humain. 11 y
a mouvement perpltuel au sein de l'univers, mouvement des ätres,
mouvement de la vie jusque dans ses dernieres
significations."(119)
Denn Hegel selbst postulierte, daß "die Idee als Materie" in drei
Hauptformen erscheine, welche nach der Stufe ihrer Entwicklung zum
reinen Geiste zu unterscheiden seien. Hegel unterschied nämlich
die mechanische, die psycho-chemische und die organische Welt
(Enzykl. §§ 252-376), eine Vorstellung der Welt, welche tiefe
117)Ebenda, 5.25
118 j Ebenda, 5.35
119)"Die Bewegun9 der Realität fo19t einer Kurve von stsigernder Komplexität vom
Unor9anischen zum Vitalen und vom Vitalen zum Menschlichen. Es 9ibt sins
unaufhörliche Bewegung im Universum, Bewegung der Wesen,
Bewegung des Lebens in
seinen letzten Bedeutungen." C.S.Tidiany, op.cit., 5.10
~ ..

56
Analogien mit der schwarzafrikanischen Weltanschauung aufweist,
wie Tidiany sie darstellt.
Tidiany hat diese Analogien vielleicht deshalb nicht gesehen,
weil er von der Tatsache verblendet war, daß Hegel in manchen
Aspekten seines Werks eben zu den europäischen Denkern seiner Zeit
gehörte,
für welche die Schwarzafrikaner kaum vollgültige Menschen
waren. Tidiany erhebt sich ja gegen die durch die Kolonisation
bedingte Herabwürdigung des Schwarzafrikaners durch die
europäischen Kolonialherren.
Und Hegel gehörte zu denen in Europa,
deren Meinung über Schwarzafrika diese Haltung unterstützte, was
der Kameruner Germanist simo in seiner studie über
L'Intelligentsia allemande et la guestion coloniale. Les
fondements ideologigues et culturels de la colonisation allemande
durch eine kurze aber präzise Analyse von Hegels vorlesungen über
die Philosophie der Geschichte,
Die Vernunft in der Geschichte und
Grundlinien der Philosophie des Rechts zeigt(120).
Eigentlich hat Hegel nur ein auf ungenauen Reiseberichten über
Afrika beruhendes,
in ganz Europa verbreitetes, negatives Bild
Schwarz afrikas und seiner Bewohner mit seiner philosophischen
Geltung besiegelt. Er selbst wußte genau, daß Schwarzafrika zu
seiner zeit den Europäern kaum bekannt war(121).
Er muß es als
120)Simo: L'intelligentsla allemande et la questioG coloniale. Les tondements
ideologigues et culturels da la colonisation allemande.

In:L'Afrique et
l'Allemagne da la colonisation a la coop~ration 1884-1986 (La cas du CamerOUQ).
ActeB du colloque tenu du 8 au 14 Avril 1985 Bur ce th~me et ed. par Kum'a
Ndumbe II1,
aux EditionB Africavenir, Yaound6 1986, S. 181-202, Ygl dort inBb.
S.186ff
l2l)"Uber dieBe Gebirge Bind die Europäer Beit den drei bie dreieinhalb
Jahrhunderten,
daß Bie dieBen Saum kennen und Stellen deeBelben in BeBitz
genommen haben,
kaum hie und da und nur auf kurze Zeit geetiegen und haben eich
dort nirgendB feegeBetzt.
Dae von dieBen Gebirgen umechloBsene Land iet ein
unbekanntes Hochland,
von dem ebenso die Neger selten herabgedrungen sind."
Georg Wilhelm Friedrich Hegel:
YorleBungen über die Philosophie der GeBchichte.
In:
Werke in zwanzig Bänden,
Bd.12, S.120
Ir .......--.--.------~._.-.
.. _-~.,

57
eine Schande empfunden haben, daß er als großer Philosoph über ein
Thema schweigen sollte, worüber so viele andere Denker seiner zeit
sich schon geäußert hatten. Im damaligen Europa war folgende
Meinung in der Tat nicht selten:
"Der Neger stellt den natürlichen Menschen in seiner ganzen
Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und
Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren,
wenn man ihn richtig auffassen will; es ist nichts an das
Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden."(122)
Es ist nur eine Übersetzung dieser Meinung in Hegelsche
Sprache, wenn er schreibt:
"Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische gerade, daß
ihr Bewußtsein noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen
Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz, bei
welcher der Mensch mit ~~inem willen wäre und darin die Anschauung
seines Wesens hätte.,,(l
)
Für Hegel wird die Welt durch eine dynamische Urrealität
angetrieben, welche er Geist oder Vernunft oder Idee nennt, und
die sowohl der physischen als auch der psychischen Natur zugrunde
liege. Auf der Stufe der Natur sei der Geist seiner selbst noch
nicht bewußt; er erscheine in der Form der "toten Materie", der
Pflanzen- und Tierwelt. Auf der Stufe des Psychischen trete der
Geist aus seiner Bewußtlosigkeit heraus, um seiner selbst im
Menschen bewußt zu werden. Er entwickle sich dann stufenweise zu
seiner Vollkommenheit, d.h. zum vollkommenen Bewußtsein seiner
selbst. Die erste Stufe sei die des subjektiven Geistes. Der Geist
drücke sich in dem Individuum aus, das sich seiner selbst und der
122)Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte,
op.cit., 5.122
123)Ebenda

Außenwelt bewußt ist.
In ihm befreie er sich von seinem "Anders-
sein"
und trete in den zustand des "An-sieh-seins". Da das
Individuum ein Repräsentant seiner Art sei, sei es von der Natur,
in bezug auf welche es definiert wird und deren Gesetzen es
unterworfen ist,
noch nicht ganz befreit(124). Auf der zweiten
Stufe werde der Geist objektiv, denn er nehme Form an in der
Gesamtheit aller kulturellen Werte,
auf welche das Individuum sich
bezieht, um seiner eigenen Individualität zu entgehen.
Er drücke
sich in den gesellschaftlichen Normen (in der Moral,
den sitten
und Bräuchen), den Gesetzen
(im staat)
aus. Hier,
im stadium des
objektiven Geistes,
entfalte sich die Geschichte. Auf der dritten
und letzten Stufe verwirkliche sich die Versöhnung zwischen dem
Subjektiven und dem Objektiven entweder in der Form der Kunst oder
in der Form einer innerlichen Gegenwart, der Religion,
oder in der
Form des reinen Begriffs, der Philosophie.
Es ist die Stufe des
absoluten Geistes(125). Die Weltgeschichte sei der Schauplatz, das
Eigentum und das Feld der Verwirklichung des Geistes(126),
denn:
"( .. ,)sie stellt(".)den Stufengang der Entwicklung des
prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist, dar( .. ,)
Es ist hier nur anzuführen,
daß die erste Stufe das( .•. )
Versenktsein des Geistes in die Natürlichkeit, die zweite das
Heraustreten desselben in das Bewußtsein seiner Freiheit ist(.,.)
Die dritte Stufe ist die Erhebung aus dieser noch besondern
Freiheit in die reine Allgemeinheit derselben,
in das
selbstbewußtset2 und Selbstgefühl des Wesens der
Geistigkeit."(
7).
124)vql.Hans Joachim Störiq: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt a.
Hain 1987, 5.459
125)vql. Störiq, op.cit., 5.461
126)"Das Prinzip der Entwicklunq enthält das weitere, daß eine innere
Bestimmung, eine an sich vorhandene Voraussetzung zugrunde liege, die sich zur
Existenz brinqe. DieBe formelle Bestimmunq ist wesentlich der Geist, welcher die
Weltqeschichte zu seinem Schauplatz, Eiqentum und Felde seiner Verwirklichunq
hat." G.w.F.Heqel: Vorlesungen über die Philosophie der Geechichte. op.cit.,
5.75
127)Ebenda, 5.77
'.
,
'.'

59
Im Neger nun, von dem im damaligen Europa "wissenschaftlich"
bewiesen worden war,
daß er im Menschengeschlecht dem Tier -
besonders dem Affen - am nächsten stehe (128), konnte der Geist
sich nur auf der allerersten stufe seiner Entfaltung befinden. Auf
der Stufe des objektiven Geistes konnte man ihn sich durchaus
nicht vorstellen.
"Zu dieser Unterscheidung seiner als des Einzelnen und seiner
wesentlichen Allgemeinheit ist der Afrikaner in seiner
unterschiedlosen, gedrungenen Einheit noch nicht gekommen, wodurch
das Wissen von einem absoluten w~~en, das ein anderes, höheres
gegen das Selbst wäre,
fehlt."(l :I)
Hieraus ergibt sich, daß:
"Bei den Negern
( ... ) die sittlichen EmPfindungenvol~~ornmen
schwach, oder besser gesagt, gar nicht vorhanden" sind (
).
Dies zeige sich u.a. dadurch, daß sie ihre eigenen Kinder und
Verwandten als Sklaven verkauften (131)
und daß sie Vielweiberei
trieben, um reichlich über diese Ware zu verfügen(132).
Es kann natürlich hier von keinem staat im wahren Sinne die
Rede sein.
l28)Hierzu Vgl.5amuel Thomas 5ömmerring. Uber die körperliche Verschiedenheit
des Mohren vom Europäer, Mainz 1784
l29)Ebenda, 5.122
l30)Ebenda, 5.125
13l)"Die Eltern verkaufen ihre Kinder und umgekehrt ebenso jene, je nachdem man
einander habhaft werden kann." Ebenda, 5.125
l32)"Die Polygamie der Neger hat häufig den Zweck, viele Kinder zu erzielen, die
samt und besonders zu Sklaven verkauft werden könnten." Ebenda, 5.126

60
"Was den Staat einen Augenblick beI~!hen lassen kann,
istl ... )lediglich die äussere Gewalt."1
)
Was die Religion betrifft, kann der Neger selbstverständlich
keine besitzen. Der Fetisch, den er verehrt, habe nur eine
zweckbedingte geliehne Macht, die er sofort verliere, sobald er
die erhoffte wirkung nicht erbringe. Er werde dann zerstört und
durch einen anderen ersetzt( 134 ).
"Es ist auch kein wissen von unsterblichk!ii der Seele
vorhanden obwohl Totengespenster vorkommen." I
)
Denn:
"I ... ) für den sinnlichen Ne1!; ist das Menschenfleisch nur
Sinnliches, Fleisch überhaupt."1
)
Als schlösse nun Hegel die Schwarzafrikaner von dem allgemeinen
Entfaltungsgesetz des Geistes definitiv aus, beendet er seine
Betrachtung mit folgendem,
im HegeIschen System sehr negativen
Urteil:
"Dieser Zustand ist keiner Entwicklung und Bildun1 ;ähig, und
wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen."1 3 )
133)Ebenda, 5.126
134)"Begegnet nämlich etwas Unangenehmes, was der Fetisch nicht abgewendet hat,
bleibt der Regen aus, entsteht Mißwachs, so binden und prügeln sie ihn oder
zerstören ihn und schaffen ihn ab,
indem sie sich zugleich einen andern
kreieren;" Ebenda, 5.123
135)Ebenda, 5.124
136)Ebenda, 5.124
137)Ebenda, 5.128. 5iehe auch Philosophie des Geistes (Enzykl. S 393, 5.60)
"( •.. ) einen inneren Trieb zur Kultur zeigen sie (die Neger) nicht. In ihrer
Heimat herrscht der entsetzlichste Dsspotismus; da kommen sie nicht zum Gefühl
der Persönlichkeit des Menschen, -da ist ihr Geist ganz schlummernd, bleibt in
sich versunken, macht keinen Fortschritt und entspricht BO der kompakten,
unterschied losen Masse des afrikanischen Landes."
. ;' ; ";.-.

Das ist zwar eine im Hegelschem Denken sehr schlimme Verdammung.
Aber andererseits wäre schwarzafrika damit auch vor jeder
Kolonisierung bewahrt, wenn derselbe Hegel auf der anderen Seite
nicht glaubte:
"( ... )die Neger sind weit empfänglicher für europäische Kultur
als die Indianer und ein englischer Reisender hat Beispiele
angefühl~ä daß Neger geschickte Geistliche, Ärzte u.s.w. geworden
sind."(
)
Nach der HegeIschen Weltvorstellung sind solche Neger ohne Zweifel
in den allgemeinen Entfaltungsprozeß des Geistes integriert.
Hieraus ergibt sich auch, daß die Neger durch europäische
Kolonisation in die weltgeschichte eintreten können.
Angesichts eines solch negativen Bildes der Schwarzafrikaner
und einer derartigen Legitimierung der Kolonisierung
Schwarzafrikas durch Europa im Werke Hegels ist verständlich, daß
bei ihrem Emanzipationskampf die schwarzafrikanischen
Intellektuellen in ihm einen Feind sehen. Dies mag erklären, warum
Tidiany nicht gesehen hat, daß eben Hegel mit seiner Philosophie
der Natur unwissentlich einer der entschiedensten Anwälte der
schwarzafrikanischen Weltanschauung im damaligen Europa gewesen
ist.
138)EbBn~a, 5.109
. - .
: . ; " :
<

6.
1. 2.4
ANALOGIEN ZWISCHEN HEGELSCHER UND SCtlWARZAFRIKANISCHER
WELTANSCHAUUNG
Hegel wäre sicherlich nicht von einer Weltvorstellung
abgestoßen gewesen, wie sie C.S.Tidiany als schwarzafrikanisch
darstellt:
"Ce que nous mettons derri~re toute chose, derri~re toute
realite,
n'est point comme on le pense l'äme, mais bien plutöt le
mouvement et le "nt"
soussou par exemple ne signifie pas l'äme au
sens stri~~, mais une certaine vibrance qui sous-tend toute
chose.,,(l
)
Befremdend wäre es aber gewiß für ihn gewesen, daß Tidiany über
diese Weltvorstellung weiter ausfUhrt:
"( ... )l'on ne met pas derri~re la realit~ ce principe portant
le but en soi d'Aristote et l'ordin~~6on de l'univers ne fait
primitivement aucun appel ! Dieu."(
)
Schon die Wendung gegen Aristoteles, dessen geistige
Verwandtschaft mit Hegel in diesem Punkt auf der Hand liegt(141),
würde dieser nicht nachvollziehen können.
Daß nun jeder göttliche
Eingriff aus der ursprünglichen Ordnung der Welt ausgechlossen
wird, würde ihm als ein unüberwindliches Hindernis bei der
139)"DaS, was wir hinter jedem Ding,
jeder Realität annehmen,
ist keineswegs,
wie man glaubt,
die Seele,
sondern vielmehr die Bewegung; das Nt bei den
SOU880UB zum Beispiel bedeutet nicht die Seele im engen Sinne,
sondern eine
Vibration,
die jedem Ding zugrunde liegt." C.S.Tidiany, op.eit., 5.10-11
140)"( ... )Es wird hinter der Realität nicht jenes das Ziel in sich tragende
prinzip von Aristoteles" angenommen und für die Ordnyng des Universums wird
ursprünglich nicht Gott in Anspruch
genommen.~ Ebenda, S.ll. Hervorhebung von
mir.
141)DarUber siehe u.a. Ren6 Serreau,
Hegel et l'Hegtlianisme, PUF,
3e 6d., Paris
1968, S.22ff

63
,',
,
1,-
,
Erklärung gewisser Phänomene wie z.B. des "Übergangs vom bloßen
Vitalen zum Menschlichen oder vom Vitalen zum Reflektierten"
(le
passage du simple v i t a l ! l'humain ou ( ..• ) du vital au r6f16chi)
erscheinen, wobei Tidiany selbst einräumt, daß die
schwarzafrikanische Weltvorstellung in diesem Punkt
Erklärungsprobleme hat.
"Mais la question que l'on peut se poser alors c'est celle de
savoir si,
justement,
l'on situe aussi un point d'apparition de
l'homme, c'est-ä-dire comment dans cette perspective on passe du
vital ä l'humain,
ou si l'on prefere du vital au reflechi. Nous ne
pouvons nous cacher l'extreme difficulte et la subtilite de
l'interpretation de ce passage du vital a l'ho~~e. 11 semble bien
qu'il soit d'ordre mutatif et soumis au hasard.
Oe l'univers
organique et plutöt ici ou lä qU'ailleurs a jailli un jours
l'homme.,,(l 2)
Zwar wollte Hegel weder eine Theodizee in der Art Leibniz'.
schreiben noch hat er, nachdem er Gott, den absoluten Geist, als
Grundprinzip gesetzt hatte, den Anspruch gehabt, durch
chemisch-
physikalische oder biologische Gesetze den Übergang vom bloßen
Vitalen zum Menschen zu erklären. Nach seinem System aber, das von
der Einheit der Idealität und Realität in Gott, dem absoluten
Geiste, ausgeht, welcher,
nachdem er sich selbst in der Natur
entfremdet,
allmählich zu sich zurückkehrt, könnte das Menschliche
einfach als das Stadium begriffen werden,
in dem der Geist vom
unreflektierten zum reflektierten sein übergeht,
zu jener höheren
Stufe, auf der sich nach Hegelscher Auffassung die Weltgeschichte
erfüllt, welche nichts Anderes als die Weiterentwicklung des
l42)"Aber die Frage, die man eich dann etellen kann, iet, wie man dae
Hervortreten des Menschen erklären kann, d.i. wie man in dieser Perspektive vom
Vitalen zum Menschen, oder, wenn man will, vom Vitalen zum ~eflektierten,
übergeht. Wir können une die äußerete Schwierigkeit und die Subtilität der
Interpretation diesee Obergange vom Vitalen zum Menschen nicht verbergen. Er
Scheint wohl, mutativer Natur und dem Zufall unterworfen zu sein. Aus der
organischen Welt und eher hier oder da als anderswo ist der Mensch eines Tages
entsprungen." Ebenda, S.ll!

64
zu einem totalen Bewußtsein von sich selbst ist, jene
• Entwicklung, welche über eine sUbjektive (das individuelle
l-
i Bewußtsein), dann eine obj ekti ve
(Familie, Gemeinschaft,
Gesellschaft, staat), schließlich eine absolute Form (Kunst,
\\ Religion, Philosophie) sich vollzieht.
~: .
Das Prinzip des "NI", von dem Tidiany spricht, würde bei Hegel
seine Entsprechung und Erklärung in dem des sich zu sich selbst
entwickelnden
Geistes finden.
Bei der Lektüre der Philosophie der
Natur (Kapitel 252 bis 376 der Enzyklopädie der Philosophischen
Wissenschaften) kann man feststellen, wie bei Hegel die
Eigenschaften der Materie sich vom Einfachsten (von der
mechanischen Welt)
zum Komplexesten (zur organischen Welt)
entfalten. Da das NI von den meisten Spezialisten als ein Fluidum
definiert wird, dessen besondere Wirkung von der Ladung an
Lebensenergie abhängt, die der Existenzform entspricht, wecher es
verliehen ist(143), könnte aus Hegelscher Perspektive wohl
angenommen werden, daß Pflanzen mit einem einzigen Nt, Tiere mit
hBchstens zwei, Menschen dagegen mit mehr als zwei Nt versehen
seien(144). Der Übergang vom einfachen zum reflektierten Sein
könnte nun dadurch erklärt werden, daß einer Existenzform mehr als
zwei NI verliehen worden sind. Im HegeIschen System würde dies der
Entwicklungsstufe des Geistes entsprechen, auf der der Geist sich
143)vgl. dazu Paacal D. Dirky de Malus, La Quest ion du Dya ou la conception de
l'homme selen les peuples n~gro-africains.o.O,o.J, dort insb. die Einleitung und
die Kapitsl II u.
III.
144)"( ..• )le t6r6 d'un animal ne s6cräte qu'un ou deux fluides. Ce1ui de
certains objets inanim~s ou des plantes qu'un seul fluide."
( ••• Das Tere eines
Tieres sekretiert nur eins oder zwei Fluiden. Das mancher lebloser Gegenstände
oder der pflanzen ein einziges Fluidum.) Ebenda, 5.18
-In 5ombara-Sprache bedeutet Tere die Fähikeit eines Körpers, NI, d.i.
Lebensenergie zu empfangen. Das Tere entspricht bei Lebewesen im allgemeinen dem
Geist, bei dem Msnschen der Seele, dem Geiste,
jenem bewußten und denkenden Teil
im Individuum.
(siehe P.D.Dirky op.cit., 5.17)

seiner selbst bewußt wird, wie es aus folgenden Worten Hegels zu
entnehmen ist:
"Das Bewußtsein macht die stufe der Reflexion oder das
Verhältnis des Geistes zu sich selbst als Erscheinung ay~~ Ich ist
die unendliche Beziehung des Geistes auf sich selbst."l
)
Es wäre jedoch falsch,
in dem Hegelschen System, nach dem der
Zweck des ganzen Seins, des ganzen Universums, von jener Hypostase
aus zu erfassen ist, die Hegel Geist,
Vernunft,
Idee, Absolutes
oder einfach Gott nennt,
und die sich stufenweise zu vollem
Bewußtsein von sich selbst entwickelt, einen Transformismus in der
Art von Erasmus und Charles Darwin zu vermuten. Als Beleg dafür
könnte folgende Worte Aussage Hegels angefÜhrt werden:
"Wenn so die Planeten,
die Metalle oder die chemischen Körper
überhaupt,
die Pflanzen, Tiere in Reihen gestellt und ein Gesetz
solcher Reihen gefunden werden soll,
so ist dies eine vergebliche
Bemühung, weil die Natur ihre Gestaltungen nicht so in Reih und
Glied stellt und der Begriff nach qualitativer Be~~~mmtheit
unterscheidet,
insofern aber nur Sprünge macht."l
)
Einem Hegelianer ist also nicht neu, wenn er bei Tidiany zu lesen
bekommt:
"11 n'y a pas de marche continue de la cellule ä
l'organisation en quelque sorte preferentielle des cellules vers
des formes qui aboutissent ä l'animal et ä l'homme. Les
contingences du milieu ont contribue ä cette orientation et le
passage de la cellule ä l'organisme et ä l'esp~ce e~~ lie ä des
phenom~nes non pas quantitatifs mais qualitatifs."l
7)
145)G.W.F.Hegel, ~nzykl. Die Philosophie des Geistes, op.cit., 5.199
146)G.w.F.Hegel, Die Naturphilosophie, op.cit., 5.34
147)"Es gibt keinen kontinuierlichen Gang von der zelle· zu dem Zusammenschluß
von Zellen, der zum Tier und zum Menschen führt. Die Zufälligkeiten des Milieus
haben zu dieser Orientierung beigetragen und der Übergang von der Zelle zum
Organismus und zur Gattung hängt nicht mit ~antitativen sondern mit
qualitativen Phänomenen zusammen." C.5.Tidiany, op.cit., 5.12
: '.'

66
Selbst die schwarzafrikanische AUffassung der Gesundheit und
der Krankheit,
die Tidiany darstellt,
und in der das innere
Gleichgewicht des Organismus einerseits und andererseits das
Gleichgewicht zwischen dem Organismus und dessen Lebensmilieu
bestimmend sind(148) / ist dem Hegeischen Denken nicht völlig
fremd.
In dieser Beziehung heißt es nämlich bei Hegel einmal:
"Die Gesundheit ist die proportion des organischen Selbsts zu
seinem Dasein, daß alle Organe in dem Allgemeinen flüssig sind;
sie besteht im gleichmäßigen Verhältnisse des Organischen zum
unorganischen,
so daß nichts unorganisches für den Organismus ist,
welches er nicht überwinden kann.
Die Krankheit liegt nicht darin,
daß ein Reiz zu groß oder zu klein für die Reizempfänglichkeit des
Organismus ist,
sondern ihr ~~griff ist eine Disproportion seines
Seins und seines Selbsts.,,(l
)
Analogien zwischen dem Hegeischen Denken und der
schwarzafrikanischen Weltvorstellung,
wie sie von Tidiany
dargestellt wird, rühren daher,
daß beiden die Überzeugung von der
Einheit von Idealität und Realität zugrunde liegt.
Diese philosophische Tendenz, die Identitätsphilosophie, die
von Fichtes subjektivem Idealismus ausging und von Schelling und
Hegel als objektiver Idealismus umformuliert wurde,
charakterisierte das theoretische Denken in Deutschland am Ende
des 18. und während der drei ersten Jahrzehnte des
19.Jahrhunderts. Liegt hier etwa einer der Gründe für die
148)"(o .. )pour lee gu~riBseurB africains, l'organisme sain a besoin d'un
~quilibre int~rieur mais a besoin Bussi d'~tablir un ~quilibre entre ses propres
reactions et 1e milieu exterieur;
et la maladie est toujours due l
1a rupture da
l'un cu l'autre de ces equilibres ou des deux A 1a fois."
( . . . Für die
afrikanischen Medizinmänner braucht der gesunde Organismus ein inneres
Gleichgewicht aber auch ein Gleichgewicht zwischen seinen eigenen Reaktionen und
der Außenwelt;
die Krankheit entsteht immer aus der Störung von dem einen oder
dem anderen dieser Gleichgewichte oder
von beiden gleichzeitig.) Ebends,
5.16
149)Hegel, Die Naturphilosophie,
op,cit.,
5.521

67
Sympathie schwarz afrikanischer Intellektueller für manche Aspekte
des damaligen deutschen Geisteslebens?
1.3
DIE GOETHEZEIT ALS REFERENZ BEI DER SUCHE
SCHWARZAFRIKANISCHER INTELLEKTUELLER NACH KULTURELLER
IDENTITÄT
Während der Kolonialzeit, aber auch danach haben
schwarz afrikanische Intellektuelle für ihren Emanzipationskampf
Vorbilder aus der Goethezeit genommen.
Trotz des Kampfes gegen die französische kulturelle
Angleichungspolitik der Kolonialzeit sind die Völker des
frankophonen Schwarzafrika bis heutzutage in ihrem Leben von der
französischen Kultur geprägt. Nach Erlangung der Unabhängigkeit
kann sich die Intelligenz der neuen Staaten mit dem Kolonialerbe
im Bereiche der Politik, der Wirtschaft und der Kultur meist nicht
abfinden. Nach Wegen zur totalen Entkolonisierung des Lebens in
den neuen Staaten wird ständig gesucht. In diesem Rahmen gelten
die schwarz afrikanischen Traditionen als Quelle von Werten, mit
denen die Verhältnisse in jenen Ländern völlig entkolonisiert
'werden könnten. Man nennt das Authentizitätspolitik .
... .....-
'

68
1. 3.1
POLITIK DER "AUTHENTICITE" IN SCHWARZAFRIKA UND DIE
DEUTSCHE HISTORISCHE RECHTSSCHULE
.:~' .....
Bei einem Kolloquium,
das vom 16. bis zum 22. August 1970 in
Cotonou (Benin)
über das Thema Les relgions africaines comme
sources de valeurs de civilisation (Die afrikanischen Religionen
als Quelle von Kulturwerten)
stattfand, hielt Bernard B.Som~ aus
dem heutigen Burkina Faso einen vortrag über La religion
traditionnelle mossi comme source de valeurs de civilisation
politigue (Die traditionelle Religion der Mossi als Quelle von
Werten politischer Kultur).
In diesem Beitrag heißt es:
"( ... )des la fin du XVIIIe siecle et au d~but du XI Xe naquit
en Allemagne une ecole appelee "Ecole historique du droit".
Pour
cette ecole chaque communaute elabore son propre droit,
et celui-
ci s'exprime adequatement dans les coutumes qui,
mieux que les
lois,
traduisent ses exigences et ses aspirations profondes.,,(150)
B.B.Som~ beruft sich hier auf die Lehre der historischen
Rechtsschule,
um die Religion der Mossi als Quelle von Werten
politischer Kultur bei diesem schwarzafrikanischen Volk im
heutigen modernen Kontext vorzuschlagen.
Somes Aussage gibt den Grundgedanken der Lehre dieser
Rechtsschule wieder. Sein Hinweis auf sie gibt Anlaß,
sie hier
lSD)"( ... )am Ende des 18. und am Anfang des 19.Jahrhunderts entstand in
Deutschland die sogenannte "Historische Rechtsschule". Für diese Schule bringt
jede Gemeinschaft ihr eigenes Recht hervor, und dieses drückt sich vollkommen in
den Bräuchen aus, welche ihre innigsten Bedürfnisse und Bestrebungen besser als
die Gesetze zum Ausdruck
bringen.~ Bernard B.Seme: La religion traditionnelle
mosel comme soures da valeurs da civiliaation politigue.
In;
Presence Africaine.
No. sp~c1al,
Paris 1972, 5.311.
1/J
,I
',';

eingehender zu behandeln,
um den von ihm behaupteten Zusammenhang
mit Problemen im heutigen schwarzafrika herauszuarbeiten.
1.3.1.1
URSPRUNG UND LEHRE DER HISTORISCHEN RECHTSSCHULE
Die historische Rechtsschule ist mit dem Namen des Juristen
Friedrich Karl von Savigny
(1779-1861),
ihres Begründers,
verbunden.
Sie geht von der Anwendung der Methode von Gustav Hugo
(1764-1844)
aus.
In seinen zahlreichen studien über das römische
Zivilrecht will Hugo
"den Sinn der Wörter und Redensarten nicht mehr philos~R~isCh,
sondern historisch,
nach dem, was sich die Römer dachten"(
)
bestimmen.
Dieser überzeugte Kantianer schätzt die philosophische Genauigkeit
und sucht leidenschaftlich nach den Quellen der Gesetze.
So
gelingt es ihm tatsächlich, den Geist des römischen Rechts zu
ergründen. Aus seinen methodologischen Forderungen in der
rechtwissenschaftlichen Forschung macht Savigny eine Aufgabe aller
deutschen Rechtwissenschaftler in bezug auf deutsche Verhältnisse
in einer zeit, da das deutsche Volk die Last der napoleonischen
Besatzung trug.
Es ist bekannt, daß diese Besatzung eine beträchtliche Welle
von Nationalismus bei der deutschen Intelligenz -
besonders bei
den Romantikern - hervorrief. Auf juristischem Gebiet wurde die
151 jZ itiert nach Hans Joachim 5törig: Kleine Weltgeschichte der wissenschaft.
Frankfurt a. Main 1982,
2.Bd. 5.244

70
Diskussion 1814 von Anton Friedrich Justus Thibaut
(1772-1840),
Professor für Zivilrecht an der Universität Heidelberg, mit seiner
Schrift Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen
Rechts für Deutschland ausgelöst.
Thibaut ging es auch um die
deutsche Einheit.
Und den Weg dahin - besonders im Bereich des
Rechtswesens - sah er in der Überwindung der Vielfalt
herkömmlicher,
auf verschiedenen Lokalgebräuchen beruhender
deutscher Gesetze durch eine Synthese aus dem Code-Napoläon, dem
preußischen und dem österreichischen Gesetzbuch:
"Die Deutschen sind viele Jahrhunderte durch ein Labyrinth
buntscheckiger,
zum Teil sinnloser, verderblicher Gebräuche
gelähmt,
herabgestimmt, voneinander getrennt. Gerade jetzt bietet
sich für die Verbesserung des bürgerlichen Rechtes eine unerwartet
günstige Gelegenheit darr
wie sie sich nie dargeboten hat und
vielleicht in tausend Jahren nicht wiederkehren wird( ... ) Die
Überzeugung,
daß Deutschland bisher an viel kränkelte, daß es
besser werden kann und muß,
ist allgemein.
Selbst das frühere
französische Übergewicht hat dazu beigetragen.
Denn kein
Unparteiischer kann es leugnen,
daß in den französischen
Einrichtungen sich manches sehr Gute aussprach,
und daß der Code
und die Diskussionen und Reden über denselben,
sowie das
preußische und österreich ische Gesetzbuch in unsere
Rechtsphilosophie mehr frisches Leben und zivilistische Kunst
gebracht haben als der ganze Schwarm unserer Lehrbücher über
Naturrecht. Wollten sich die deutschen Regierungen jetzt über die
Abfassung eines allgemeinen deutschen zivil- Kriminal- und
Prozeßgesetzbuches vereinigen ... so könnte es nicht 15~len, daß wir
etwas Treffliches und Gediegenes erhalten würden."(
)
Als Antwort auf Thibauts Schrift veröffenlichte Savigny in
demselben Jahre seine Abhandlung Vom Beruf unserer Zeit für
Gesetzgebung und Rechtswissenschaft,
die als Programmschrift der
Historischen Rechtsschule gilt. Thibauts Auffassung wurde hier
durch und durch bestritten.
Schon jene Synthese von französischem
und deutschem Recht,
in der Thibaut das Heil Deutschlands im
Bereiche des Rechtswesens gefunden zu haben glaubte, war für
152 jZ itiert nach H.Joachim 5törig, op.cit., 5.246

71
Savigny nur die Last einer nationalen Entfremdung, welche die
deutsche Misere bewußt werden ließ und das GefUhl erweckte,
"( ... )daß in der abgewendeten Unterdrückung der deutschen
Nation eine dringende Aufforderung an lebendige Kraft liegt. I, (153)
Hier äußerte sich ein Nationalismus, der nichts mit dem
versöhnenden Charakter desjenigen von Thibaut zu tun hatte.
Die
erste Attacke gilt der fremden,
französischen Einrichtung. Denn:
"Als der Code in Deutschland eindrang, und krebsartig immer
weiter fraß,
war von inneren GrUnden nicht die Rede, kaum hie und
da in leeren Phrasen:
ein äußerer Zweck bestimmte alles, dem
eigenen Werthe des Gesetzbuches völlig fremd,
ein an sich selbst
heilloses Verhältniß,
selbst abgesehen daygn, daß es der
verderblichste unter allen Zwecken war."(
4)
Nicht mehr das, was aus vergangener Zeit stammt,
ist fremd, wie
Thibaut vorn römischen Recht meint(155),
sondern das Nicht-
Deutsche, sollte es auch der Gegenwart angehören. Alles, was
deutsch ist,
kann dem deutschen Volk nicht fremd sein,
auch wenn
es der vergangenheit angehört.
Deshalb ist Savigny empört, daß
Thibaut im Rahmen eines deutschen bürgerlichen Rechtes von den
deutschen Bräuchen mit Verachtung spricht, und daß er ihnen eine
schädliche Wirkung zuschreibt:
"In jedem organischen Wesen also auch im staate, beruht die
Gesundheit darauf,
daß beides, das Ganze und jeder Teil,
im
Gleichgewicht stehe, daß jedem sein Recht widerfahre.
Daß ein
Bürger, eine Stadt,
eine Provinz den Staat vergessen,
dem sie
angehören,
ist eine sehr gewöhnliche Erscheinung und jeder wird
diesen Zustand für unnatürlich und krankhaft erkennen. Aber eben
so kann lebendige Liebe zum Ganzen bloß aus der lebendigen
153)Friedrich Karl Savigny:
Vom Beruf unaerer
Zeit
tür Gesetzgebung und
Rechtswissenschaft. Heidelberg 1814, 5.1
154)Fr. Karl savigny, op.cit., 8.2
155)vgl. H.Joachim 8törig, op.cit., 5.245

Theilnahme an allen einzelnen Verhältnissen hervorgehen und nur
wer seinem Hause tüchtig vorsteht, wird ein trefflicher Bürger
seyn.
Darum ist es ein Irrthum,
zu glauben,
das Allgemeine werde
an Leben gewinnen durch Vernichtung aller individuellen
Verhältnisse. Könnte in jedem stande,
in jeder stadt,
ja in jedem
Dorfe ein eigenthümliches Selbstgefühl erzeugt werden,
so würde
aus diesem erhöhten und vervielfis~igten individuellen Leben auch
das Ganze neue Kraft gewinnen."(
)
savignys Auffassung der Gesetzgebung t r i t t hier deutlich hervor.
Für ihn soll der Staat wie ein organismus funktionieren. wie jeder
organismus soll er seine Kraft,
seine Gesundheit,
aus der
Integrität all seiner organe schöpfen,
aus der Harmonie zwischen
dem Ganzen, das er bildet,
und den verschiedenen Städten,
Dorfgemeinschaften und provinzen, wobei es unentbehrlich ist, daß
jede Individualität, deren Eigenheit aus ihren sitten und Bräuchen
besteht,
bewahrt bleibt. Es ist also in savignys Augen notwendig,
daß der Jurist eine Doppeleigenschaft besitze.
"Ein zweifacher Sinn ist dem Juristen unentbehrlich: der
historische,
um das Eigenthümliche jedes zeitalters und jeder
Rechtsreform scharf aufzufassen,
und der systematische, um jeden
Begriff und jeden Satz in lebendiger Verbindung und Wechselwirkung
mit dem Ganzen anzusehen, d.h.
in d~ID Verhältniß, welches das
allein wahre und natürliche ist."
(157)
Damit kann der Jurist die Grundlage des Rechts ergründen, welche
in der Geschichte jedes Volkes zu suchen ist, wo sein Charakter,
sein Geist,
sein kollektives Bewußtsein und Gewissen sich gebildet
haben, was in seinem Glauben, seinen Sitten und Bräuchen Ausdruck
findet.
Der Jurist ist also ein wissenschaftler, dessen Aufgabe
darin besteht,
einem gegebenen Volk dessen eigene rechtliche
Grundbestrebungen und -forderungen bewußt zu machen, d.h. den
Lebenskodex, den es sich selbst durch die Zeitalter hindurch
156)Fr.Karl 5aviqny, op.cit., 5.42
157)Ebenda, 5.48

gebildet hat,
in juristische Sprache zu übersetzen.
Der Jurist
soll nur der Dolmetscher des Volksbewußtseins sein, wie F.J.Stahl
schreibt(158) .
Für savigny muß das Recht als ein vom Wesen eines gegebenen
Volkes unabtrennbarer Aspekt betrachtet werden.
Sein natürlicher,
unverarbeiteter Ausdrucksmodus seien die sitten und Bräuche(159).
Zum Verständnis der Historischen Rechtsschule ist es nun
wichtig, daß sie zu der gesamten Denkrichtung gehört, welche in
der Geschichte des europäischen Denkens unter dem Begriff
Historismus bekannt ist.
"Wenn wir( ... )den Historismus nicht nur als eine
geschichtswissenschaftliche Methode verstehen,
sondern als eine
umfassende Lebensphilosophie, die jegliche gesellschaftliche
Realität als einen geschichtlichen Strom sieht,
in dem kein Moment
dem anderen vergleichbar ist,
und die voraussetzt,
daß
Wertmaßstäbe und logische Kategorien ebenfalls völlig in dem Fluß
der Geschichte eingetaucht sind, dann handelt es sich um eine
Schöpfung des 16. Jahrhunderts. Genauer:
es handelt sich um eine
deutsche Reaktion auf bestimmte aUfk1~5erische Gedankengänge,
insbesondere die Naturrechtslehre."(
)
Bezieht man sich auf diese von Georg G.
Iggers angebotene,
auf
deutsches Geistesleben beschränkte Definition des Begriffs,
so ist
Johann Gottfried Herder als der Initiator des Historismus zu
betrachten.
Schon in seinem Jugendwerk Auch eine Philosophie der
Geschichte zur Bildung der Menschheit
(1774) umriß er die
158)"Juristenstand und Gesetzgeber sind aber selbst nur Organ des
Volksbewußtseins,
sie geben nur seinen ErzeugnisBen die Durchbildung oder seinem
allgemeinen EntwicklungsBtreben die bestimmte
(präcisierte) Gestalt." Friedrich
Julius Stahl: Die Philosophie des Rechtes.
3.Auflage (Berlin 1854). Reprint
Hildesheim 1963,
l.Bd.,
5.572.
Siehe auch 5.582
159)"Die Summe dieser Ansicht also ist, daß alles Recht auf die Weise entsteht,
welche der herrschende,
nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht
bezeichnet, d.h.
daß es erst durch Sitte und Volksglaube,
dann durch
Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere,
stillwirkende Kräfte,
nicht durch die WillkUhr eines Gesetzgebers." fr.Karl Savigny, op.cit., 5.14
160)Georg G.
Iggersl Deutsche Geschichtswissenschaft. München 1971, 5.44

74
Weltanschauung,
die während des ganzen 19.Jahrhunderts(16l) der
deutschen Geistes- und Sozialwissenschaft zugrunde liegen sollte.
zwei Grundvorstellungen bei Herder fUhren zur Entstehung des
Historismus.
Die erste ist die Idee der Nation als einer
organischen Individualität.
"Jede Nation hat ihren Mittelpu~li der Glückseligkeit in sich,
wie jede Kugel ihren Schwerpunkt."(
)
Diesen Gedanken ergänzend heißt es an anderer Stelle:
"( ... ) in gewißem Betracht ist also jede menschliche
Vollkommenheit g~tional, säkular, und am genauesten betrachtet,
individuell.r,(l
)
Wie kein Individuum sich Uber die Möglichkeiten hinaus
vervollkommnen kann, die ihm seine biologische Beschaffenheit,
seine natürliche, kulturelle und soziale Umwelt bieten, kann die
Nation, der es angehört,
nur den Grad der Glückseligkeit
erreichen, den ihr ihr natürliches Milieu und das Leben der ihr
angehörenden Menschen ermöglichen.
Es ist hier das gleiche
Verhältnis wie zwischen einem Organismus und allen seinen Teilen,
mit dem Unterschied, daß die Interdependenz Nation-Individuum
ihren vollen Sinn erst in einer gesamtmenschheitlichen Perspektive
erlangt. So schreibt Herder:
"Alle bloß Körperliche und Politische Zwecke zerfallen, wie
Scherb' und Leichnam: die r521el der Geistl
Inhalt fürs Ganze der
Menschheit - der b l e i b t . " ( )
.
161) Für meine Zwecke werde ich die Entwicklung bis zu Leopold von Ranke in
aller Kürze skizzieren.
162)Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung
der Menschheit. In: Sämtliche werke Bd.5, 5.509
163)Ebenda, 5.505
164)Ebenda, 5.580. Orthographie und grammatische Formen des Originals.

Hier tritt die zweite Grundidee in der Herdersehen Auffassung der
Geschichte hervor: das Streben jeder Nation, ihr Geist, ihre
Seele, besteht in ihrem unaustauschbaren Beitrag zur Bildung der
Humanität.
Die Verteilung und Koordinierung der Rollen übernimmt Gott

selbst. Denn die Geschichte ist
"Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden, wenn wir gleich
nicht die letzte Absicht sehen sollten.,,(165)
Diese Gedanken, die Herder in Ideen zu einer Philosophie der
Geschichte der Menschheit (1785-1791) und Briefe zu Beförderung
der Humanität (1794-1797) weiter ausgeführt hat, sind auch bei
Wilhelm von Hurnboldt zu finden, dessen Beitrag zur Entstehung des
deutschen Historismus nicht gering war.
In Humbo1dts Betrachtungen über die Weltgeschichte (1814) heißt
es über eine übergeordende Macht in der Weltgeschichte:
"Die Macht, welche Ideen Jahrhunderte hindurch auf die
Menschheit ausüben, fällt zu sehr in die Augen, um es nicht zu
wagen, alle Umänderungen, die mit ihr vorgehn, einer großen
leitenden Macht untel~grfen zu glauben, und die Kühnheit zu hegen,
diese zu errathen."(
)
,.,
Aus diesem Glauben an eine leitende Macht wird, wie bei Herder,
die Auffassung abgeleitet, nach der die Menschheit als ein
Naturprodukt zu betrachten ist(167). Dieser organisrnus(168) ist in
165)Ebenda, 5.513/
siehe auch 5.558
166)Wilhelm von Humboldt:
Betrachtungen über die Weltgeschichte (1814).
In:
Werke in fünf Bänden. Darmstadt 1960, Bd.
1,
5.567
167)"Das Menschengeschlecht ist eine Naturpflanze ( . . . )1
seine verschiedenen
5tämme und Nationen Naturprodukte." Ebenda,
5.569
.,

76
einer ständigen Entwicklung begriffen (169), welche die
Weltgeschichte ausmache(170).
Denn:
"Die Weltgeschichte ist( ... )nur die uns sichtbare Auf1Bsung
des problems,
wie( ... )die in der Menschheit begriffene Fülle und
MannigfaI1tgkeit der Kraft nach und nach zur Wirklichkeit
kommt. " (
) .
Hieraus erhellt auch, daß die Menschheit,
in einem bestimmten
Entwicklungsstadium der Weltgeschichte, eine Art Individualität
ist, welche das nur zum Teil ausdrückt, was Humboldt,
etwas im
sinne Hegels,
auch "Geist,,(172)
nennt.
In jeder Periode der
Geschichte drUckt sich also durch die ganze Menschheit eine
zeitlich-individualisierte Form des Geistes aus, wie das auch bei
den verschiedenen "Sub-Individualitäten" der Fall ist, welche die
Nationen und die ihnen angehörenden Individuen bilden(173).
Deshalb:
168)"oer Einzelne ist in Verhältnis zu seiner Nation nur in der Art Individuum,
wie ein Blatt im Verhältnis zum Baum,
ebenso kann die Stufenfolge der
Individualität weiter gehen,
von der Nation zum Völkerstamm,
von diesem zur
Rac9,
von ihr zum Menschengeschlecht. Nur innerhalb eines gewissen Kreises kann
dann der Untergeordnete vorwärts gehen,
zurUckschreiten,
oder anders Beyn.~
Ebenda, 5.569
169)·( ... )der Begriff des Menschengeschlechtes( •.. )stellt sich( •.• )als Ganzss
nur in der nie zu erreichenden Totalität aller nach und nach zur Wirklichkeit
kommenden Einzelheiten dar.· Ebenda, 5.575
170)"Oie Bewegung des Menschengeschlechtee, welche die Weltgeschichte zeigt,
entspringt,
wie alle Bewegungen in der Natur,
aus dem orang zu wirken und zu
zeugen, und den Hemmungen,
die dieser Drang erleidet,
und folgt Gesetzen,
die
nur nicht immer sichtbar sind.· Ebenda, 5.571f
l71)Ebenda, 5.570
172)·Oie Menschheit( ... ) kann nur in der, der Erscheinung nach, ganz
körperlichen Natur leben und weben, und trägt selbst einen Theil dieser Natur in
sich. Oer Geist, der diese beherrscht, überlebt· den Einzelnen •.. • Ebenda, 5.570f
173)"Oie Nation ist ... auch ein Individuum, und der Einzelne ein Individuum von
Individuum.· Ebenda, 5.573

n
"( ... )ist das Wichtigste in der Weltgeschichte die Beobachtung
dieses, sich forttragenden,
anders gesta!1~nden, aber auch selbst
manchmal wieder untergehenden Geistes."(
)
Hier tritt schon die Forderung hervor, die Humboldt ungefähr zehn
Jahre später in seiner schrift Über die Aufgabe des
Geschichtsschreibers (1821) an den Historiker stellte.
"Der Geschichtsschreiber, der dieses Namens würdig ist, muß
jede Begebenheit als Theil eines Ganzen, odel~~ .. )an jeder die
Form der Geschichte überhaupt darstellen." (
)
Denn:
"Alle lebendigen Kräfte, der Mensch wie die Pflanzen, die
Nationen wie das Individuum, das Menschengeschlecht wie die
einzelnen Völker,
ja selbst die Erzeugnisse des Geistes, sowie sie
auf einern,
in einer gewissen Folge fortgesetzten Wirken beruhen,
wie Literatur, Kunst, Sitten, die äußere Form der bürgerlichen
Gesellschaft, haben ~gschaffenheiten, Entwicklungen, Gesetze mit
einander gemein." (1
)
Der Historiker muß jene gemeinsamen Gesetze aufdecken, welche
über die besonderen Charakteristika hinaus jedes Ereignis mit dem
allgemeinen Fluß der Geschichte verbinden. Diese Gesetze, diese
Brücken, die jedes Einzelne mit dem Ganzen verbinden, nennt
Humboldt "Ideen".
"Jede menschliche Individualität,
ist eine in der Erscheinung
wurzelnde Idee( ... ) Nicht anders ist es mit der Individualität der
Nationen, und in vielen Theilen der Geschichte ist es sichtbarer
an ihnen als an den Einzelnen, da sich der Mensch in gewissen
Epochen, und Y91er gewissen Umständen gleichsam herdenweise
entwickelt."(
)
174)Ebenda, 5.571
175)W.von Humboldtl Ober die Aufgabe des Geschichtsschreibers.
In. Werke in tUnt
Bänden, op.cit.,
Bd.l, 5.590
176)Ebenda, 5.598
177)Ebenda, 5.603f

78
Der Sinn der Weltgeschichte kann nur die Verwirklichung der Idee
sein, welche die ganze Menschheit in verschiedenen Formen zum
Ausdruck zu bringen hat(178).
Da diese Idee, statt global und
uniform, vielmehr in der unerschöpflichen Vielfalt der Existenz
zur Erscheinung kommt,
soll der Historiker:
a)das Ereignis mit der größten Objektivität studieren;
b)mit dem "Ahndungsvermögen" die Idee begreifen, die es in
sich trägt(179).
Leopold von Ranke,
der bedeutendste Vertreter des deutschen
Historismus, meint auch nicht Anderes, wenn er schreibt:
"Um den wahren Historiker zu bilden,
sind meines Bedünkens
zwei Eigenschaften erforderlich: erstlich eine Teilnahme und
Freude an dem Einzelnen an und für ~ich ( ... ).
Indessen ist es
damit nicht getan:
es ist notwendig,
daß der Historiker sein Auge
für das Allgemeine offen habe.
Er wird es sich nicht vorher
ausdenken, wie der Philosoph; sondern während der Betrachtung des
Einzelnen wird sich ihm der Gan~ öeigen, den die Entwicklung der
Welt im allgemeinen genommen."( 8 )
Solche Forderungen zur Bildung des Historikers ergeben sich aus
folgender sehr hegelianischer Weltvorstellung bei Ranke:
"( ... )die Ideen,
durch welche menschliche Zustände begründet
werden,
enthalten das Göttliche und Ewige,
aus dem sie quellen,
doch niemals vollständig in sich.
Eine Zeitlang sind sie
wohltätig,
Leben gebend; neue Schöpfungen gehen unter ihrem Odem
hervor. Allein auf Erden kommt nichts zu einem reinen und
vollkommnen Dasein: darum ist auch nichts unsterblich. Wenn die
zeit erfüllt ist,
erheben sich aus dem Verfallenen Bestrebungen
von weiterreichendem geistigem Inhalt,
die es vollends
zersprengen.
Das sind die Geschicke Gottes in der Welt."
(181)
178)Ebenda, S.605
179)Ebenda, S.587/ 605
180)Leopold von Ranke: Geschtchte und Phtlosophte.
In: Geachichte und Politik.
AUBgewählte Auf8ät~e und Meiaterschriften. Hrsg. von Hans Hofmann,
Stuttgart
1942, S.135!
181)Zitiert nach Hans Joachim Störig, op.cit.
S.227

79
Die Historische Rechtsschule war also ein Produkt des aus der
Herderschen Auffassung der Geschichte entstandenen, deutschen
Historismus, der im Rahmen der spekulativen Philosophie Schellings
(182) und Hegels (183) besonders von den Romantikern als Reaktion
und Abwehr gegen die napoleonische Herrschaft vertreten wurde.
1.3.1.2
DIE BEDEUTUNG DER HISTORISCHEN RECHTS SCHULE pUR DIE
SCHWARZAPRIKANISCHEN STAATEN
Die Historische Rechtsschule ist für die schwarzafrikanischen
Völker im allgemeinen insofern bedeutend, als der Historismus, aus
dem sie entstanden ist, Legitimationshilfe beim Streben dieser
Völker nach völliger Selbständigkeit ist.
Herders Gedanke, jede Nation habe "ihren Mittelpunkt der
Glückseligkeit in sich", ist eine absolute Verneinung des
l82)Fr.Jul.Stahl (op.cit., 5.404) zeigt, wie schelling in seiner Philosophie
eine Auffassung des Rechts konzipiert, nach welcher der Staat wie ein Organismus
erscheint,
der die Harmonie zwischen der Notwendigkeit und der Freiheit
einerseits und andererseits die Identität des Allgemeinen und des Besonderen
verkörpere. Er zeigt auch (5.409), wie für Schelling der Staat schließlich
nichts anderes als Gott selbst in einem Moment seines Wesens sei.
l83)ES ist bekannt, daß in Hegels System der Staat eine der Erscheinungsformen
des absoluten Geistes ist, und daß er als solcher das höchste stadium von Gottes
Verkörperung in einer Nation ist, deren gemeinsamen Geist, Volksgeist, er im
Entwicklungsprozeß des weltgeistes ausdrückt.
"Der staat ist die Welt, die der Geist sich gemacht hat; er hat daher einen
bestimmten, an und für sich seienden Gang. Wie oft spricht man nicht von der
Weisheit Gottes in der Natur; man muß ja nicht glauben, daß die physische
Naturwelt ein Höheres sei als die Welt des Geistes, denn so hoch der Geist über
der Natur steht, so hoch steht der staat über dem physischen Leben. Man muß
daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren( .•. )" Hegel: Grundlinien der
Pbilosophie des Rechtes. In: Werke in zwanzig Bänden, op.cit., Bd.7, 5.434

80
sogenannten zivilisierungsauftrags der europäischen Nationen durch
die Kolonisation, indem er eine entschiedene Relativierung des
Begriffs von Kultur vornimmt. Beauftragt ist vielmehr jede Nation,
durch die Pflege ihrer Eigenheit zur Bildung der Humanität
beizutragen. Gerechtfertigt ist also das Streben der
schwarzafrikanischen Völker nach völliger Entkolonisierung ihres
Lebens. In bedenkenswerter Nähe zur Lehre des Historismus, nach
der die verschiedenen Epochen und - innerhalb derselben - die
verschiedenen Völker einen eigentümlichen sinn haben, welcher ihre
jeweilige Individualität, ihren jeweiligen Geist,
ihr kollektives
Bewußtsein ausmacht, und ihre Sprache, ihre Erkenntnisart, ihre
Kunst, ihre Religion, kurz ihren Lebenskodex bestimmt(184), sind
schwarzafrikanische Intellektuelle dabei, den kulturellen
Schwerpunkt ihrer Völker im Kontext der modernen Welt zu suchen.
Die Frage, ob das, was diese Völker als Eigenes haben, ob also
ihre Tradition ihnen diesen Schwerpunkt geben kann, ohne sie
abseits der Entwicklung der modernen Welt zu halten, erörtert
Bernard B.Some am Beispiel der Mossi. Für ihn bildeten die
Religionen im traditionalen Schwarzafrika solche kulturellen
Schwerpunkte:
liEn ce qui concerne l'Afrique traditiennelle, et cela d'une
maniere generale,
les aspirations, les pratiques religieuses sent
integrees aux systemes polt~~ques, les premieres constituent les
fondements des secondes."(
)
184)vgl.Fr.Jul.Stahl, op.cit., S.570f
185)" Was das traditionale Afrika betrifft, und dies gilt allgemein, aind die
religiösen Bestrebungen und Praktiken in die politischen Systeme integriert,
wobei die ersteren den letzteren zur Grundlage dienen." Bernard B.Som~, op.cit.,
5.311

81
Am Beispiel des Mossi-Volkes, dessen Religion geschildert wird
(186), stellt er die wichtigsten Kulturwerte heraus. Es seien:
starke moralische Autorität(187)
und soziale solidarität(188),
welche von jedem Individuum - auch von den Repräsentanten der
politischen Macht(189), die eigentlich von den Vorfahren und den
verehrten Gottheiten(190)
ausgeübt wird -
freiwillig akzeptiert
wird. Hier wird ein Volk dargestellt, dessen Leben tatsächlich ein
l86)Ebenda, S.3lSff
l87)"Le respect des moeurs,
des coutumes et des r~glements, ainsi que la parole
donn~e. ces valeurs Bont obtenues gräce aux craintes des sanctions qua peuvent
infliger aux d~linquants les ancetres et les divinit~s honorees."
(Der Respekt
vor den Sitten,
Bräuchen und Ordnungen wie vor dem gegebenen Wort,
all diese
Werte entstehen aus Angst vor den Strafen,
die von den Ahnen und den verehrten
Gottheiten gegen die Ubeltäter verhängt werden können.) Ebenda, S.318
l88)"Le courage civique,
la solidarite au sein des claeses d'lge, ou groupe
parental ou clanique,
l'hospitalit~, le don spontane et gratuit,
la protection
clue aux vieillards n~ceseiteux, aux infirmes, A 1a veuve et 1 l'orphelin,
{ ... )des principes moraux sacr~a, qui ont leure sources dans les croyances et
les pratiques religieuses traditionnelles."(Die Zivilcourage, die Solidarität
innerhalb der Altersklasse, der Familien-oder Stammeegemeinschaft, die
Gastfreundschaft,
die spontane und freie Gabe,
der den dürftigen Greisen, den
Behinderten, der Witwe und dem Waisen geschuldete Schutz,( ••• )all das sind
heilige Moralprinzipien, welche ihre Quelle in den traditionellen religiösen
Glaubensvorstellungen und Praktiken haben." Ebenda, S.3l8
189)"Dans les activit~s politico-aciministratives, le chef moaga se contorme aux
prescriptions des ancetres et aux volont~s des ditt~rentes divinit6s locales. Il
craint les sanctions de celles-ci et eherehe A les ~viter( ••. ) Les chefs
politiques mossi n'~taient donc pas tout-puissants, puisque leur puissance etait
Baumioe aux forces du monde surnaturel."
(In den politischen und
verwaltungsmäßigen Tätigkeiten tügt sich der Mossi-Häuptling den Vorschritten
der Ahnen und dem Willen der verschiedenen Lokalgottheiten.
Er türchtet deren
Strafen und sucht,
aie zu vermeiden( ... )Die politischen Mossi-Chefs waren also
nicht allmächtig, da ihre Macht den Krätten der übernatürlichen Welt unterworfen
war.) Ebenda,
S.326
190)"Le pouvoir mossi plonge donc ses racines protond6ment dans le passe
ancestral pour y puiser les ~nergies n~cessaires I
son existence et I
sa
fonction qui est essentiellement pacificatrice. En effet le monarque, dans ses
activit~s politiques,
a'etterce d'~tre en paix avec ses ancatres, avec ses
sujets et avec le monde surnaturel recennu et honor6 par l'ensemble des
populations qu'il commande."
(Die Mossi-Macht hat also ihre Wurzeln tiet in der
Ahnenvergangenheit und schöptt dort die zu ihrer Existenz und hauptsächlich
Frieden stiftenden Funktion nötigen Krätte.
In seinen politischen Tätigkeiten bemüht sich der Monarch in der Tat,
in
Frieden mit seinen Ahnen,
seinen untertanen und der von der Gesamtheit der ihm
unterworfenen Bevölkerung anerkannten und verehrten übernatürlichen Welt zu
sein.) Ebenda, S.328
~.....
~.
,

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):,.-.- »J


~
,

....
" ' "
' .
,""
. . .

82
Ganzes mit der Religion als Kern bildet. Als Quelle und Ziel jeder
Existenz innerhalb dieser Nation ist die Religion das bewegende
und regulierende Element des ganzen Lebens. Sie prägt die
Individualität des Mossi-Volkes, wie das auch bei jedem anderen
schwarzafrikanischen Volk der Fall ist.
wie Friedrich Karl von Savigny in seinem Projekt für ein
gemeinsames Recht in Deutschland (191), unterstreicht Som6 die
vorteile der auf der Religion beruhenden schwarzafrikanischen
Sozialordnung im Vergleich zur importierten europäischen, wo die
Religion eine solche Rolle nicht spielen kann.
"Toutes ces valeurs sont difficiles ~ r6aliser dans les
religions import6es, parce que ces dernieres sont individualistes,
les sanctions sont situ6es dans un autre monde et apres la mort
seulement. II (192)
Som6 ist offensichtlich nicht bekannt, daß die Autoren der
deutschen Romantik im allgemeinen und im besonderen Novalis in Die
Christenheit oder Europa (193), Franz Baader in Über das durch die
französische Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuen und
191) Vgl. Fr.Karl von Savigny, op.cit., S.48ff
192)"Alle diese Werte sind in den importierten Religionen schwer zu
verwirklichen, weil diese letzteren individualistisch sind I
die Strafen erfolgen
in einer anderen Welt und erst nach dem Tode." 8ernard 8.Som~, op.cit., S.318
193)NOvalis träumte von der religiösen Einheit des mittelalterlichen Europa:
"Es
waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wO eine
Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohntel ein großes
gemeinschaftliches Interesee verband die entlegensten Provinzen dieses weiten
geistlichen Reiches."
Nur in der Wiederherstellung jener religiösen Einheit sah Novalis die Lösung
der Probleme seiner Zeit:
"Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam
werden und sich wieder eine sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgränzen
bilden.
die alle nach dem Oberirdischen durstigen Seelen in ihrem Schoß aufnimmt
und gern Vermittlerin der alten und neuen Welt wird ••. Keiner wird dann mehr
protestieren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche
wird ächte Freiheit seyn, und alle nöthigen Reformen werden unter der Leitung
derselben,
als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden."
Novalis,
Die Christenheit oder Europa.
In: Schriften,
hrsg.
von Richard Samuel,
Darmstadt 1968, Die Zitate dort S.507 und S.524

innigeren Verbindung der Religion mit der Politik (194) und Adam
Heinrich Müller in Von der Notwendigkeit einer theologischen
Grundlage der gesamten staatswissenschaften und der
Staatswirtschaft insbesondere (195)
und Die innere
Staatshaushaltungj systematisch dargestellt auf theologischer
Grundlage (196)
der christlichen Religion genau denselben
politischen Wert zuschrieben, den Some den schwarzafrikanischen
Religionen beimißt. Für diese Autoren war die christliche Religion
die Kraft, welche die Einheit des staates und die soziale
Gerechtigkeit dank der versöhnenden Macht der Liebe, die sie
lehrt, garantieren könne.
194)"ES ist( ..• )absurd, das Problem der bürgerlichen Gesellschaft
(freie
Verbindung der Menschen)
ohne den Geist der Religion lösen zu wollen." Franz
Baader:
Ober das durch die Französische Revolution herbeigerufene Bedürfnis
einer neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik (1815).
In:
Franz Baaders Schriften zur Gesellschaftsphilosophie,
hrsg. von Johannes Sauter,
Jena 1925, S.59
195)"Solange die Religion der Ausgang und das Ende ist und in dem ihr
angemessenen Ansehen und Würde steht, vertragen sich beide, das Sein und das
Haben,
die Liebe zum Werke und das Streben nach dem Ertrage,
sehr wohl in
demselben Menschen:
solange verträgt sich die Selbstliebe, welche allerdings
nach Erweiterung der Eigentümlichkeit, also nach Haben strebt, und von Gott dazu
"
berufen ist, mit der Nächstenliebe, welche ihr gesamtes Sein dienend und opfernd
dem Gott vorgesetzten Herrn
dem gemeinen darbietet.
Der Mensch strebt nicht
l
einseitig nach dem Besitz, der ihm nur zugute kommt,
sondern er will haben, um
desto hingebender und freier zu dienen,
zu arbeiten und zu sein.
All dies,
solange er in Gott ist und den Besitz Gottes für das Höchste und einzig
Wesentliche achtet;
Bolange ihn,
wie es in einer wahren bürgerlichen Ordnung der
Fall ist,
jeder Dienst,
jede Kunst,
jedes Geschäft zu Gott zurückführt.
Alle Staatsverfassungen sind gut,
inwiefern sie auf dem Grundsatz beruhen,
daß der Mensch Haupt eines Staates und Glied eines Staates sei,
und inwiefern
die Religion die Gewährleistung dieses Grundsatzes, der wegen menschlicher
Gebrechlichkeit ohne Stütze einer göttlichen Autorität nicht bestehen kann,
übernommen hat." Adam Müller: Von der Notwendigkeit einer theologischen
Grundlage der gesamten Staatswissenschaften und der
Staatswirtschaft
insbesondere(1819).
In:
Nationalökonomische Schriften,
hrsg.
von Albert Joseph
Klein, Lörrach 1983,
die Zitate dort S.421 und S.425
196)"Das nun ist die erhabene Bestimmung der menschlichen Vernunft I
C..• )
ritterliche Unterwerfung unter das Heilige,
und dann die Versteigerung desselben
in Leben und Tod, mit allen Waffen des Geistes und des Leibes,
das ist ihre
Bestimmung." A.Müller: Die innere Staatshaushaltungj systematisch dargestellt
auf theologischer Grundlage(1820).
In: Nationalökonomische Schriften, op.cit.,
S.456f

Über die europäische Form der politischen Macht, die in den
jungen afrikanischen staaten immer noch gilt, schreibt Som~:
"Le pouvoir politique au sens europ~en du terme implique une
fonction coercitive. 11 apparait ainsi comme une structure
exterieure a celle des valeurs du groupe social qui le subit. Le
pouvoir politique compris dans ce sens peut etre dangereux pour la
societe globale dans le cas d'une opposition entre la culi~,e de
celle-ci et la conjoncture pOlitique ext~rieure a elle."l
)
Selbstverständlich findet Som~ es sehr bedauerlich, daB eine
solche Form der politischen Macht in Schwarzafrika eingeführt
worden ist. Denn nicht selten führt dies zu Konfliktsituationen
zwischen politischer Macht und Tradition bei den
schwarzafrikanischen Bevölkerungen( 198 ). Auf der anderen Seite
weiß er, daß die heutigen Mentalitäten unwiederbringlich nach
Wissenschaft und Technik orientiert sind(199). Aber er
konstatiert:
197)"Oie politische Macht im europäischen Sinne des Wortes impliziert eine
Zwangs funktion. Sie erscheint somit als eine äußerliche Struktur in bezug auf
die Werte der gesellschaftlichen Gruppe, die ihr unterworfen ist. In diesem
Sinne verstanden, kann die politische Macht für die ganze Gesellschaft
gefährlich werden, wenn ein Gegensatz zwischen deren Kultur und dem ihr
äußerlichen politischen Kontext besteht." Bernard B.Som6, op.cit., 5.327
198)"Les soci6t6s africaines sont entr6es en contact avec dee soci6t6s
diff6rentes dont les valeurs de civilisation ne eont pas superposables. Les
valeurs da civilisations politiquea,
Bocio-Aconomiques et culturelles des
Boci~t~B africaines Boot Boumisea ä des exigences d'ordre m~taphysiquei tandle
que celles des autres soci6t6s ob6issent Ades crit6res techno-scientifiques."
(Die afrikanischen Gesellschafoen sind mit anders gearteten Gesellschaften in
Berührung getreten, deren kulturelle Werte mit den ihrigen nicht übereinstimmen.
Die politischen,
sozialökonomischen und kulturellen Werte der afrikanischen
GeBel18ch~ften sind Forderungen metaphysischer Natur unterworfen, während
diejenigen der anderen Gesellschaften technisch-wissenschaftlichen Kriterien
gehorchen.) Ebenda, 5.332
199)"oe nos jours ces sources juridiques d'ordre religieux sont devenues
incompatibleB avec nos mentalit6s tourn6es irr6versiblement vers les techniques
et les sciences." (Heutzutage sind diese juristischen Quellen religiöser Natur
mit unseren unabänderlich den Wissenschaften und der Technik zugewandten
MentalitÄten unvereinbar.) Ebenda, 5.333

85
n( ..• )ces dernieres (les sciences et les techniques) Bö
peuvent pas constituer des sources juridiques viables. n (2
)
Deshalb schlägt er in jedem afrikanischen staat die Entwicklung
einer politischen Ideologie vor, welche die Charakteristika der
Religion im traditionalen Schwarz afrika haben soll. Sie hätte also
zu sein:
n( •• ) l)nationale, 2)susceptible de provoquer des emotions,
3)prise au serieu~6 4)partagee, 5)conceptualisable,
6)democratiquen (
1).
Bei dem Problem einer authentischen politischen Ideologie für
Schwarz afrika scheint es sich um das gleiche Problem zu handeln,
vor dem sich die Vertreter der Historischen Rechtsschule befanden,
und worüber Jacob Grimm sich während einer Tagung ihres
germanistischen zweiges 1846 in Frankfurt am Main folgendermaßen
äußerte:
"Das römische Recht, nachdem es lange bei uns eingewohnt und
unsere gesamte Rechtsanschauung eng mit ihm verwoben ist,
gewaltsam von uns auszuschreiben, scheint mir ein ungeheurer und
fast so unerträglicher Purismus, als wollte ein Engländer den
Gedanken durchführen, daß es noch möglich sei, die romanischen
Wörter aus dem Englischen B~ drängen und die Wörter deutschen
Ursprungs zu behalten. " (2
)
Das Verhältnis zwischen Europa und Schwarzafrika ist zwar weniger
alt und eng als das zwischen Rom und dem Deutschland, von dem
Jacob Grimm spricht. Das Problem aber bleibt im Grunde dasselbe:
200)"( ••. )diese let~teren (die Wieeenechaften und die TechniK) Können Keine
lebenefähigen Rechtequellen auemachen," Ebenda, 5.333
201)"( ... )1)national, 2) geeignet, empfunden zu werden, 3)ernet genommen zu
werden, 4)geteilt zu werden, 5) in konkrete Konzepte umeetzbar, 6)demoKratisch"
Ebenda, 5.333
202)Zitiert nach Hane Joachim 5törig, op.cit., 5.254

Die Unmöglichkeit, das Rad der zeit und der Geschichte
zurückzudrehen. seit der europäischen Kolonisation dreht sich das
Rad der Geschichte in Schwarzafrika in die Richtung eines
Zusammenwachsens westeuropäischer mitschwarzafrikanischen
Kulturen. Als die Historische Rechtsschule in Deutschland
entstand, war das Zusammenleben deutscher mit römischen
Kulturwerten ungefähr achtzehn Jahrhunderte alt. Zu einer
deutschen kulturellen Identität gehörte längst die Integration
römischer Werte. Das ist nicht der Fall bei den
schwarzafrikanischen Kulturen hinsichtlich der importierten
europäischen Werte. Die traditionellen schwarzafrikanischen Sitten
und Bräuche sind gefährdet und die west-europäischen sind dort
nicht eingebürgert. Schwarzafrikanische Juristen und Gesetzgeber
wissen heutzutage nicht genau, worauf sie sich in dieser Situation
stützen sollen. Die von Some geforderte politische
Nationalideologie ist ein Ausdruck dieser Ratlosigkeit der
;'.
:;.
schwarzafrikanischen Intelligenz vor der kulturellen Entwicklung
der Völker Schwarzafrikas. Sie solle "national"
sein, fordert er.
Eine solche Forderung setzt aber eine Homogeneität voraus, deren
sich kein heutiger schwarzafrikanischer staat rühmen kann. Es ist
also eine Illusion, daß eine solche Ideologie von allen Bürgern
wirklich "ernst genommen", "empfunden" und "geteilt" werde, wie es
in den Ethnien des traditionalen Schwarzafrika der Fall war. Ihre
Umsetzung, die unter diesen Umständen nur künstlich sein kann,
wird nicht garantieren, daß alle Bürger sich für ihr Land
engagieren. Da eine nationale Zusammengehörigkeit nur innerhalb
der traditionalen Ethnie wirklich erlebt werden kann, ist jeder
Versuch der Demokratie im Zentralstaate nur ein politischer Kampf
zwischen den verschiedenen Ethnien, der zur Vorherrschaft der

87
mächtigsten führt. An der Macht wäre nun der Mächtigste, und er
würde sie durch Gewalt zu behaupten suchen. Und an die Stelle des
magisch und mythisch begründeten N~mbus des großen Herrschers im
traditionalen schwarzafrika(203 l , tritt ein eher moderner
persönlichkeitskult. Jeder Bürger, der die militärische oder
ökonomische Voraussetzung dazu hat, kann sich der Macht
bemächtigen und diese, anstelle der Angst vor der Strafe der
Gottheiten und der verstorbenen Vorfahren im traditionalen Afrika,
durch Terror sichern.
Die politische Ideologie, welche Som~ fordert, und die in
manchen Staaten Schwarzafrikas unter der Bezeichnung
Authentizitätspolitik bereits praktiziert wird, kann nur im Rahmen
traditionaler Nationen und Ethnien funktionieren.
Deutschland, das die Historische Rechtsschule hervorbrachte,
hatte auf diesem Gebiet Vorteile, die in keinem modernen
schwarzafrikanischen Staat vorhanden sind. AUfgrund einer
stärkeren Zusammengehörigkeit der deutschen Ethnien war es in
Deutschland offensichtlich leichter, einen Zentral staat nach der
Lehre der Historischen Rechtsschule zu gründen, ohne der
Individualität der verschiedenen Ethnien zu schaden. Was aber
Schwarzafrika betrifft, so kann seine Chance nur in der Form des
Staatenbundes - des Bundes von traditionalen Ethnien - vorgestellt
werden, wenn man dort Staaten in einer Kontinuität zur
203)"( .•• )un monarque eet d'autant plue grand et celäbre que sa vie est entouree
d'une aur601e mythclo9äne magiquel
i1 ast alors consid6r6 comme un 8urhomme, un
6tre extraordinaire qui a quelque chose de divin." ( •.. ein Monarch ist desto
größer und berühmter,
je mehr sein Leben von einer magischen Aureole mythischen
Ursprungs umgeben ist; er wird dann als ein Obermensch, sin mit etwas Göttlichem
versehenes Wesen betrachtet." B.B.Some, op.cit., 5.325

88
afrikanischen Tradition gründen möchte, ohne sie abseits der
modernen Welt zu halten(204) .
1. 3.2
GOETHEZEIT UND TRADITIONALES SCHWARZAFRIKb
Im Anschluß an Senghor hat es in der jungen
schwarz afrikanischen Germanistik Versuche gegeben, eine besondere
Nähe zwischen der deutschen Kultur, insbesondere der Goethezeit,
und den schwarzafrikanischen Kulturen nachzuweisen.
1976 veröffentlichte der senegalesische Germanist Amadou Booker
Washington Sadji im Jahrbuch der Philosophischen Fakultät der
Universität Dakar einen Essay unter dem Titel Negritude et
Germanite. Mit diesem Titel knüpfte Sadji an die Formel an, mit
der sein Landsmann und seinerzeitiger staatspräsident L.S.senghor
die Sympathie schwarz afrikanischer Intellektueller für die
deutsche Kultur zum Ausdruck gebracht hatte(205). In dem Essay
wollte Sadji offensichtlich die von Leo Frobenius formulierte, von
Senghor und den Negritude-Theoretikern begeistert übernommene
These einer Verwandtschaft zwischen deutscher und
schwarzafrikanischer "Seele" mit der Kompetenz des Germanisten
unterstützen.
204)Der Staatenbund ist übrigens die Staatsform, in der Novalis und Adam Müller
sich die Beziehungen der europäischen Nationen zueinander innerhalb einer wie im
Mittelalter wieder geeinten Christenheit vorstellten. vgl.
dazu A.Müller in der
lO.Vorlesung des 2.Buches über die Elemente der Staatskunst
(l808-l809).
Bsrlin
l809,
reprint wien,
Leipzig 1922.
lO.Vorlesung (Vom Völkerrecht oder von der
Christsnheit, gehalten sm 20.Dezember l808)
S.l92-2l0
20S)L.s,senghor: N~grituds et germanit6 1 (1961). In: Libert6 3, Ed. du Seuil,
Paris 1977, S.11-17

B9
Sadjis Hypothese ist, daß das größere Interesse und Verständnis
deutscher forscher für Schwarzafrika, besonders da die offiziellen
Beziehungen Deutschlands zu diesem Kontinent weitaus geringer als
diejenigen frankreichs oder Englands gewesen sind, sich durch jene
von frobenius behauptete Seelenverwandtschaft zwischen Deutschen
und Schwarzafrikanern erklären müsse(206).
Durch Beispiele aus der
deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Goethezeit versucht er
dann das zu belegen, was er die deutsche "Sehnsucht nach
Afrika,,(20')
nennt.
Spuren dieser Sehnsucht nach Afrika sieht Sadji schon im
Mittelalter bei Wolfram von Eschenbach.
In der Zazamank-Episode
seines Parzival, wo Gachmuret,
Parzivals vater,
sich in einem Land
Zazamank aufhält, dessen Bewohner, obwohl sie wie i~re Königin
Belakone "schwarz wie die Nacht"(208)
sind,
in sitten und Bräuchen
kaum von den damaligen vornehmsten Europäern zu unterscheiden sind
und sogar als bewundernswert dargestellt werden,
sieht sadji den
Ausdruck der Sehnsucht des Autors nach Afrika(209).
Er hält es für
eine der größten und schönsten Huldigungen an die "Negerheit"
in
206)Amadou Booker Washington Sadji: Negritude et germanite.
In: ~nnales de la
Facult6 des Lettree et Sciences Humainee de l'Univereit6 de Dakar. No.6
(1976)
S.211-225
-~le deutsche Übersetzung des Titels zieht Sadji "Negerheit und Deutschheit" vor
(S.212).
207)~.B.W.sadji, op.cit., s.217
208)Wolfram von Eschenbach: Parzival aus dem Mittelhochdeutschen zum ersten Mals
übersetzt von San Marte, Magdburg 1836, 1.Buch,
3.Teil, 4.strophe
209) Die Zazamank-Episode habe ich selbst dadurch erklärt, daß das Bild des
Schwarzen, das in der Literatur der griechischen ~ntike idealisiert wurde,
im
mittelalterlichen Europa immer noch positiv war. Hierzu siehe Michel Gneba
Kokora:
L'image de l'Afrigue dans les lettres allemandes de 1750 ! 1884.
Dissertation vorgelsgt und verteidigt an der Universität Straßburg 2, Oktober
1974, 5.251-261
-Da aber die Zazamank-Episode im Parzival von Chretien da Troyes fehlt,
von dem
eich Wolfram hatte inspieren lassen, wäre es nicht ohne wissenschaftliches
Interesse,
diesen Unterschied zwischen den beiden Dichtungen zu ergründen.

90
der europäischen Literatur vor und nach Wolfram von
Eschenbach(2l0) , daß der Dichter sich über die schönheit und die
Gesittung der schwarzen Königin mit folgenden Worten ausspricht:
"Die schwarze Frau war ihm lieber als sein Leben. Wohl war nie
ein Weib schöner von Gestalt; aber ihr Herz vergaß gleichwohl nie,
daß da~ feste Gefolge einer Frau ein rechter, reiner Weibessinn
ist."( 1 )
Sadji scheint es dabei unwichtig gewesen zu sein, daß die von
ihm unterstellte Sehnsucht Wolframs nach Afrika auf einer fast
totalen Unkenntnis der schwarzen Rasse beruht, da Feirefiß, der
aus der Verbindung zwischen Gachmuret und der schwarzen Königin
Belakone hervorgegangene Sohn,
eine schwarz-weiß gefleckte Haut
hat(212) .
Eine Rehabilitierung des einfühlenden Menschen und deshalb
einen Beweis für die Verwandtschaft zwischen Deutschen und
Schwarzafrikanern sieht Sadji sodann in der größeren Bedeutung,
die die deutschen Philosophen und Schriftsteller dem Begriff
"Naturmensch"
im Gegensatz zu dem des "edlen Wilden" beigemessen
210) "On trouvera difficLlement,
avant et apr~s lui, un 6crivain de race blanche
pour chanter la femme noire avec autant d'enthousiasme et de sinc6rit6"
(Man
wird schwer vor und nach ihm einen 5chriftsstel1er weißer Rasse finden,
der die
schwarze Frau mit so großer Begeisterung und ~ufrichtigkeit besungen hätte)
~.B.W.5adji, op.cit., 5.216
211)Wolfram von Eschenbach, op.cit.,
1.Buch,
4.Teil, 3.Strophe
212)Ebenda, 9.Buch, 93.Teil,
7.Strophe.
-Sadji vernachläßigt auch,
daß die sogenannte deutsche Sehnsucht nach ~frika
gerade in der Zeit(im 17.,
18. und 19. Jahrhundert)
aufhört,
da die Unkenntnis
über Schwarzafrika in Deutschland dank Reiseberichten meistens aus anderen
europäischen Ländern
(besonders aus England,
Frankreich und Holland) nicht mehr
so total war.

91
haben(213). Diese Wertschätzung des Naturmenschen hält er sogar
für das Hauptcharakteristikum der deutschen KUltur(214).
Der Tatsache gegenüber,
daß die französischen Kolonialherren
die mündlich überlieferten dichterischen Schöpfungen der von ihnen
kolonisierten Schwarzafrikaner als Dichtung nicht hatten
anerkennen wollen, hebt Sadji die Rolle hervor, welche Autoren der
Goethezeit,
besonders Herder,
bei der damaligen Rehabilitierung
oraler Literatur in Deutschland gespielt haben:
"L'implratif du retour aux sources fäcondantes des traditions
orales du "Volkslied"
de la chanson populaire,
apparaissait A
Herder d'autant plus catägorique que la "Seele",
le "soul", comme
diront plus tard les nägro-americains,
l'äme de chaque peuple, de
chaque ethnie,
avait, pour lui,
sa quintessence dans cette forme
supärieure de cUlture.,,(215)
sich auf den von Herder(216) und Wilhelm von Humboldt(217)
entdeckten und behaupteten engen zusammenhang zwischen der sprache
213)A.B.w.sadji,
op.cit.,
S.217
214)"( ... )cette germanit6 qui frappe de discr6dit la raison discursive pour
r~clarner le retour A la raison intuitive, A la "Einfühlung" originelle des
peuples germaniques( ... )"
( . . . diese Deutschheit, welche die diskursive Vernunft
verwirft und die Rückkehr zur intuitiven Vernunft,
zur ursprünglichen
"Einfühlung" der germanischen Völker fordert •.. ) A.B.W.Sadji,
op.cit.,
S.217
21S}"Der Imperatif der Rückkehr <u den befruchtenden Quellen der oralen
Tradition des "Volkslieds~ erschien Herder umso kategorischer, als die Seele,
die "Soul", wie die Schwarzamerikaner später sagen werden,
die Seele jedes
Volks,
jeder Ethnie,
für ihn ihre Quintessenz in jener Form höherer Kultur
hatte." A.B.W.Sadji,
op.cit"
S.216
215)"Dans son ~crit intitu16 "Ober den Ursprung der Sprache" publi6 en 1770
( .•. ), Herder consid~rait la langue cOl1llT1e "Ausdruck der Seele"
( ... ) qui permet
de r~aliser l'unit6 entre "Mythos, Dichtung und Ursprache .....
(ln seiner 1770
veröffentlichten Schrift betitelt "Über den Ursprung der Sprache" betrachtet
Herder die Sprache als Ausdruck der Seele, welcher die Verwirklichung der
Einheit des Mythos,
der Dichtung und der Ursprache ermögliche ••. ) Ebenda,
S.220
217)"Wilhelm von Humboldt, que l'on consid~re, A juste titre, comme le fondateur
de la linguistique g~n~rale, nous dit( ..• )dans son trait6 intitu16 "Ober die
Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige
Entwicklung des Menschengeschlechts"
(Wilhelm von Humboldt, der mit Recht als
der Gründer der Allgemeinen Sprachwissenschaft betrachtet wird,
sagt uns( ... )in
seiner Abhandlung betitelt "Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus
und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts") I

92
und dem Wesen eines Volks berufend, glaubt Sadji die
Verwandtschaft zwischen deutscher und schwarzafrikanischer "Seele"
durch die Leichtigkeit untermauern zu können, mit der
Schwarzafrikaner Deutsch im allgemeinen und besonders dessen
Aussprache lernen(218). In diesem Zusammenhang nimmt er für seine
Beweisführung phonologische Ähnlichkeiten(219) und semantische
Annäherungen(220)
zwischen der deutschen und der Wolof-Sprache in
Anspruch.
Es ist allgemein bekannt, daß in allen schwarzafrikanischen
Kulturen der Musik eine sehr große Bedeutung zukommt. Bekannt ist
auch, daß die Musik in der gesamten an Rousseau anknüpfenden
Sensibilitätsbewegung und insbesondere bei den deutschen
Romantikern als Gipfel aller Künste galt, während sie bei dem
Aufklärer Immanuel Kant auf der untersten Stufe stand. Da die
Tendenz zum "Irrationalismus" in Sadjis Augen das Authentisch-
Deutsche ist, sieht er nun in dieser Wichtigkeit der Musik auf
beiden seiten den überzeugendsten Beweis jener
Seelenverwandtschaft zwischen Deutschen und
schwarzafrikanern(221). Die besondere Empfänglichkeit der
'Die Geisteseigentümlichkeit und die Sprachgestaltung einee Volkes stehen in
solcher Innigkeit der Verechmel~un9 ineinander,
daß, wenn die eine gegeben wäre,
die andere mUsste vollständig aus ihr abgeleitet werden kannen. I" Ebenda, 5.222
218)Ebenda, S.220f
219)Ebenda, S.221f
220)
"Les nombreuses analogies phonologiques qui lient l'allemand par16 avec des
langues n~gro-africaines telles que le woloff ... ne sauraient Atre minimis~es•.. "
(Die .ahlreichen phonologischen
Analogien,
die die deutsche Sprache mit
8chwarzafrikanischen Sprachen wie dem Wolof verbinden,
Bellten nicht
geringgeschät.t werden .•. ) Ebenda,
S.222
221)"Une autre expression eublime de l'affinit6 entre l'&me allemande et l'&me
negre( ..• ) c'est,
~videmment, le rOle primordial que joue la musique da ne leurs
culturee respectives."
(Ein anderer sublimer Ausdruck der Verwandtschaft
.wischen deutscher und Bchwar.afrikanischer Seele ist( .•. ) eelbstverständlich
die wesentliche Rolle, welche die Musik in den jeweiligen Kulturen spielt.)
Ebenda, S. 22 3
IIiIiI
IiII
_
;'tiil'iU~~>lIa

93
Schwarzafrikaner für die Musik Beethovens, den er für den
deutschesten aller deutschen Musiker hält, sei dadurch zu
erklären(222) .
Die Seelenverwandtschaft zwischen den Deutschen und den
Schwarz afrikanern zeige sich auch im Universum der deutschen
Romantiker, was sich jedem echten Schwarz afrikaner und guten
Kenner der schwarzafrikanischen Kulturen mit besonderer Evidenz
bei der Lektüre von Novalis' Roman Heinrich von Ofterdingen
offenbare(223) .
Zu derselben zeit habe ich unabhängig von Sadji, dessen Essay
mir damals noch nicht bekannt war, ähnliche Ansichten
vertreten(224). Nach einem im Jahre 1978 gehaltenen Vortrag über
das Thema Ein Beispiel der Beziehungen zwischen westeuropäischer
und schwarzafrikanischer Literatur, in dem ich das besondere
Interesse und die große Empfänglichkeit deutscher Intellektueller
für die schwarzafrikanische mündlich überlieferte Dichtung
hervorgehoben (225) und eine auffällige Ähnlichkeit zwischen dem
Universum der deutschen Romantiker und der schwarzafrikanischen
222)"Comment s'~tonner alors que Beethoven.( •.. ) soit le musicien europ~en le
plus appr~ci~ et le mieux compris dans les milieux n~gres?" (wae Wunder nun, daß
Beethoven ( ... ) der am meisten geschätzte und der am besten verstandene
europäische Musiker bei den Negern ist?) Ebenda, S.224
223)Ebenda, S.223
224)Oiese Schrift Sadjis war mir bis 1980 unbekannt.
225)"Mit dieser langen Tradition der Achtung vor der kollektiven mündlichen
Kreation bei den Denkern deutschsprachiger Kultur kann es nicht verwundern, daß
diese unter den ersten ~n Westeuropa waren, die die Botschaft der
schwarzafrikanischen Kultur begriffen, eine Kultur, die vor allem im mündlichen
Ausdruck und in der Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben beruht." M.Gneba
Kokora:
Ein Beispiel der Beziehungen zwischen westeuropäischer und
Bchwarzafrikanischer Literatur.
In:Dialog Weteuropa-Schwarzafrika.
Inventar und
Analyse der gegenseitigen Beziehungen. Wien-München-Zürich-Innsbruck 1979, 5.158

94
Kosmogonie skizziert(226) hatte, versuchte ich 1979 in einem
anderen vortrag über das Thema Une äme negro-africaine face au
message du romantisme allemand, von meiner eigenen Erfahrung
ausgehend, Analogien zwischen dem Universum der deutschen Romantik
und der schwarzafrikanischen Weltanschauung etwas ausführlicher
darzulegen.
Nicht daß ich damals nicht gewußt hätte, daß diese Bewegung in
der deutschen Kultur nicht außerhalb ihrer zeit betrachtet werden
könne, daß also auch bei manchen deutschen Romantikern das im
Europa ihrer Zeit herrschende negative Bild des Schwarz afrikaners
nachzuweisen ist; daß z.B. für Schelling die Menschheit in zwei
Gruppen zu teilen sei, und zwar in eine Gruppe, die sich über ihre
ursprüngliche Stufe hinaus erheben könne, und die aus Nachkommen
der Errichter des Turms zu Babel bestehe, und eine zweite Gruppe,
diejenige der Neger, die an die Tierwelt grenze(227); daß Richard
Wagner, der letzte Vertreter der deutschen Romantik und enger
Freund des französischen Rassentheoretikers Gobineau,
in seiner
Schrift Kunst und Klima den Schwarzafrikanern jede echte
künstlerische Begabung abgesprochen habe(228).
226)"Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Romantiker, wenn eie Schwarzafrika so
wie Frobeniua gekannt hätten, es mit einer noch nie dageweeenen Begeisterung
begrüßt hätten. Außer dem Interesse, das sie für seine mündliche Literatur
gehabt hätten,
wären sie ebenso von der echwarzafrikanischen Weltanschauung tief
ergriffen worden." Ebenda,
5.159
227)Friedrich Wilhelm von 5chelling: Philosophische Einleitung in die
Philosophie der Mythologie.
2.Buch,
21.vorlesung. Münchener Jubiläumsdruck,
5.
Hauptband(1821-1854), München 1965,
5.672-697
228)Richard Wagner: Kunst und Xlima(1850).
In:
Gesammelte Schriften und
Dichtungen. Leipzig 1897, 5.207-221
1:"'~'..
~. •:.
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.2


95
Es war mir auch nicht mehr unbekannt, daß Ideen der deutschen
Romantiker bedauerliche Wirkungen im politischen Bereiche ausgeübt
haben(229).
All diese Schattenseiten der deutschen Romantik,
so habe ich
gleichwohl damals bekundet, haben den Reiz jedoch nicht zu
schwächen vermocht, den diese Bewegung auf mich als
Schwarzafrikaner übe (230). Die Einstellung der deutschen
Romantiker der mündlichen Volksdichtung gegenüber habe mich von
dem Komplex des Kolonisierten geheilt,
den mir die Kolonialschule
suggeriert hatte,
nach welcher nur schriftliche Dichtung als
solche zu betrachten sei(231).
229)"Il eBt toutefoiB regrettabla qua leurB arguments aient in6vitablement Bervi
de ba Be ä des th60rieB qui ont menac6 la vie de toute l'humanit6."
(EB iBt
jedoch bedauerlich,
daß ihre Argumente manchen Theorien unvermeidlich zur
Grundlage gedient haben, welche daB Leben der ganzen MenBchheit bedroht haben.)
M.Gneba Kokora, op.cit.,
5.131
230)"Mais avant cela taut un charme se dägage et s'exercice Bur mon ame nägro-
africaine."(Vor allem aber übt das einen großen Reiz auf meine
schwarzafrikanische Seele aus)

Ebenda,
5.132
-Auch heute empfinde ich immer noch dieBen Reiz der deutBchen Romantik.
231)"cetts r6v61ation a 6t6 pour moi un puiBBant levier qui m'a retir6 de mon
gouffre de complexsB n6B du fait que n'ayant paB d'6criturs,
je nS pouvaiB paB
croire qua nos chansons populaires, dont je connaissais pas les auteurs,
~taient
da 1a poäsie,
m~me si ellee n·~taient pas de 1a littärature AU sens
6tymologique.
Quelle conBolation pour moi que de d6couvrir qus "la chan Bon doit
atrs 6cout6e et non vue; ecout6e de l'oreille de l'!me,
qui ne fait paB que
compter, meeurer et peeer des syllabes 19016eo, mais qui se pr~te l
1a räeonance
et baigne en elle."
Ce n'ätait plus seulement avec plaieir, mais aussi avec
respect que j'ai d~sormais chant~ ou ~coutä ces chansons de nous avec lesquelles
leB jeuneB fille. h61aBI ne bercent pluB COmme il y a une vingtaine d'ann6eB le
village aBBoupi au clair ds lune."
(DieBe Entdeckung iBt mir ein mächtigsr
Hebel gewesen,
der mich aus meinem Abgrund von Minderwertigkeitsgefühl gezogen
hat, welches darin
bestand,
daß ich nicht glauben kennte,
daß unsere
Volkslieder,
deren Verfasser ich nicht kannte,
Dichtung waren,
auch wenn sie
keine Literatur im etymologischen sinne des Wortes waren,
da wir doch keine
Schrift besitzen. Welcher Trost war es mir,
als ich entdeckte, daß "das Lied
gehört,
nicht gesehen w~rden muß, gehört mit dem ohr der Seele, das nicht
einzelne Silben allein zählt und mißt und wäget,
Bondsrn auf Fortklang horcht
und in ihm fortBchwimmt"
(J.G.Herder). Nicht mehr mit Freude nur,
Bondern auch
mLt Respekt sang oder hörte ich nun diese Lieder unserer Heimat, mit denen die
Mädchen leider nicht mehr wie noch vor zwanzig Jahren das im Mondschein ruhende

Dort wiegen." Ebenda, 5.133

96
In diesem Vortrag habe ich mitgeteilt, wie der Schellingsche
Begriff "Weltseele" mich zur ihm verwandten schwarzafrikanischen
Vorstellung von Lebenskraft zurückgeführt und dem Glauben an
verschiedene isolierte Naturkräfte und den damit verbundenen, mir
bislang dunklen Ritualen einen gemeinsamen Bezug verliehen habe.
Daß die Verstorbenen in Schwarzafrika nie tot sind, habe damit für
mich auch seine Erklärung gefunden: Sie leben in anderer Form in
der Weltseele, in der Volksseele, weiter (232). Daß sie von ihren
Freunden und Verwandten meist im Traum gesehen werden, habe für
mich seine Erklärung in der Schubertschen Auffassung des Traums
gefunden(233) ,
Friedrich Schleiermachers AUffassung der Religion, so schrieb
ich damals, habe mich von meinem Komplex des Fetischisten und
Animisten geheilt(234). Da Schleiermachers Definition der Religion
auf dem Glauben an eine Weltseele, ein der schwarzafrikanischen
Vorstellung der Lebenskraft analoger Begriff, beruht, habe sie mir
Zuversicht in meiner schwarzafrikanischen engen Bindung an die
mich umgebende Natur gegeben (235),
232)Ebenda, S.134
233)"Im Traume( ... )echeint die Seele eine ganz andre Sprache zu eprechen ale
gewöhnlich( .•. )so lange die Seele dieee Sprache redet, folgen ihre Ideen einem
andern Gesetz der Association als gewöhnlich." Gotthilf Heinrich Schubert. Die
Symbolik des Traumes. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1814. Heidelberg 1968,
S.l
234)"En d~finissant la religion comme 6tant "le eens et le goUt pour l'infini",
Schleiermacher m'a gu6ri de mon complexe de f6tichiete ou d'animiste, termes
charg6e de r6probation dans le monde chr6tien."
( Indem er die Religion als
"Sinn und Geschmack fürs Unendliche" definiert, hat mich Schleiermacher von
meinem Komplex des Fetischisten und Animisten, in der christlichen Welt
verachtungevolle Begriffe, geheilt." M.Gneba Kokora. Une äme n6gro-
africaine .•. op.cit., S.135
235)" Partageant avec les romantiques la croyance en l'lme universelle, qui a
6t6, qui est et qui sera, qui est donc l'infini,
je n'ai plus honte de savoir
que la rivi~re qui coule non loin de mon village soit consid6ree comme etant la
source de notre vie ( ... )"
( ... mit den deutschen Romantikern den Glauben an die
Weltseele teilend, welche war,
ist und sein wird, also das Unendliche ist,

97
"Das Universum ist in einer ununterbrochenen T~tigkeit und
offenbart sich uns jeden Augenblick( ... )und so alles Einzelne als
einen Teil des Ganzen, alles Beschr~nkte als eine Darstellung des
Unendlichen hinnehmen,
das ist Religion( ... ) Alle Begebenheiten in
der Welt als ~gndlungen eines Gottes vorstellen, das ist
Religion."
(2
)
Das lesend, habe ich auch verstanden, weshalb das Christentum ohne
große Schwierigkeit in Schwarz afrika habe eingeführt werden
können:
"Nous l'avons sans doute considere,
schreibt er hierzu,
conune
etant un autre mode -et non l'unique- d'entrer en communication
avec l'infini,
non plus ä travers un objet ma~~ par la simple
parole, elle-meme enceinte de la "Weltseele"(
7).
Durch die Entdeckung des romantischen Glaubens an eine
Weltseele sei mir auch verständlicher geworden, daß Sicherheit und
Friede in der schwarzafrikanischen Dorf- und Stanunesgemeinschaft
ohne Polizei stets garantiert gewesen sind. Überall,
so habe ich
das damals ausgedrückt, habe man nämlich den heiligen Schauer
gefühlt, den die allgegenwärtige und allwissende Weltseele durch
Vermittlung der Volksseele einflöße. Eben von einer solchen
Staatssicherheit träumten noch einmal die deutschen Romantiker,
besonders Novalis(238)
und Franz Baader(239).
schäme ich mich nicht mehr,
daß der neben meinem Dorf fließende Fluß a18 Quelle
unseres Lebens betrachtet wird( ..• ) Ebenda, 5.135
236) Friedrich 5chleiermacher,
Zitiert nach Hans-Jürgen 5chmitt (Hrsg):
Romantik.
Stuttgart 1974, Bd.l,
S.70f
237)"Wir haben es ohne Zweifel als eine andere Art -
nicht die einzige -
betrachtet, mit dem Unendlichen zu kommunizieren,
diesmal nicht mehr durch einen
Gegenstand,
sondern durch das bloße Wort, was auch von Weltseele erfüllt ist.~
H.Gneba Kokoral
Une !roe negro-africaine ... op.cit.,
5.135
238)5iehe Fußnote 46
239)Siehe Fußnote 47

98
Am Ende meiner damaligen Ausführungen habe ich das deutsch-
romantische Konzept der Weltseele mit dem neuplatonischen Prinzip
vom Einen und mit der orientalischen Lehre von Atman-Brahman in
Beziehung gesetzt.
"En cours d'analyse, grand cas a ete fait de la Weltseele qui
soustend toute la vie, et qui rappelle la notion neo-platonicienne
de l'unique, premiere hypostase d'ou rayonne ce qui constitue
l'univers, et qui, dans la pensee orientale, se retrouve sous le
principe de l'Atman, souffle qui anime l'univers tout
entier.,,(240)
Diese Universalität des Prinzips einer Weltseele und ihm
verwandter Vorstellungen läßt, so scheint mir heute wichtig
anzumerken, erkennen, wie das diesbezüglich in der Tat miteinander
verwandte deutsch-romantische, schwarzafrikanische und
orientalische Denken auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden
kann. Es handelt sich nämlich hier um Formen vorneuzeitlichen
Denkens, welches in der alten Welt Afrikas, Asiens und Europas
gleiche Züge aufweist.
Der europäische und insbesondere deutsche Kult des
Naturmenschen ist als Symptom einer in Kontinuität zum
vorneuzeitlichen Denken in Europa und besonders in der deutschen
Literatur des 17., 18. und 19. Jahrhunderts parallel zum
Rationalismus sich entwickelnden Bewegung zu verstehen. Wird sie
nun in Anlehnung an Leo Frobenius als Hauptcharakteristikum der
deutschen Kultur postuliert, so scheint evident, daß hieraus eine
Verwandtschaft zwischen deutscher und schwarzafrikanischer Kultur
zu folgern sei, besonders wenn man sich auf afrikanischer Seite
240)"Bei der ~nalyse ise mie Nachdruck von Weltseele die Rede gswesen, welche
dem ganzen Leben zugrunde liegt, und die an den neuplatonischen Begriffe des
Einen, der ersten Hypostase erinnert, wovon alles, was das Universum ausmacht,
ausgeht, und die eich im orientalischen Denken als Prinzip des Atman findet,

jenes göttlichen Hauchs,
der die ganze Welt belebt." H.Gn6ba Kokora, op.cit.,
5.135-136

99
auf das vorkoloniale, traditionale Schwarzafrika bezieht. Die
Analogien scheinen umso unabweisbarer zu sein, wenn man sich
vergegenwärtigt, daß das Neuzeitliche in Schwarzafrika, wie in
vielen außereuropäischen Ländern, in der Form der Fremdherrschaft
und der Unterjochung eingeführt worden ist. Eine Affinität
zwischen der deutschen Intelligenz der Goethezeit und der
frankophonen schwarzafrikanischen Intelligenz rührt wohl zunächst
daher, daß beide Seiten sich derselben französischen kulturellen
Hegemonie zu erwehren hatten, welcher sie ihr vorneuzeitliches
Denken entgegenstellten, das sich überall durch die enge
natürliche Verbindung zwischen Mensch und Natur kennzeichnet.
Auffällig in diesem Zusammenhang ist aber nun, daß Leo
Frobenius' Lehre einer Wesensverwandtschaft zwischen deutscher und
schwarzafrikanischer Kultur bei den schwarzafrikanischen
Intellektuellen aus ehemaligen deutschen Kolonien keinen Anklang
gefunden hat. Die Realität der deutschen Kolonialherrschaft hatte
ihnen Erfahrungen vermittelt und Erinnerungen hinterlassen, welche
dieser Lehre allzusehr widersprachen(241).
241)Oie Ausnahme bildet hier der Togolese J.
5avi Oe Tove mit seinem Aufsatz Aus
einstigen Kolonialherren wurden Freunde
(in:
Sind die Deutschen wirklich so?
Hrsg.
von Hermann Ziock,
5tuttgart 1965,
5.327-331).
Darin erklärt er die
freundschaftlichen Beziehungen der BRD zu seinem nun unabhängig geworden sn Land
dadurch,
daß die Deutschen in Togo (1884-1918) ein Kolonialmodell verwirklicht
hätten(5.328)
und daß diese Haltung in der deutschen Kultur der Goethezeit
gründe (5.327f).
-"Missionare und Kaufleute lebten mit den Afrikanern bereits in gutem
Einvernehmen"
(5.328)
-"Während seiner Kolonisationstätigkeit stand der Deutsche bei den Afrikanern in
hohem Ansehen wegen seiner Ordnungsliebe,
seiner Disziplin und seiner
Gründlichkeit."
(5.328)

100
2
SENGHOR UND GOETHE
Senghors Goethe-Essay von 1949, die Beschäftigung des
Mitbegründers jener Negritude-Bewegung zur Behauptung und
Emanzipation schwarzafrikanischer Rasse und Kultur mit Goethe,
könnte zu der Annahme verleiten, der berühmte Repräsentant des
Weimarer Humanitätsideals sei sicherlich auch Schwarzafrika und
seinen Bewohnern besonders freundlich gesinnt gewesen. Bevor
Senghors Verständnis von Goethes Leben und Werk erörtert wird, ist
es deshalb nicht ohne Interesse, den Flatz Schwarzafrikas und
seiner Bewohner in Goethes Werk und Denken zu bestimmen.
2.1
GOETHE UND SCHWARZAFRIJSA
Goethe ist zwar sehr wenig jenseits der deutschen Grenzen
und nie außerhalb Europas gewesen; aber dies war zu seiner Zeit
kein Handicap, um sich über ferne Länder und Kontinente zu äußern.
Dem geistigen Emigranten Goethe(242) ist Wahlheimat zwar nicht
Schwarzafrika, sondern neben dem alten Griechenland die
orientalische Welt gewesen. Aber Schwarzafrika fällt nicht total
aus seiner Welt. Er wäre sonst kein Kind seiner Zeit gewesen,
einer Zeit, wo nichts Menschliches dem Menschen fremd sein durfte.
242)Hier wird auf Adolf Huschgs Buch Goethe als Emigrant angespielt.
tlf
... {rp;

2.1.1
DIE SCHWARZAFRIKANER AUF GOETHES WERTSKALA
Goethes Haltung Schwarzafrika und der schwarzen Rasse gegenüber
kann selbstverständlich nicht aUßerhalb seiner zeit betrachtet
2.1.1.1
DIE SCHWARZAFRIKANER AUF DER EUROPÄISCHEN WERTSKALA IM
18. UND 19. JAHRHUNDERT
seit der Renaissance hat sich der Wissenshorizont der Europäer
so erweitert, daß man sich in Europa im 18. und 19. Jahrhundert
vor keiner Frage mehr scheute und keiner Antwort mehr auswich. Was
den Menschen betraft fragte man nach seinem Ursprung, dem
Unterschied zwischen ihm und den Tieren, der Ursache der
,
Varietäten innerhalb der menschlichen Gattung, nach dem
Unterschied zwischen zivilisierten und wilden Völkern.
Bis zu den großen Entdeckungsreisen hatten sich die Europäer
mit der biblischen Erklärung vom Ursprung des Menschen
zUfriedengegeben. Die Entdeckung mehrerer Menschenrassen hatte nun
diese These der Abstammung des ganzen Menschengeschlechtes von
einem einzigen Menschenpaar entschieden ins Wanken gebracht. Breit
243)
Zur Frage, welchen Platz die echwarze RaBBe auf der WertBkala der Europäer
deB 18. und 19.JahrhundertB eingenommen hat,
verweiBe ich auf folgende Studien:
a)Michäle Duchet: Anthropologie et hiBtoire au Siäc1e deB LumiäreB, MaBpero,
Paris 1971
b)G.GuBdorf: Dieu,
la Nature.
l'homme au Siäcle deB LumiäreB.
Payot,
Paris 1972
c)UrB Bitterli: pie Wilden und die ZiviliBierten. München 1976
d)W.E.Mühlmann: GeBchichte und Anthropologie. Wiesbaden 1986
t

10Z
geteilt wurde nun die These einer Polygenese. Auch die
Klimatheorie, nach der die verschiedenen Menschenrassen das
Ergebnis unterschiedlicher klimatischer Einflüsse auf ursprünglich
dieselbe Menschenart seien, konnte den Glauben an die Monogenese
nicht total sichern. Denkbar wurde, daß jeder Himmelsstrich seine
ihm adaptierte Menschenart hervorgebracht habe. Aber ob sie nun
aus einem einzigen Menschenpaar oder getrennt entstanden, die
Menschen waren physisch und zivilisatorisch voneinander so
verschieden, daß man sich fragen mußte, ob alle gleich seien.
Schon die Klimatheorie implizierte, daß die unter günstigen
klimatischen Einflüssen lebenden Menschen, also die Bewohner der
europäischen milden Zone, denen der Zonen der großen Kälte und der
tropischen feuchten Hitze physisch und geistig überlegen seien. Ja
die Vernunft selbst, mit welcher der von der Bibel gelehrte
Ehrenplatz des Menschen in der ganzen Schöpfung gerechtfertigt
wurde, schien aufgrund der unterschiedlichen klimatischen
Einflüsse auch nicht gleich verteilt, so daß die Völker der milden
Zone eine hohe zivilisation entwickelt hatten, während diejenigen,
die außerhalb dieser Zone lebten, "wild" geblieben waren. Und wenn
man sich vergegenwärtigt, daß nach Buffon und Montesquieu, "fast
ausschließlich Natur und Klima über den Wilden herrschen" (244) ,
während die zivilisierten mehr in der Lage seien, ihnen zu
widerstehen, kann man sich die Haltung der damaligen Europäer
jenen sogenannten wilden Völkern gegenüber leicht vorstellen:
entweder Verachtung oder Mitleid. Selbst die historischen und
moralischen Faktoren, die nach voltaire und den meisten AUfklärern
244)Monte.quieu: pe l'E.prit deo Loi •. In: Oeuvre. ComFl~te., R. Calloi., Bibl.
de la P16iade, Pari. 1951, Tome 2, S.55a
E
14

103
(245)
die wichtigste Rolle bei der Bildung eines Volkscharakters
spielen, konnten bei jenen wilden Völkern nur schwer in Betracht
gezogen werden.
Folglich war ihr Platz bei der damals so
geschätzten Klassifizierung der Menschenrassen klar bestimmt:
sie
standen auf der letzten Stufe, die an die Tierwelt grenzt. Auch
wenn bei den materialistischen,
zum Evolutionismus tendierenden
Denkern, wie Diderot, diese Klassifizierung sehr stark relativiert
wurde(246),
blieb es doch dabei, daß die sogenannten wilden
Völker,
zu denen die Schwarzafrikaner gezählt wurden,
an die
Tierwelt grenzten.
Nur mit J.J.Rousseau, dessen kUhner Meinung nach der
Fortschritt der Wissenschaften und der Künste den Menschen
schädlich sei,
konnte man jene wilden Völker anders sehen.
Das Deutschland der Goethezeit partizipierte an diesem
allgemeinen Aufklärungsdenken(247).
245)vg1. Gonthcer-Louis fink:
De Bouhours ä Herder. La th60 ie fr an acse des
c1imats et sa r6ception outre-Rhin.
In:
Recherches Germaniques, Ne
5 (1986),
S.29-43
246)Denis Diderot:
Pens~e9 sur Itinterpr~tation da la nature. Oeuvres compl~tes,
Ed.
Ass6zat et H.
Tourneux,
Paris 1875; reprint Nende1n Liechtenstein 1966/ teme
2/
S.57f
247)
In der 1979 in frankfurt a.Hacn erschienenen Dissertation von Uta sadji Der
Negermytho9 am Ende des
la.Jahrhunderts in Deutschland. Eine Analyse der
Rezeption von Reiseliteratur über Schwarzafrika wird dieses Thema bereits
erörtert. Da diese Studie eich auf die Rezeption von Reiseliteratur über

Schwarzafrika und auf die im Titel angegebene,
relativ kurze Zeitspanne
Konzentriert,
erweist sie sich in manchen Aspekten ausführlicher als die fUnf
Jahre früher
(1974)
von'mir an der Universität Straßburg II vorgelegte,
zeitlich
umfassendere Dissertation L'image de l'Afrigue dans les lettres allemandes Oe
1750 ä 1884. Beide Dcssertatconen zecgen, daß der Schwarzafrikaner im
a11gemecnen tief auf der Wertskala der deutschen Denker vom Ende des 18. und
Anfang des 19. Jahrhunderts stand.
~7nz
"
Z7 7

104
2.1.1.2
DER SCHWARZAFRIKANER AUF DER WERTSKALA DER DEUTSCHEN
INTELLIGENZ IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT
Die deutschen Anhänger der Monogenese und der Klimatheorie
teilten die allgemeine Geringschätzung des Schwarzafrikaners, der
ja unter jenen in der großen,
feuchten Hitze kochenden tropischen
Himmelsstrichen geboren wurde und lebte. Johann Gottfried Herder
ist hierfür das beste Beispiel. Obwohl er im Namen der Humanität
das Konzept der Rasse überhaupt ablehnte(248)
und absolut gegen
den sklavenhandel und die Kolonisation der Neger war,
ist er in
seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
(1784-
1791)
obzwar wohlwollend um den Nachweis bemüht, warum der
Schwarzafrikaner dem Europäer unterlegen sei.
In Anlehnung an den Holländer Camper erklärte Herder,
wie die
Wirkung der Sonne auf die Haut des Schwarzafrikaners zu deren
Farbe(249) und zu den für europäische Normen häßlichen
Gesichtszügen und den für Europäer auffälligen physischen
Merkmalen der Neger geführt habe.
Zur größten Freude seines
Freunds Lavater und der Anhänger der Physiognomik schreibt er:
"Die Lippen,
die Brüste und die Geschlechtsglieder stehen, so
manchen physiologischen Erweisen nach,
in einem genauen Verhältniß
248)"In so verschiedenen
Formen das Menschengeschlecht auf der Erde erscheint:
so ist's doch überall ein und dieselbe Menschengattung" Johann Gottfried Herder:
Ideen zur Philosophie der Geschichte der MenschheH
(1784-1791).
In:
Sämtliche
Werke, Hrsg v.
Bernard Suphan,
Berlin 1877, Bd.l),
Kap.
1,
7.Buch des 2. Teils.
-Siehe auch:
5.257 wo Herder den Begriff Rasse als gegenstandslos bezeichnet
:~ .•. ich sehe keine Ursache dieser Benennung."
249)"ES ist ein Öl, womit sie (die Natur) diese Netzhaut färbte ••. ,
also hat die
Sonnenwärme ein öl aus ihrem gekocht, das 80 weit hervortrat, als ee konnte, das
ihre Haut erweichte und das Netz unter derselben färbte."
Ideen ... op,cit.,
5.234
&
ja

105
und da die Natur diese Völker, denen sie edlere Gaben entziehen
mußte, dem einfachen Principium ihrer bildenden Kunst zufolge, mit
einem desto reicheren Maas des sinnlichen Genusses auszustatten
hatte,
so mußte sich dieses physiologisch zeigen.
Die aufgeworfene
Lippe wird auch bei weißen Menschen in der Physiognomik 5gE das
Zeichen eines sehr sinnlichen( ... )Geschmacks gehalten."(
)
In dieser physiognomischen Sprache fährt er fort:
"Mit dieser ölreichen Organisation zur sinnlichen Wollust
mußte sich auch das Profil und der ganze Bau des Körpers ändern.
Trat der Mund hervor,
so ward eben dadurch die Nase stumpf und
klein, die stirn wich zurück und das Gesicht bekam von fern die
Ähnlichkeit der Conformation zum Affenschädel. Hiernach richtete
sich die Stellung des Halses,
der Übergang zum Hinterkopf, der
ganze elastische Bau des Körpers,
der bis auf d~5 Nase und Haut
zum thierischen sinnlichen Genuß gemacht ist."(
1)
Herder schrieb all dies mit der ganz ehrlichen Absicht, daß
diese Erklärungen seinen Landsleuten zu einem besseren Verständnis
der Natur des Negers verhelfen und sie dazu führen würden,
statt
ihn zu hassen oder zu verachten, Sympathie für ihn oder zumindest
Mitleid mit ihm zu empfinden.
Zum Schluß seiner Darstellung
schrieb er:
"Lasset uns also den Neger, da ihm in der Organisation seines
Klimas kein edleres Geschenk werden konnte,
bedauern,
aber nicht
verachten;
( ... ) Sie (die Natur)
hätte kein A55~ka schaffen
müssen; oder in Afrika mußten Neger wohnen."(
)
Obwohl er aus Erfahrung(253) und durch Forschung Anhänger der
Polygenese (254)
war, unterschied sich Georg Forster anfangs in
250)Ebenda, 5.235
25l)Ebenda, 5.325f
252)Ebenda, 5.236
253)Als 17 jähriger nahm Georg Forster in Begleitung seines Vaters, Reinhold
Forster,
an der .weiten Reise von James Cook um die Welt
(1772-1775) teil.
Er
war Mitverfasser des daraus entstandenen Reiseberichts A voyage round the world.
254)"Die Natur hat vielmehr( . . . )einem jeden stamme seinen Charakter,
seine
besondere Organisation,
ursprünglich in Be.iehung auf sein Klima und .ur

106
seiner Einstellung zu den Negern nicht von Anhängern der
Monogenese wie Herder und Kant.
So heißt es auch bei Forster:
"Weißer! ... Du solltest Vaterstelle an ihm vertreten, und indern
du den heiligen Funken der ve~g~nft in ihm entwickeltest, das Werk
der Veredlung vollbringen."
(
)
Was den Unterschied zwischen dem Neger und dem Weißen betrifft,
so bezog er sich auf das ihm gewidmete,
bedeutende Werk seines
Freundes Samuel Thomas Sömmerring Über die körperliche
Verschiedenheit des Mohren vorn Europäer(256) , worauf er jeden
hinwies, der sich über diese Frage näher informieren wollte(257).
Man kann also annehmen, daß Forster zunächst die nuancierte
Ansicht Sörnrnerrings teilte,
daß
"( ... )im allgemeinen,
im Durchschnitt, die afrikanischen
Mohren doch in etwas näher an das Affengeschlecht als die Europäer
gränzen. Sie bleiben aber drum dennoch Menschen, und über jene
Klasse wahrer vierfüssiger Thiere gar sehr erhaben, gar sehr
auffallend von ihnen unterschieden und abgesondert. Auch unter den
Schwarzen gibts einige,
die ihren weißen Brüdern nä~SS treten, und
manche aus ihnen sogar an Verstande übertreffen."
(
)
Angemessenheit mit demselben,
gegeben. Unstreitig läßt sich dieses genaue
Verhältnis zwischen dem Lande und seinen Bewohnern am leichtesten und kürzesten
durch eine lokale Entstehung der letzteren erklären." Georg Forster:

Noch etwas
über die Menschenrassen (1786).
In: Georg Forsters Werke,
bearbeitet von
5iegfried Scheibe,
Berlin 1974, Bd.8, 5.
130-155,
Zit.
5.151
255)Ebenda,
5.155
256)5.Th.5ömmerring:
Ober die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom
Europäer, Hainz 1784
-Zur Freundschaft zwischen Forster und Sömrnerring vgl.Hane Querner:
Samuel
Themas Sömmerring und Johann Georg Forster -
eine Freundschaft.
In:
Samuel
Themas Sömmerring und die Gelehrten der Goethezeit.
Hrag.
von Günther Mann,
Jaßt
Benedum, Werner F.
Kümmel.
5tuttgart u.
New York 1985,
5.229-244
257)"Wollen sie also, mein Freund,
in einem gedrängten Inbegriff übersehen,
worauf es eigentlich bey der Bestimmung der Unterschiede im Menschengeschlecht
ankommt,
80
lesen Sie einen Sömmerring, über die körperliche verschiedenheit des
Negers vom Europäer." J.G.Forster,
op.cit.,
5.141
258)5amuel Thomas 5ömmerring, op.cit.,
5.32

107
1789 aber, etwa vier Jahre nach der zweiten Ausgabe von
Sömmerrings Werk und drei Jahre nach Veröffentlichung seines
eigenen über die Menschenrassen (1786) erschien seine Schrift
Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit. Darin
vertritt er eine AUffassung der Geschichte der Menschheit, welche
Anklänge zugleich an Evolutionismus und Klimatheorie zeigt. Jedes
Volk entwickle sich nach demselben ProzeB wie ein Individuum. Die
erste Phase dieser Entwicklung sei wie beim Individuum die
Kindheit, welche sich durch die "Selbsterhaltung" charakterisiere;
es folge dann die Phase der Pubertät, die sich durch die
"Fortpflanzung" kennzeichne; dann komme die Etappe der vollen
Reife, die an der "Wirksamkeit außer sich selbst" erkennbar sei;
die vierte und letzte Entwicklungsphase sei die des Alters, welche
durch das "Rückwirken in sich selbst" geprägt sei(259). Die beiden
ersten Etappen seien dem Menschen und dem Tier gemeinsam (260).
Nur die beiden letzten seien dem Menschen spezifisch. Während die
erste stufe dem eigentlich wilden Leben - das nirgends lokalisiert
wird - entspreche, sei die zweite, die Forster als "spermatisch"
bezeichnet, diejenige, auf welcher sich die Chinesen, die Inder,
die Indianer und, selbstverständlich, die Neger befänden. Was die
Europäer betrifft, so seien sie die einzigen, welche die
"heroisch" genannte dritte stufe überwunden hätten, um sich jetzt
auf der "sensitiv" genannten vierten und höchsten zu
259)"SO sind also die Hauptbeatimmungen des Menschen:
Selbsterhaltung,
Fortpflanzung, Wirksamkeit außer,
und Rückwirken in sich selbet,
von einer nach
und nach erfolgenden Veränderung verschiedener Organe abhängig, und im
genauesten Verhältnisse mit den Perioden des Wachstums,
der Pubertät,
des
Stillstands und der Hirnerhärtun9.~ Johann Georg Farater: Leitfaden zu einer
künftigen Geschichte der Menschheit.
In: Georg Forsters Werke,
bearbeitet von
Siegfried Scheibe,
Berlin 1974,
Bd.8, 5.189
260)'Mit allen Tieren haben wir Erhaltung und Fortpflanzung gemein;
in so fern
also sind diese Funktionen mit den besonderen und ausschließenden Bestimmungen
der Menschheit nicht zu vergleichen." Forster: Leitfaden . . . op.cit., S.189
:,,l
.--e
';";";'i"IIf:tet;jb«Z

108
befinden(261).
Die Frage, warum die sogenannten "spermatischen"
Völker auf jener zweiten Entwick1ungstufe verharren,
beanwortet
Forster so:
"Ein mildes Klima,
ein fruchtbares tand,
eine ruhige,
ungestörte Nachbarschaft,
und wer mag bestimmen, welcher andere
Zusammenfluß von Organisazion und äusseren Verhältnissen
beschleunigte das Wachsthum sowohl der Chineser und Indier als der
Neger,
entwickelte früher ihren Geschlechtstrieb,
führte die
Polygamie unter ihnen ein,
und machte sie zu den volkreichsten
Nazionen der Erde. Allein Erschlaffung ist das Loos einer zu
üppigen Verschwendung der Zeugungskräfte.
Im Herzen und Hirn
dieser Völker schlief die belebende Kraft,
oder zuckte nur
konvulsivisch.
Zu Knechtschaft geboren,
bedurften sie,
und
bedürfen noch der Weisheit eines Despoten, der sie zu Künsten ~~~
Friedens anführt,
und mechanische Fertigkeit in ihnen weckt."(
)
Für den Mainzer Republikaner Georg Forster, den
leidenschaftlichen Verfechter der von der Französischen Revolution
erklärten universellen Rechte des Menschen, gab es doch Völker,
welche die Natur selbst vom Genuß all jener Werte ausgeschlossen
hatte. Und zu denen gehören die Neger.
Georg Forster scheint also die Französische Revolution anders
als die Freunde der Schwarzen in England und Frankreich verstanden
zu haben,
die im Namen der Gleichheit aller Menschen die
Abschaffung des Sklavenhandels forderten.
Eben zur entschiedensten Widerlegung dieser Initiative der
Freunde der Schwarzen verfaßte Christoph Meiners 1790 seine
Schrift Über die Natur der afrikanischen Neger.
Um das wieder
gutzumachen, was Meiners als die größte Beleidigung fUr die
Europäer empfand,
nämlich die Behauptung der Gleichheit aller
2&11"Nur solche Völker,
die in ihrer frUheren Periode der Wollust glUcklich
entgangen,
und in den Armen der Freiheit zu männlicher Stärke herangewachsen
sind,
können und mUssen .ulet.t den höchsten Gipfel der Bildung ersteigen ... Nur
dreimal,
nur in Europa,
und jedeamal in anderer Gestalt erblickte die Welt das
Schauspiel dieser let.ten Ausbildungsstufe." Ebenda,
5.192
262)EbendB,
5.191

109
Menschen, unternahm er es in dieser Schrift, die Summe aller
vorbehaltlos negativen Meinungen über die Neger im Europa vom Ende
des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts darzustellen.
Denjenigen,
welche die physischen Merkmale der Neger durch klimatische
Einflüsse und ihre Dummheit durch den Zustand der Versklavung
erklärten,
wollte Meiners endgültig klar machen,
daß von Natur aus
ungeheure physische, geistige und moralische Unterschiede zwischen
dem Neger und dem Europäer bestehen.
Die nach Beobachtungen über "einige Schädel" vermeintlich
"unbekannten Ursprungs"(263)
von Blumenbach behauptete Einheit des
Menschengeschlechtes verwerfend und sich auf das Ergebnis von
Sömmerrings Forschung über vier Negerkadaver(264)
stützend, konnte
er über den physischen Bau der Neger, die nuancierte Ansicht
Sömmerrings ganz pervertiert und verabsolutiert wiederholend,
behaupten:
"( ... )daß die menschenähnlichen Affen den 9~glichen Negern
ähnlicher als die Neger den Europäern sind."
(
).
Die von manchen Europäern zu Unrecht bewunderte Schnelligkeit,
Gewandtheit und Geschmeidigkeit der Neger sei nur ein zusätzlicher
Beweis dieser Ähnlichkeit zwischen ihnen und den Affen(266).
Im
Übrigen entstünden diese "Vorteile" aus einer Veranlagung, welche
deren Besitzer aller höheren Vervollkommnung unfähig mache(267).
Und:
263)Christoph Heiners:
Ober die Natur der afrikanischen Neger.
In: Göttingisches
Historisches Hagazin, Hannover 1790, 5.407
264)Chr. Heiners, op.cit., 5.402f
265)Ebenda, 5.403
266)Ebenda,
5.420
267)Ebenda,
5.420

'10
"Alle gültige und kundige Beobachter und Geschichtschreiber
der Neger stimmen darin überein, daß die Neger im Ganzen genommen
durchaus genielos,
oder leer von Erfindungskraft,
und zugleich
unfähig seyen,
selbst von cörperlichen Gegenständen, und deren
Eigenschaften,
und noch mehr von uncörperlichen Dingen sich
allgemeine richtige Begriffe zu bilden, und solche Begriffe in
zusammenhäng~g~e Sätze, Schlüsse und Reihen von Schlüssen zu
verbinden."(
)
Die wenigen Neger,
die hier eine Ausnahme bildeten, hätten sich
nicht einmal bis zum europäischen Mittelmaß erheben können(269).
Es sei also verständlich,
daß die Neger in ästhetischer und
moralischer Hinsicht so tief stünden. Denn:
"Dieselbe Gefühllosigkeit,
und Verstandesschwäche, die den
Negern den Sinn der Schönheit,
und auch den göttlichen ,Hnken des
Genies raubte,
nahm ihnen auch den moralischen Sinn.,,(2
)
~eweise hierfür seien ihr unheilbarer Kannibalismus(271) , ihre
Vielweiberei,
ihr schamloses Sexualleben (272)
und ihre
Undankbaikeit(273).Was die sogenannte Treue mancher Negersklaven
zu ihren weißen Herren betrifft, so entstehe sie aus dem gleichen
Instinkt wie bei den Haustieren(274) .
Anstatt von einer Gleichheit zwischen den Negern und den Weißen
zu sprechen,
sollte man, Meiners' Meinung nach,
eher die evidente
Überlegenheit der letzteren anerkennen und versuchen, deren
268)Ebenda, 5.429
269)Ebenda, 5.431
270)Ebenda, 5.436
271)Ebenda, 5.437
272)Ebenda, 5.446f
273)EbendB, 5.439
274)EbendB, 5.442

111
natürliche Herrschaft über die ersteren zu sänftigen(275). Somit
gesellte sich Meiners zu den absolut negrophoben deutschen Autoren
wie z.B. Mathias Christian Sprengel,
Franz Grund und
Duttenhofer(276).
Ob sie nun für besserungsfähig gehalten oder nur bemitleidet
wurden,
die Neger standen auf der Wertskala der Deutschen der
Goethezeit im allgemeinen sehr tief. Goethe hat sich leider nicht
über diese Ansicht hinaus erheben können.
2.1.1.3
GOETHE UND DIE SCHWARZEN
Zuerst muß erwähnt werden, daß Goethe mehr oder weniger enge
Beziehungen zu allen oben besprochenen Autoren gehabt hat und daß
ihm die zitierten Werke wahrscheinlich bekannt waren.
Er hatte wie
Herder eine Zeitlang an Lavaters Physiognomischen Fragmenten
mitgearbeitet(277) , nach denen negroide Gesichtszüge geistige und
moralische Schwäche ankündigen(2 7 8). Trotz der bedenklichen
275)Ebenda,
S.400f
276)
-Mathias Christian Sprengel: Vom Ursprung des Negerhandels, Halle 1779. Siehe
Kommentar in Gneba,
op,cit. S.128f
-Franz Grund:
Die Amerikaner in ihren moralischeo, politischen und
gesellschaftlichen Verhältnissen, Stuttgart und Tübingen 1837,
5.383 .Siehe
Kommentar in Gneba op.cit. S.269f
-Duttenhofer: Über die Emanzipation der Neger.
Nördlingen 1855,
5.17.
Siehe
Kommentar in Gneba,
op.cit.,
S.270f
277)Goethes Freundschaft und Zusammenarbeit mit Lavater dauerte vom
Erscheinen
des Götz von Berlichingen
(1773)
bis zum Erscheinen von Lavaters Pontius Pilatu9
(1782-85). Damals war Lavater für Goethe:
"( ... )der beste, größte,
weiseste und innigste aller sterblichen und
unsterblichen Menschen, die ich kenne." Goethes Briefe an Charlotte von Stein,
Hrsg von Jonas Fränkel,
Berlin 1960, Bd.l,
5.183
278)Gedacht wird hier an den Prototyp des Kraftmenschen
(er hat Negerzüge), den
Lavater so schilderte:

112
Wirkung, welche die Physiognomik auf die Haltung den Negern
gegenüber haben konnte,
reicht Goethes Mitarbeit an ihrer
Systematisierung durch J.Caspar Lavater nicht aus, um ihn der
Negrophobie zu bezichtigen.
Flüchtige Lektüre könnte sogar dazu führen,
ihn von jeder
solchen Haltung freizusprechen.
Liest man aber mit Aufmerksamkeit
und Scharfsinn,
so entdeckt man,
daß der Neger auf Goethes
Wertskala nicht höher als bei einem Forster oder Meiners stand.
Vergebens wird man zwar bei ihm auffällige Gestalten in der Art
von Muley Hassan in Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
(1783), Berdoa in Christian Dietrich Grabbes Herzog Theodor von
Gothland(1822)
oder zanga in Grillparzers Der Traum ein
Leben(1830)
suchen, welche,
ohne dumm zu sein, einen bedeutenden
Aspekt der im damaligen Deutschland für den Neger geltenden
Symbolik darstellen:
satanische Bosheit(279). Goethes Meinung tiber
die Neger kommt vielmehr in beiläufigen Bemerkungen zum Ausdruck.
In den Wahlverwandtschaften läßt der Erzähler Ottilie folgende
von ihr geteilte Bemerkung des Pensionsgehilfen in ihr Tagebuch
eintragen:
"( ... )ein Bild eines Matrosen,
der allen Ausdruck unbeweglicher Felsenstärke
hat:
80
hat eich vielleicht physische Kraft ohne Seele und Reizbarkeit aelten
eingefleischt." Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente,
hreg.
von
Friedrich Märker,
Oldenburg 1848,
5.154
F.Märkera KOl1U1ientar dazu lautet:
"Die Arbeitewilligkeit dieses Mannes iet
schwer zu erregen;
er kann aber sehr ausdauernd sein in derber,
viel Kraft aber
wenig Beweglichkeit und wenig intellektuelle Anaträngung erfordernder
Arbeit( ... )Wie die hitzig-quellende, gierig vorgeschobene plumpe Unterlippe
zeigt,
kann seine grobe Empfindung aber auch heftig werden; wenn z.B.
eine
Biermaid, die ihm gefällt,
nicht willig ist,
kann er brutal erfassen{ ... )Das
Lächeln,
das die feinsten Bäckchen bildet, drückt pfifige,
schweinische Gier
aus." Ebenda,
5.154
279)Oie Monostatos-Gesta1t von Der Zauberflöte zweiter Teil
(1798)
ist
eigentlich nicht seine,
sondern Schikaneders Schöpfung.
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113
"Es gehört schon ein buntes, geräuschvolles Le~~n dazu, um
Affen, Papageien und Mohren um sich zu ertragen."(
0)
Mit dieser Aussage will der Gehilfe illustrieren, wie fremd und
unbequem das Leben unter den Tropen. einem Europäer sein könne.
Denn:
"Von der Natur( ... )sollten wir nichts kennen,
als was uns
unmittelbar lebendig umgibt. Mit den Bäumen, die um uns blühen,
grünen,
Frucht tragen,
mit jeder Staude,
an der wir vorbeigehen,
mit jedem Grashalm,
über den wir hinwandeln, habe2 wir ein wahres
Verhältnis; sie sind unsre echten Kompatrioten."( 81)
Folglich stimmt die ganze tropische Natur, Pflanzen, Tiere und
Menschen,
nicht mit einem Europäer zusammen.
"Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die
Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und
Tiger zu Hause sind."
(282)
Es sei zwar sehr interessant, eine realitätstreue Schilderung
fremder Länder - wie etwa jene von Alexander von Humboldt - zu
lesen oder zu hören(283),
aber do~thin gehöre kein Europäer,
genauso wie Geschöpfe aus solchen Ländern nicht nach Europa
gehörten. Affen,
Elefanten, Papageien und Tiger sind sicherlich
die wahren Kompatrioten der Mohren.
Und was besonders die Affen
betrifft:
"Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere
betrachtet."
(264)
280)Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, München 1982, Bd.6,
5.416
281) Ebenda
282)Ebenda
283)Ebenda
284)Ebenda. 5.415

114
Mit anderen Worten: die Affen haben etwas Menschliches. Aber die
Menschen, mit denen sie zusammengehören, sind nicht etwa die
Europäer, sondern die Bewohner der Tropenländer, besonders die
Mohren.
Deshalb heißt es, man werde wirklich bösartiger, wenn man
bekannte Menschen,
also Europäer, unter dieser Maske suche(285}.
In der Gesinnung des Pensionsgehilfen und ottiliens zeigt sich
also eine kÜhl-distanzierte,
ja eine subtil ablehnende Haltung dem
Exotischen gegenüber,
was an Goethes Reaktion erinnert, als er
A.von Humboldts Buch über Kuba gelesen hatte.
In einem Brief an
seinen Freund Boisseree zeigt er nämlich zwar eine aufrichtige
Bewunderung für die gelehrte Darstellung dieses Landes,
aber kein
wahres Interesse, keine Teilnahme am Leben seiner Bewohner(286).
In dem Buch schilderte Humboldt nämlich u.a. die herzzereißende
Situation der Negersklaven auf dieser Insel. Daß Goethe hierauf
gar keine teilnehmende Reaktion zeigt,
könnte wohl bagatellisiert
werden, wenn seine Ansicht über die Frage der Negersklaverei sich
nicht anderswo geoffenbart hätte.
285)Ebenda
286)vgl. Goethe. Ein Denkmal wird lebendig. Hrsg von Harald Eggebrecht,
München/Zürich 1982, 5.111

2.1. 2
DIE FRAGE DER NEGERSKLAVEREI
2.1.2.1
DIE NEGERSKLAVEREI UND DAS DAMALIGE EUROPÄISCHE GEWISSEN
Die Goethezeit fiel mit der Periode zusammen,
in der die
Negersklaverei im ganzen Abendland allgemein bekämpft wurde.
Während das Problem bis 1768 in England und Frankreich noch
allein die aufgeklärten Denker zu beschäftigen schien, trat es
seit Voyages d'un philosophe (1768)
von pierre Poivre mehr ins
öffentliche Bewußtsein.
Seit 1776 wurde im englischen Parlament für oder gegen
Abolitionismus heftig argumentiert, und die Vereinigten Staaten
von Amerika waren seit 1787 in Verteidiger und Gegner der
Negersklaverei geteilt.
1788 wurde die Gesellschaft der Freunde der Schwarzen von
condorcet, Brissot und Si~yes in Frankreich gegründet, welche die
Abschaffung der Negersklaverei in allen französischen Kolonien
forderte und 1792 durchsetzte,
bis sie von Napoleon 1804 wieder
zurückgenommen wurde.
Obwohl Deutschland keine Kolonien hatte und daher nicht direkt
mit dieser Frage konfrontiert war,
fanden die beiden ersten
internationalen Kongresse darüber doch auf deutschem Boden statt.
Der erste tagte im Februar 1815 in Wien, der zweite 1818 in
Aachen. Österreich, Preußen und die Freien Städte Bremen, Hamburg
und Lübeck, die an diesen Kongressen teilnahmen,
zeigten jedesmal
ihre Bereitschaft,
zur Abschaffung dieses Übels in der Welt
beizutragen. Eine der besten Illustrationen hierzu war auf

116
preußischer seite das Handbuch des Wissenswürdigsten aus der Natur
und Geschichte der Erde und ihrer Bewohner (1822-25)
von
L.G.Blanc. In diesem Buch, das - wie der untertitel lautet -
"zum
Gebrauch beim unterricht in Schulen und Familien" ver faßt wurde,
wurde der Sklavenhandel durch die Europäer aufs heftigste
gegeißelt(287).
Die Aufmerksamkeit für diese Frage im Deutschland
der Goethezeit ermöglichte also genug Resonanz bei der damaligen
deutschen Intelligenz.
2.1.2.2
DIE DEUTSCHE INTELLIGENZ DER GOETHEZEIT UND
DIE FRAGE DER NEGERSKLAVEREI
Obwohl der Neger auf der Wertskala der damaligen deutschen
Intelligenz im allgemeinen sehr tief stand,
tendierte diese zur
Ablehnung der Negersklaverei.
Ohne in den Negersklaven unbedingt den rousseauischen "edlen
Wilden" zu sehen, hatten sich deutsche Autoren - besonders des
Sturm und Drang -
im Namen der Menschenwürde gegen den
Sklavenhandel ausgesprochen(288). Gute Negersklaven wurden in
ihren Werken des öfteren bösen europäischen Sklavenhändlern und
-besitzern gegenübergestellt.
Hierfür könnte Johann Gottfried Herder als das beste Beispiel
gelten. Hatte er schon in seinen Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit
(1784-91)
die europäischen
287)Siehe Kommentar in Gn~ba. op.cit., S.170
288)Siehe Kap.C des Teil I, Anmerkung Nr 68.

117
Sklaverihändler der Räuberei und des Menschendiebstahls angeklagt
(289),
so entwickelte er in seinen fünf lyrischen Neger-Idyllen im
114. der Briefe zu Beförderung der Humanität
(1794)
eine komplette
Argumentation gegen die Negersklaverei.
Das Gedicht Zimeo, dessen Titel einem Werk des Franzosen Saint-
Lambert entliehen wurde(290 1, kann als Rahmen der ganzen
Argumentation betrachtet werden. Das Verbrechen,
dessen Herder die
europäischen Sklavenhändler und -besitzer anklagt,
besteht darin,
daß sie die Afrikaner ihrem natürlichen Lebensmilieu,
dem sie mit
ihrer ganzen Seele verbunden sind, entreißen. Dies kommt in
bündiger Form in der letzten Strophe des Gedichtes zum Ausdruck:
" ( •.. 1 0 führte
Ein freundlich Schiff sie bald zum Vater, der
Den Sohn beweinet, hin gen Onebo,
Den Ort der ersten Liebe,
in die Luft
Des süßen Vaterlands Beninl"
(2i1)
Zimeo, der seine Frau Elavo,
seinen Schwiegervater Matomba und
seinen Sohn, den er nicht einmal gut kannte,
als sie getrennt
verkauft wurden, auf einer Plantage wiedergefunden hat, kann erst
wirklich glücklich sein,
wenn er mit seiner Familie in sein
Vaterland zurückgekehrt ist.
Denn allein Onebo ist für ihn ein:
"( . ... )
sch"
ones L and
Voll süßester Erinnerung!"
(2i2)
289)Johann Gottfried Herder:
Ideen tUr Philosophie der Geschichte der
Menschheit, op.cit., S.262ff
29D lSa int-Lambert: Les Saisons su>v>es d'anecdotes et de contes (Zimeol,
Arnsterdam 1769. Dieses Werk wurde ins Deutsche übersettt und erschien 1771-1772
in Leiptig unter dem Titel: Die Jahreszeiten.
291lJ.G.Herder:Zimeo, in: Briefe tU BefÖrderung der Humanität, lD.Sammlung, Riga
1797, Stl. Werke, Bd.18, S.232
292 lEbenda, S.231

118
Während in Benin nur Verbrecher verkauft werden(293), wurden sie
ohne Grund in Ketten geschlagen und auf das Schiff der
europäischen Räuber geladen, deren ~erz weder von den bitteren
Tränen,
noch von dem Flehen und dem Selbstmord mancher ihrer
unglücklichen Opfer erweicht werden konnte. Wer wie Zimeo und die
Seinigen die Folter erlebt hat, welche sie hatten durchmachen
müssen, kann von den Weißen nur eine so schlechte Meinung haben:
"Ihr Weiße habt ihr nur eine halbe Seele,
Die nicht zu lieben,
nicht zu has~~2 weiß.
Nur Gold ist eure Leidenschaft."(
)
Dieser Charakter der weißen Sklavenhändler und -besitzer wird
durch andere Gedichte in verschiedenen Formen illustriert. Die
Frucht am Baume zeigt am Beispiel eines Jünglings, welchen
Mißhandlungen die Negersklaven in den Plantagen unterzogen wurden.
Während im Herrenhaus gefeiert wird, hängt er in einem Käfig an
einern Baum, wo ihm Vögel und Insekten die Augen herausgepickt und
viele Wunden am Körper beigebracht haben.
Die Ursache dieser
Folter ist:
"Daß man dem Jünglinge die Braut
Verführen wollen; und wie er
Das nicht ertragend,
sich gerächt
Dafür dann büsse nun sein Stolz
Die Keckheit und den Ubermuth."
(295)
293)Ebenda
294)Ebenda, 5.231
295)J.G.Herder: Die Frucht am Baum,
in: Briefe zu Beförderung der Humanität,
op.cit., 5.225

',9
Solche Mißhandlungen, will Herder andeuten, können die Weißen in
den Augen der Neger nicht anders denn als Teufel erscheinen
lassen(296) .
Die Bosheit mancher Sklavenbesitzerist so schlimm, daß sie
viele Negersklaven zu allerlei Verzweiflungstaten führt.
Das
Gedicht Die rechte Hand zeigt, wie Fetu, ein edler Negersklave,
sich lieber selbst die rechte Hand abtrennt,
als einen anderen zu
foltern,
wie sein weißer Herr von ihm fordert.
"( ... ) Fordre,
Gebieter,
von mir ~§~ du willst; nur nichts
( ... )Unwürdiges"
(
)
Das Gedicht Die Brüder unterstreicht den tiefen Sinn für
Freundschaft und die Großmut eines Negersklaven im Gegensatz zur
Untreue und zum Undank seines weißen Herrn. Um seinem weißen
Herrn, mit dem zusammen er von seiner eigenen Mutter,
einer
Negersklavin,
großgezogen worden war,
seine brüderliche Liebe zu
zeigen, dient ihm Quassi mit besonderem Eifer.
Eines Tages aber,
bei einem großen Empfang im Herrenhaus, wagt er es,
sich dort
blicken zu lassen, ohne gerufen worden zu sein.
"Doch als sein Herr ihn sah,
Ergrimmt wie ein Leu,
der Blut geleckt,
Sprang er auf ihn.
Der Arme floh.
Der Tiger
Erjagt ihn; beide stürzen; stampfend kniet
Sein Herr auf ihm,
ihm jede Marter drohend."
(298)
296)Ebenda, 5.224
297)J.G.Herder: Die rechte Hand, in: Briefe zu Beförderung der Humanität,
op.cit., 5.226
298)J.G.Herder: Die Brüder, in: Briefe zu Beförderung deer Humanität, op.cit.,
5.228

120
Von tiefem Schmerz ergriffen,
überwindet Quassi mit seiner ganzen
"Negerkraft" den Herrn,
und nachdem er ihn an ihre gemeinsame
Kindheit erinnert hat,
heißt es:
"( ... ) Er zog das Messer
Und stieß es - meint ihr in des Tigers ~9ust?
Nein! selbst sich in die Kehle( ... )"
(2
)
Zum Glück, deutet Herder mit dem Gedicht Der Geburtstag an,
gibt es auch gute Menschen unter den Sklavenbesitzern, wie Walter
Miflin,
einen Quaker am Fluß Delaware.
An einem seiner Geburtstage entscheidet Walter, seinem
dreißigjährigen Negersklaven Jakob die Freiheit zurückzugeben und
ihn auf diese Weise für die seit dem einundzwanzigsten Lebensjahr
geleisteten Dienste zu belohnen. Aber der dankbare Jakob will
seinen guten Herrn nicht verlassen.
"Herrl Lieber Herr!
antwortet Jakob,
was
Soll ich mit meiner Freiheit thun? Ich bin
Bei Euch geboren,
ward von Euch erzogen,
Arbeitete mit Euch,
und aß wie Ihr.
Mir mangelt nichts.
In Krankheit pflegte
Mich Eure Frau als Mutter, tröstete
Mich liebreich. Wenn ich denn nun krank bin?
(
)
(
) Guter Herr,
ich kann Euch nicht
Verlassen: denn nie war ich Euer Sklav'.
(
)
(
) Ich war glücklicher
Und reicher als so viele Weiße, Laßt
Mich bei Euch,
lieber Herr."
(~OO)
299)Ebenda, 5.22B
300)J.G.Herder: Der Geburtstag, in: Briefe zu Beförderung der Humanität,
op.cit., 5.233-234
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_
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'",'Of',"
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. "
_

121
Der tugendhafte Quaker läßt den guten Jakob weiter bei sich leben,
aber nicht mehr als Sklave,
sondern als freier Lohnarbeiter und
weit davon entfernt, durch Jakobs Entschluß,
bei seinem
ehemaligen Herrn zu bleiben, das Argument mancher Verteidiger der
Negersklaverei illustrieren zu wollen,
nach dem die Neger als
Sklaven auf den plantagen besser als in ihrer Heimat lebten, will
Herder vielmehr die höchst christliche und menschliche Haltung der
Quaker und anderer Beschützer der Von den Europäern unterdrückten
Neger und Indianer preisen(302)
und dadurch den Triumph einer ihm
am Herzen liegenden Idee poetisch vorwegnehmen:
die Brüderschaft
aller Menschen.
Ohne daß das Deutschland der Goethezeit direkt mit der Frage
der Negersklaverei konfrontiert war, und vielleicht gerade
deswegen, hat seine Intelligenz, wie J.G.Herder, vorwiegend dieses
System verworfen.
2.1.2.3
EINE STELLUNGNAHME GOETHES
Daß Goethes Stellungnahme zu dem zu seiner zeit sehr aktuellen
Problem der Negersklaverei nicht an exponierter Stelle zu finden
ist,
zeigt schon, wie wenig bedeutend es für ihn war.
301)Ebenda, 5.234
302)In dem 115.
Brief spricht er folgenden ~ppell aus:
"Ihr edleren Menschen,
deren Grundsätze nicht auf Verachtung sondern auf
Schätzung und Glückseligkeit aller Menschen-Nationen hinausgehenl
ihr Reisenden,
die ihr euch (
) in die Sitten und Lebensart mehrerer,
ja aller Nationen zu
setzen wußtet(
); Vertreter und Schutzengel der Menschheit, wer aus euer
Mitte( ... ) gibt uns eine Geschichte derselben
(Menschheit),
wie wir ihrer
bedürfen?" Briefe zu Beförderung der Humanität, op.cit., S.237f

I
122
Mit seinem Dramenfragment Der Zauberflöte zweiter Teil
(1798)
hat Goethe wohl die Absicht verfolgt, dem Drama von Schikaneder
eine neue Dimension zu geben.
Die Problematik aber bleibt dieselbe wie bei Schikaneder. Es
handelt sich um den widerstreit zwischen dem Bösen und dem Guten:
Das von Sarastro, dem großen Priester des Isis,
vertretene
Gute
triumphiert mit der Hochzeit zwischen Tamino und Pamina über das
von der Königin der Nacht vertretene Böse.
Goethes Fragment unterscheidet sich vom Text Schikaneders nur
in der Auffassung von Monostatos, dem Negersklaven der Königin der
Nacht. Während Schikaneder eine kleine Diskrepanz zwischen
Monostatos' persönlicher Absicht und dem Ziel der Königin bestehen
läßt, herrscht bei Goethe eine totale Harmonie zwischen dem
teuflich bösen Diener und seiner Gebieterin. Hier bleibt Goethe
vollkommen Kind seiner Zeit, wo nicht selten Negergestalten in der
Literatur das Böse symbolisierten.
Bei Schikaneder aber scheint Monostatos die einzige
Negergestalt in dieser Rolle zu sein. Die Hautfarbe der anderen
Sklaven, deren Gruppe Monostatos führt,
und welche ihn zu böse
finden,
ist bei Schikaneder nicht präzisiert.
Bei Goethe sind sie
alle Neger,
die sich mit Monostatos vollkommen verstehen(303). Für
Goethe scheinen Bosheit und Sklavendienst dem Neger nicht nur zu
ziemen,
sie scheinen ihm geradezu vorbehalten zu sein.
Ein
vollendetes Drama würde vielleicht mehr Licht auf eine derartige
Mutmaßung werfen und Goethes Ansicht über die Negersklaverei hier
schon deutlicher zum Ausdruck kommen lassen.
3D3)Johann Wolfgang von Goethe: Der Zauberflöte zweiter Teil(1798).
In: Gesamte
Werke,
stuttgart 1959, Bd.3, Siehe die Bühnenanweisungen des ersten Auftritts,
5.521-526
~~~~~~~~~~lii"iijli-!1l··,~rf"Sli-~-?iiii7ii··-iii"
"1iI"• • • •
_

Diese Ansicht blieb aber nicht immer so verschleiert.
Die
Abschaffung des Sklavenhandels in England kommentierte Goethe
später im Gespräch mit Eckermann einmal wie folgt:
"Jedermann kennt ihre
(der Engländer)
Deklamationen gegen den
Sklavenhandel,
und während sie uns weis machen wollen, was für
humane Maximen solchem Verfahren zugrunde liegen,
entdekt sich
jetzt, daß das wahre Motiv ein reales Objekt sei,
ohne welches es
die Engländer bekanntlich nie tun( ... ) An der westlichen Küste von
Afrika gebrauchen sie die Neger selbst in ihren großen
Besitzungen,
und es ist gegen ihr Interesse, daß man sie dort
ausführe.
In Amerika haben sie selbst große Negerkolonien
angelegt,
die sehr produktiv sind und jährlich einen großen Ertrag
an Schwarzen liefern.
Mit diesen versehen sie die
nordamerikanischen Bedürfnisse,
und indem sie auf solche Weise
einen höchst einträglichen Handel treiben, wäre die EinfUhr von
außen ihrem merkantilischen Interesse sehr im Wege,
und sie
predigen ~8~er, nicht ohne Objekt, gegen den inhumanen
Handel."(
)
Aus dem Munde eines Deutschen jener zeit könnte dies als Scherz
oder launiger Einfall wirken. Aber Goethe scheint zu wünschen,
daß
sein Land an solchen Gewinnen teilnehmen könne.
2.1.3
DAS PROBLEM DES KOLONIALISMUS
2.1.3.1
DEUTSCHE INTELLIGENZ DER GOETHEZEIT UND DER KOLONIALISMUS
ObwOhl das Deutschland der Goethezeit keine überseeischen
Besitzungen hatte, war das Problem des Kolonialismus für die
damalige deutsche Intelligenz durchaus ein Thema.
304) Johann pet er Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines
Leben9. "{Gespräch vom Dienstag,
den I.September 1829)
hrsg.
von H.H.Houben,
Wiesbaden 1959 S.282f
,
"
,
.
l<
\\ '


,
,
'
, ' "
-
~

124
--
Im allgemeinen kreiste die Diskussion über dieses Problem bei
den europäischen Denkern um drei Hypothesen.
Die erste Hypothese besagte, daß manche unter den sogenannten
"wilden Völkern"
nicht besserungsfähig seien.
Zu ihnen gehören die
Neger.
Infolge dessen komme bei ihnen ein Kolonisierungsversuch
nicht in Frage.
Die zweite besagte, daß alle Menschen -
auch die Neger -
lernfähig seien und daher gebessert werden können,
indem man sie
auf den Weg zur europäischen zivilisation bringe.
Die dritte besagte, daß die europäische zivilisation nicht
unbedingt der weg zum Glück des Menschen,
daß sie sogar Quelle von
allerlei Verderbtheiten sei,
und daß man besser den Zustand der
sogenannten Wilden nicht störe.
Es ist bereits gezeigt worden, wie wenig Erfolg die letzte
These im damaligen Deutschland hatte. Auch wenn die erste These
einige Vertreter unter der deutschen Intelligenz hatte, bekannten
sich die meisten Intellektuellen zur zweiten. Die Neger waren
besserungsfähig; aber mußte man sie nun unbedingt europäisieren?
Christoph Martin Wieland, der beträchtlich dazu beigetragen
hatte, den Mythos des "edlen Wilden" in Deutschland zu ruinieren,
ließ mit seinen Schriften Reise des Abulfauris ins innere Afrikas
(1777)
und Die Bekenntnisse des Abulfauris gewesenen Priesters der
Isis in ihrem Tempel zu Memphis
(1777)
die Frage der Kolonisation
Afrikas ohne klare Antwort.
In der ersten Schrift wird dieses Problem im Rahmen der
Relativität der sitten und des Glücks und einer eventuell daraus
resultierenden Diskrepanz erörtert.
Bereits in der Einleitung
kritisiert der Erzähler Personen, die nicht begreifen können, daß

I
1,~
scheinbar lächerliche sitten mancher Völker kein Ausdruck von
fehlender Tugend bei diesen Völkern sind.
"Es gibt harte Köpfe welche nicht begreifen können, daß
äußerliche Formen der Tugend nicht die Tugend selbst sind; daß
gewisse lächerliche Gebräuche, womit bey gewissen Völkern -
z.B.
bey den Hottentotten( ... ) - gewisse ehrwürdige Handlungen
begleitet werden,
diesen Handlungen ni~B~ das geringste von ihrer
innerlichen Würdigkeit benehmen( ... )"(
)
Die von Abulfauris entdeckten Neger leben in ihrer Unschuld
vollkommen glücklich,
so daß Abulfauris' Ankunft bei ihnen als ein
wahres Unglück dargestellt wird, welches diesem Völkchen droht.
"Armes ehrliches Völkchen. was hattest du gethan, um mit einem
Priester der Isis heimgesucht zu werdenl"
(306)
Abulfauris nimmt sehr wohl die Herzenseigenschaften jener
Hottentotten wahr,
aber seine ägyptische Erziehung kann nicht
zulassen,
daß sie wurmnackt herumlaufen. So beschließt er. Stücke
Leinwand gegen ihren Goldstaub zu tauschen(307).
In nur einigen
Tagen gelingt es ihm,
sie dazu zu bringen. sich ihrer Nacktheit zu
schämen(308).
In der ehrlichen Absicht,
ihnen noch besser zu
helfen,
erzählt Abulfauris dem König Psammuthis 111 sein Abenteuer
in Schwarzafrika, damit er den Negern noch mehr Leinwand schicke.
Unter dem Einfluß des Finanzministers des Königs aber verwandelt
30S)Chritoph Hart!n Wieland:
Reise des Priesters Abulfauris ins Innere Afrikas.
In: Gesammelte Schriften,
l.Abteilung der Werke,
Berlin 1911, Bd.7,
5.458-568,
Zit.
dort 5.458
306)Ebanda, 5.459
307)Ebenda
308)"Kurz,
zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen, bracht ich eB,
Dank sey der
großen Ieisl
in weryigen Tagen 80 weit,
daß es jedermann tür eine Schande hielt,
ungekleidet zu sayn." Ebenda,
5.460

126
sich die ursprünglich zivilisatorische Mission in ein
kommerzielles Unternehmen.
"Seine Ehrwürden hat uns da eine treffliche Gelegenheit
gemacht,
unsere Leinwand,
Musselinen,
Schleier, GUrteI,
Bänder und
hundert andere Artikel unserer Fabriken mit einem Profit
anzubringen, der zu gleicher Zeit die Kassen Ihrer Majestät
füllen,
und ihre Unterthanen bereichern wird.
Die Gelegenheiten
sind selten,
wo man mit beiden Händen nehmen kann.
Beym Anubi!
Ein
göttlicher Einfall!"
(309)
Trotz der Mahnungen des griechischen Philosophen Diagoras(310)
unternimmt Ägypten die Kolonisierung jener Neger.
In wenigen
Jahren verlieren sie ihr ehemals einfaches, unschuldiges Leben
zugunsten des ägyptischen, mit all den damit verbundenen
gekünstelten Aspekten und Lastern.
"Der weise Abulfauris hatte also damit das Vergnügen,
seine
vermeinte Sittenverbesserung bey diesem Volk durchgängig
eingeführt zu sehen; er fand aber zu gleicher Zeit, daß es nöthig
seyn werde,
nunmehr auch die Strafgesetze der Ägypter gegen
allerley Laster, mit deren Benennung wir dijIIS Blatt nicht
besudeln wollen,
unter ihnen einzuführen."(
)
sicher ist das Glück des "zivilisierten" Menschen nicht zu
unterschätzen,
und Wieland war diese Form von Glück weitaus
lieber(312).
Aber geschieht hier nicht alles,
als würde man einen
gesunden Menschen krank machen, und ihn dann heilen, um ihn den
Wert der Gesundheit schätzen und besonders das Verdienst genießen
309)Ebenda, 5.560
310) "Abulfauris hat alao (wenn ea erlaubt ist,
nach Henschenweise von der Sache
zu reden) diesen guten Leuten,
deren Freund er übrigena iat,
einen Dienet
gethan,
der ihnen nichts dient." Ebenda,
5.462
311)Ebenda, 5.464
312)vg1. dazu ehr. Hartin Wieland: Ober die Behauptung, daß ungehemmte
Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig aey (1770).
In: Wie1anda Werke,
Berlin 1911,
Bd.7,
5.417-438
IoJ&illll...""c
. . . . .iii
_

zu lassen, den gesunden Zustand selber erringen zu können? Der
Erzähler selbst ist darüber folgender Meinung:
"Lasset dem unwissenden Glücklichen seine glückliche
Unwissenheit! Lasset sie ihm so lange er sie behalten kann, so
lange, bis er in Gefahr ist, durch diese Unwissenheit unglücklich
zu werden. Wozu hatten die Neger eure Röcke und Mäntelchen
vonnöthen? sie waren unschuldig und hätten es ohne Geschenke ~I~
ehrwürdigen Priesters vielleicht noch lange bleiben mögen."
(
)
Aber der ägyptische Priester war nun einmal mit diesen Negern in
Berührung gekommen, und dies konnte nicht ohne Folgen sein.
In der zweiten Schrift lenkt Wieland die Aufmerksamkeit des
Lesers darauf, daß Interkulturalität niemals harmlos sein kann.
Durch Begegnungen von Menschen verschiedener Kulturen werden immer
verschiedene Interessen und Einstellungen miteinander
konfrontiert. Auf diese von dem Entdecker Abulfauris
herbeigefUhrte situation hatte jeder nach seinen Interessen und
seiner Erziehung reagiert.
"Er (Abulfauris) wie ein Priester, Psammuthis wie ei~ König,
und die alten Neger,
wie ein alter Neger denken soll."
( 14)
Wieland schließt seine Betrachtung mit folgendem,
auf Französisch
formuliertem Wort:
"Jamais question plus difficile I d~cider ne s'~tait offerte I
mon esprit, et je la laisse I
resoudre I qui pourra.,,(J15)
JIJ)Wieland, op.cit., 5.465
J14)Ebenda,
5.466
J15)"Nie war meinem Geiste eine schwierigere Frage zu entscheiden gegeben I und
ich überlasse ihre Lösung jedem, der es kann," Ebenda,
5.467.
Von mir übersetzt.

128
Bei Johann Gottfried Herder dagegen konnte es in bezug auf die
Frage des Kolonialismus keinerlei Anlaß zu einer solchen
Unentschlossenheit geben.
Denn:
"Jede Nation muß( ... ) einzig auf ihrer Stelle, mit allem, was
sie ist und hat,
betrachtet werden, willkürliche Sonderungen,
Verwerfungen einzelner Züge und Gebräuche durch einander geben
keine Geschichte.
Bei solchen Sammlungen t r i t t man in ein
Beinhaus,
in ein Geräth- und Kleiderkammer der Völker:
nicht aber
in die lebendige Schöpfung,
in jenen großen Garten,
in dem Völker,
wie Gewächse erwuchsen,
zu dem sie gehören,
in dem Alles
(Luft,
Erde, Wasser,
Sonne,
Licht,
selbst die Raupe, die auf ihnen
kriecht und der Wurm, der sie verzehrt)
zu ihnen gehöret.
Lebendige Haushaltung ist der Begriff der Natur,
wie bei ~IGen
Organisationen,
so bei der vielgestaltigen Menschheit."
(
)
Nur wenn man jedes Volk in seiner Originalität betrachtet,
ist
es möglich, die wahre Geschichte des Menschen zu schreiben. Nur
dann ist es möglich, den wahren Begriff der Menschheit aus dem aus
allen Kulturen bestehenden,
herrlichen Anblick des Universums zu
abstrahieren. Daher meint Herder:
"Völker sollten n,ben einander,
nicht durch und über einander
drückend wohnen."
(31 )
Die Beanspruchung einer zivilisatorischen Mission trägt in sich
eine unvermeidliche Gefahr.
Denn:
"Was ist überhaupt eine aufgedrungene,
fremde Cultur? eine
Bildung, die nicht aus eigenen Anlagen und Bedürfnissen
hervorgeht? Sie unterdrückt, mißgestaltet,
oder stürzt gerade in
den Abgrund."
(318)
316)Johann Gottfried Herder:
Briefe zu Beförderung der Humanität. op.cit.,
5.248f
317)Ebenda, 5.236
318)Ebenda. 5.223

I
'29
2.1.3.2
EINE STELLUNGNAHME GOETHES
In den Augen des späten Goethe kam die intensive Beschäftigung
der deutschen Intelligenz mit metaphysischen Fragen dem Land nicht
zugute.
Dies kommt in seinem Gespräch vom 1. September 1829 mit
Eckermann deutlich zum Ausdruck. Goethe war offensichtlich
verärgert,
als Eckermann ihm von einem Durchreisenden erzählte,
der bei Hegel ein Kolloquium über den Beweis des Daseins Gottes
gehört habe.
In diesem Zusammenhang stellt Goethe zwischen den
Deutschen und den Engländern einen in bezug auf die Frage des
Kolonialismus etwas verwirrenden Vergleich an:
" Während aber die Deutschen sich mit Auflösung
philosophischer Probleme quälen,
lachen uns die Engländer mit
ihrem großen praktischen Verstande aus und gewinnen die
Welt." (319)
Goethe sagt das in demselben Gespräch,
in dem auch die zitierte
Äußerung über den Negersklavenhandel der Engländer fällt(320).
Das
läßt darauf schließen, daß er zumindest die englische
Handelsexpansion in der Welt - sei es auch in der Form des
Sklavenhadels -
billigte,
und daß er den Deutschen Ähnliches
wünschte. Würde sich nun Goethe dabei wirklich gedacht haben, daß
seine Landsleute wie die Engländer "große Besitzungen"
an der
"westlichen Küste von Afrika" oder in Amerika "große
Negerkolonien"
haben sollten, was nichts Anderes als deutsche
Kolonisation bedeuten würde,
dann wäre hier der Gestalter von
319) Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines
Lebens.
(Gespräch vom Dienstag,
dem 1.5eptember 1829), op.cit., 5.282
320) Vgl. oben Anm.(63) desselben Kapitels.

Figuren wie Egmont, dem Verfechter kultureller Eigenheit, wie
Thoas und Iphigenie, den Vertretern einer Verbrüderung aller
Menschen und Völker, nicht mehr zu erkennen. Nimmt man Goethe also
I
in der Gesamtheit seines Lebens und literarischen Schaffens, so
i
fällt es
schwer, seine Stellungnahme zur Frage des Kolonialismus
\\
eindeutig zu bestimmen.
Auf der einen seite teilte er jene im damaligen Europa
verbreitete negative Meinung über die schwarze Rasse, welche Hegel
I,
bei den schwarzafrikanischen Intellektuellen in Verruf gebracht
\\,
hat. Dieser Aspekt von Goethes Denken ist zwar nicht allen
\\
\\
schwarzafrikanischen Intellektuellen verborgen geblieben (321); er
II,
ist aber in der Goethe-Rezeption im frankophonen Schwarzafrika und
auch in der jungen afrikanischen Germanistik bislang nicht
konsequent aufgegriffen und erörtert worden.
Auf der anderen seite redet sein sowohl literarisches als auch
naturwissenschaftliches Werk der heutigen schwarzafrikanischen
Intelligenz das Wort bei ihrem Kampf um ihre kulturelle Identität.
Und auf diesen Aspekt seines Schaffens hat zuerst und bislang am
entschiedensten Leopold Sedar Senghor aufmerksam gemacht.
2.2
SENGHORS GOETHE-REZEPTION
Daß senghors Goethe-Rezeption zu der französischen Goethe-
Renaissance(322)
in der zeit zwischen den beiden Weltkriegen und
321)Als Motto zu seinem Vortrag über L'Afrigue et les Allemagnea
(N~gritude et
Germanit~: L'Afrigue Noire dans la litt~rature d'expresslon allemande,
NEA,
Dakar 1983,
5.233-248),
in dem er die yon der Kolonialzeit
(1884-1914) bis
heutezutage negative Rolle von dem 11. und III.Reich,
der BRD und der DDR in
Afrika aufzeigt,
zitierte
Alexandre Kum'a Ndumbe I1! jenen schon besprochenen
Satz aus Ottiliens Tagebuche.
322)vg1. dazu u.a.
Joachim Wieder: Frankreich und Goethe.
Das Goethe-Bi1d der
Franzosen,
München 1976, 5.41

besonders nach 1945 zu rechnen ist,
ist unbestreitbar.
I
Andererseits konnte Senghor vor dem Zweiten Weltkrieg,
als er den
i,
französischen KUlturimperialismus im Namen der Negritude
\\
i
bekämpfte, sich nicht der Tendenz anschließen,
nach welcher in
\\
Frankreich Goethes Europäerturn und Universalität vereinnahmt
I
wurde(323). vielmehr machte er sich für die Bedürfnisse des
Kampfes um die kulturelle Autonomie der afrikanischen Völker
positionen des stürmers und Drängers Goethe zu eigen(324). Hier
sollte aber nicht mit einem Abendländer,
gar mit französisch-
rationalistischem Geist,
sondern und vor allem mit einer gemäß Leo
Frobenius' Kulturtypologie verwandten Seele aus der "äthiopischen"
Familie gemeinsame Sache gemacht werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Goethe für Senghor der Deutsche,
\\
der in sich die Fähigkeit entwickelt hatte,
anderen Völkern zu
I
gegenseitiger Befruchtung begegnen zu können,
ein klassischer
I
I
Autor, dessen Klassizität ein Ideal pflegte,
in dem der Negritude-
I
Theoretiker Senghor die Grundlage der schwarz afrikanischen
Ontologie erkannt zu haben meint. Das wird im Folgenden durch die
Untersuchung der Werke von Goethe dargestellt und diskutiert
werden,
auf die er sich explizit und positiv bezogen hat.
323)vg1. Ebenda,
5.39f
324) Auch wenn 5enghor behauptet,
er habe damals deutsche Autoren im Original
lesen können (Vgl.dazu Le Message de Goethe ... op.cit.,
5.84), konnte es nicht
ausbleiben,
daß er sich der damaligen französischen Übersetzungen und
Interpretationen jener Autoren bediente.
Es wäre daher auch erforderlich,
daß
die Distanz der Senghorschen Ansicht zu jenen franzöeiechen Interpretationen
herausgearbeitet würde.

Dank gediegenen Studien, welche sowohl in Deutschland
(siehe u.a.Theodor Heinermann: Goethe in Frankreich.
In:
Euphorion,
Nr.33(1932),
5.328-340; Joachim Wieder,
op.cit.)
als auch in Frankreich
(Ferdinand
Baldensperger:
Goethe an France,
Paris 1904 u.1920;
Hippolyte Loiseau:
Goethe et
la France,
Paris 1930; Maurice Boucher: Goethescher Geist und zwanzigstes
Jahrhundert. Mainz 1947;
Pierre Grappin:
Über den Stand der Goethe-Forschung in
Frankreich.
In: Goethe, Jahrbuch der Goethe-Geeellschaft,
Nr.99
(1982),
5.148-
155) bereits durchgeführt worden sind, besteht über das franzöeische Goethebild
von der Goethezeit bis heutezutage fast kein Geheimnis mehr.
\\

Es wird sich zeigen,
daß die Texte Goethes,
auf die sich
Senghor als N~gritude-Theoretiker explizit bezieht, um den Stürmer
und Dränger Goethe als Vorbild im Rahmen seines Kampfes gegen den
westeuropäischen,
insbesondere französischen KUlturimperialismus
in Anspruch zu nehmen,
nur bedingt Senghors Anliegen entsprechen.
Andere,
ihm wahrscheinlich nicht bekannte Texte aber scheinen mir
mit seinem Anliegen vollkommen übereinzustimmen.
zwei solcher
Texte möchte ich zunächst exemplarisch erörtern:
Zum Shakespeares-
Tag (1771) und Von deutscher Baukunst (1773).
Diese beiden Schriften sind die unmittelbaren Folgen aus
Goethes Straßburger Aufenthalt, während dessen er sich im Kontakt
mit anderen jungen studierenden Deutschen - den Theologen Franz
Lerse und Friedrich Leopold Weyland,
dem Medizinstudenten Jung-
iI
stilling, dem Jurastudenten Heinrich Leopold Wagner und, gegen
I Ende seines Aufenthaltes, Jakob Michael Reinhold Lenz - und
besonders durch seine Gespräche mit Herder von den ästhetischen,
philosophischen und religiösen Einstellungen seiner Leipziger
Studienzeit zu den Ideen des Sturm und Drang entwickelte.
2.2.1
"ZUM SHAKESPEARES-TAG"
2.2.1.1
SHAKESPEARE AN DER STELLE DER FRANZÖSISCHEN
KLASSIZISTISCHEN ÄSTHETIK
\\,
Zum Shakespeares-Tag ist der Text einer Rede, die Goethe 1771
bei einer in seiner Familie veranstalteten Zeremonie zu Ehren des
englischen Dramatikers am protestantischen Wilhelm-Tag, dem

133 1
14.0ktober, gehalten hat. Vorgesehen war ursprünglich, daß Herder
diese Lobrede halten sollet dieser mußte sich aber leider kurz vor
der Feier bei der Familie entschuldigen (325).
Goethe, der durch
die Straßburger Gespräche mit Herder auch mit dessen Ideen über
Shakespeare vertraut war, konnte ihn in dieser Rolle also gut
ersetzen,
zumal er wohl schon für eine Shakespeare-Feier in
Salzmanns "straßburger Deutschen Gesellschaft"
eine Rede
vorbereitet hatte.
Bei jener Zeremonie aber, die an demselben Tag
wie die bei den Goethes stattfand, wurde die Shakespeare-Rede von
Franz Lerse gehalten(326) .
Goethes Rede wart wie Schrimpf sehr zutreffend schreibt,
"( ... )ein feierndes Bekenntnis des Sturm-und-Drang-Goethe zu
Natur und Genie,
ein pathetischer Dank an den Genius Shakespeare,
durch den sich der eben aus Straßburg nach Frankfurt
zurückgek~~7te Dichter zu sich selbst erweckt und befreit
fÜhlte."(
)
sie war/wie der Autor selbst sein Publikum warnt(328),
in einem
so emotionalen stil gehalten worden, daß man ihren Sinn ohne
Herders Shakespear (1773)
kaum erfassen kann(329).
In dieser Schrift zeigt Herder, wie Shakespeare,
nach den
Griechen Ächylus,
Sophokles und Euripides,
der wahre Genius der
dramatischen Schöpfung sei.
32S)Hans Joachim Schrimpf: Anmerkungen zu Goethes Schriften zur Literatur.
In:
Werket
München 1982,
8d.12,
S.668f
326)Ebenda, 5.668
327)Ebenda.
328)"Erwarten Sie nicht,
daß Ich viel ordentlich schreibe, Ruhe der Seele ist
kein Festtagskleid."
Zum Shake.peares-Tag.
In: Werke op.cit.,
8d.12, S.224
329)Obwohl Herders Text zwei Jahrs nach dem von Goethe erschien, existierte er
in seinen Grundlinien sicherlich schon zur Zeit der 5traßburger Gespräche
beider.
\\
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,
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.

Schon einige Jahrzehnte zuvor hatte der Schweizer Johann Jacob
Bodmer im Vorwort seiner critischen Abhandlung von dem Wunderbaren
in der Poesie (1740)
Shakespeares Werke als Produkte einer sehr
starken
schöpferischen Kraft gepriesen,
die auch den Deutschen,
da sie ähnlich wie die Engländer empfänden,
gefallen könnten, wenn
sie sich von der Philosophie - gemeint ist:
vom Rationalismus -
abkehrten
(330).
Auch Friedrich Nicolai in Briefe über den itzigen
Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755) und
;
I
Lessing in Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759)
und Die
Hamburgische Dramaturgie (1769)
hatten ihrerseits,
im Gegensatz zu
\\
Gottsched,
der weiterhin die Nachahmung der französischen
Klassiker forderte(331},
Shakespeare schon als Modell
vorgeschlagen. Während aber für Nicolai Shakespeares Verdienst
darin besteht,
Meisterwerke außerhalb jeder verbindlichen
Kompositionsregel produziert zu haben(332)
und Lessing sein Genie
darin sah,
daß er in seinen Werken instinktiv den Forderungen der
Alten besser als die Franzosen gerecht geworden sei(333),
ist er
\\
für Herder ein Genie, weil es ihm gelungen sei,
im Norden ein
330)"Das Herz,
auf welches diese Würkung geschieht,
ist ohne Zweifel bey den
Deutschen von einer Art,
wie bey den Engelländern." Johann Jacob Bodmer:
Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit
dem Wahrscheinlichen
(1740).
Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740 mit einem
Nachwort von wolfgang Bender,
Stuttgart 1966,
S.3f.
-"{ ... )dieee(gemeint ist die philosophische Wissenschaft} macht unsere Deutschen
seit einiger zeit 90 vernünftig und 90 Bchliessend,
daß sie zugleich matt und
trocken werden;" Joh.Jacob Bodmer,
op.cit.,S.4f.
331)vgl.J.Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst (1730)
332)Für ihn war Shakespeare "der Hann ohne Kenntniß der Regeln,
ohne
Gelehrsamkeit,
ohne Ordnung" Zitiert nach Jochen Schmidt:
Die Geschichte des
Genie-Gedankens in der deutschen Literatur,
Philosophie und Politik,
Darmstadt
1988, Bd.l, 5.161
333)"Auch nach den Must~rn der Alten die Sache zu entscheiden, ist 5hakespeare
ein weit größerer tragischer Dichter als Corneille; obgleich dieser die Alten
sehr wohl, und jener fast gar nicht gekannt hat." Gotthold Ephraim Lessing:
Briefe, die neueste Literatur betreffend (der 17.8rief).
In:
Werke,
hrsg.
von
Herbert G.Göpfert, München 1973,
Bd.S, 5.72
\\

135
Theater zu schaffen, wie es nie in Griechenland hätte entstehen
können:
"In Griechenland entstand das Drama, wie es im Norden nicht
entstehen konnte.
In Griechenland wars; was es im Norden nicht
seyn kann.
Im Norden ists ~j~o nicht und darf nicht seyn, was es
in Griechenland gewesen."(
)
Herder zeigt, wie die Charakteristika des griechischen Theaters
mit dessen Ursprung, d.i. mit dessen natürlichem Milieu verbunden
seien(335), wie,
von Äschylus bis zu Euripides, die Entwicklung
dieses Theaters sich allein im Zusammenhang mit der seines
Entstehungsmilieus vollzogen habe(336).
Die sogenannten
Kompositionsregeln - besonders die Regel der drei Einheiten -
seien mit der Lebenswelt der griechischen Autoren verbunden,
konnten also nur schlecht an andere Milieus angepasst werden.
\\
wie seine Vorgänger,
besonders Lessing,
kritisiert auch Herder
I
I
das französische Theater von der klassischen Periode bis zu
I
Voltaire(337) , und er zeigt,
inwiefern es eine schlechte
,
Nachahmung des alt-griechischen gewesen sei(338).
Shakes pe are dagegen,
indem er sich nach seinem Milieu und den
historischen Bedingungen seiner zeit gerichtet habe,
sei es dank
seinem Genie gelungen, das Ziel der Tragödie zu erreichen: die
334)Johann Gottfried Herder: Shakespear. In: Von deutscher Art und Kunst
(1773),
Stuttgart 1988/ S.67
335)"Jene Simp1icität der griechischen Fabel,
jener Nüchternheit griechischer
Sitten/( ... ) Musik,
8Uhne, Einheit des Ort~ und der Zeit -das Alles lag ohne
Kunst und Zauberei
( ... ) natürlich und wesentlich im Ursprunge griechischer
Tragödie
( ... )" J.G.Herder:
Shakespear, op.cit.,
S.67
-Auch: "Alle diese Dinge lagen damals in der Natur, daß der Dichter mit all
seiner Kunst ohne aie nichts konnte." Ebenda, 5.69
336)Ebenda, S.69f
337)Ebenda, S.71ff
338)Ebenda, S.71
\\~'!lf1!!lII_ _IIlIi_lllliliillllllliiiiilliiiliii.

• • •_ . . ._ • •iliiiIiili_iiIII__'1I:41:l,~e:lla;:l;IlI!M~p
_ _- - -

Erregung von Furcht und Mitleid (339).
Da die Argumentation das
dramatische Schaffen mit dem Milieu und den historischen
Bedingungen des Autors in einen Zusammenhang bringt,
ist es nur
konsequent,
daß Herder als Modell für die Deutschen keineswegs
Sophokles,
den Griechen,
sondern Shakespeares nordischen und
"modernen" Menschen sieht:
"( ... )wenn Jener Griechen vorstellt und lehrt und rührt und
bildet,
so 12Brt, rührt und bildet Shakespear nordische
Menschen."(
)
Es schien Herder VÖllig außer Frage,
daß jeder Deutsche wie er
selbst dachte:
"( ... )Ich bin Shakespear näher als dem Griechen. I, (341)
Es sind die gleichen Ideen, die in Goethes Rede kompakt und
dithyrambisch dargestellt wurden. Mit derselben Begeisterung wie
bei Herder heißt es dort über Shakespeare:
"Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich auf
zeitlebens mit ihm eigen,
und wie ich mit dem ersten Stück fertig
war,
stund ich wie ein Blindgeborener,
dem eine Wunderhand das
Gesicht in einem Augenblick schenkt.
Ich erkannte,
ich fühlte aufs
lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert,
alles
mir neu,
unbekannt~ und das ungewohnte Licht machte mir
Augenschmerzen.,,(3 2)
339) "Shakeepear fand vor und um eich nichte weniger ala Simplicität von
Vaterlandsaitten,
Thaten, Neigungen und Geachichtatradition
( ... )Da aber Genie
bekanntermaßen mehr ist ale Philosophie( ... )ao ware ein Sterblicher mit
Götterkraft begabt,

eben aus dem entgegen gesetztesten stoff,
und in der
verschiedensten Bearbeitung dieselbe Würkung hervorzurufen,
Furcht und Mitleidl
und beide in einem Grade,
wie jener Erste Stoff und Bearbeitung ee kaum vormals
hervorzubringen vermochtl" Ebenda,
5.76. Das Wort "Erate"
ist wie im Original.
340)Ebenda,
S.77f
341)Ebenda, 5.77
342)J.W.Goethe:
Zum Shakeapeares-Tag.
In:
Werke, Hamburger Ausgabe,
München
1982, 8d.12,
S.224f
d

137
Über die Bewunderung hinaus kommt, wie bei Herder,
in Goethes Rede
innige Dankbarkeit Shakespeare gegenüber zum Ausdruck:
\\
"Ich zweif~lte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu
entsagen.
Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig
ängstlich,
die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln
unserer Einbildungskraft.
Ich sprang in die freie Luft und fühlte
erst, daß ich Hände und Füße hatte( ... ) Dank sei meinem
erkenntlichen Ge~!~s, ich fühle noch immer lebhaft, was ich
gewonnen habe."(
)
Selbstverständlich wirft Goethe, wie sein "Lehrer"
Herder, das
französische Theater und dessen deutsche Nachahmer über Bord
(344),
sich über sie lustig machend:
\\'Französchen, was willst du !!~ der griechischen Rüstung, sie
ist dir zu groß und zu schwer." (
)
Dem französischen Theater wird vorgeworfen, daß es nicht
natürlich sei wie das griechische, welches es nachzuahmem
vermeint, daß es naturwidrig sei, wie es folgender Aussage von
Herder zu entnehmen ist:
"Ich will nicht bloß an die sogenannten Theaterregeln denken,
die man dem guten Aristoteles beimißt,
( ... ),
sondern würklich
fragen,
ob über das gleissende, klassische Ding,
was die
Corneille,
Racine und Volta ire gegeben haben,
über die Reihe
schöner Auftritte,
Gespräche, Verse und Reime, mit der Abmess~n~,
dem Wohlstande,
dem Glanze - etwas in der Welt möglich sey?"( 4 )
343)J.w.Goethe:
Zum 5hakeapearea-Tag, op.cit.,
5.225
344)Ebenda, 5.225f
345lEbenda, 5.225
346lJ.G.Herder:
5hakeapear, op.cit.,
71
I,

Von dem natürlichen Charakter von Shakespeares Gestalten
begeistert, ruft Goethe in demselben Sinne aus:
"Natur!
Natur!
nichts so Natur als Shakespeares
Men s che n. " ( 34 7 )
Shakespeares Gestalten seien auch deshalb natürlich, weil er sie
dank seinem Genie so schaffe wie Prometheus und ihnen seinen Geist
einhauche(348). Daraus entstehe eine Welt, wie sie wirklich ist,
in ihrer Ambivalenz von gut und böse(349).
2.2.1.2
GOETHES SHAKESPEARE-REDE UND SENGHORS NEGRITUDE
Zum Shakespeares-Tag ist tatsächlich ein heftiger
Auflehnungsakt des jungen Goethe gegen die damals in Deutschland
geltende französische Poetik. Ein solcher Kampf mußte im
Frankreich der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts als längst
überholt erscheinen. Obwohl das literarische Frankreich sich
offiziell vom Klassizismus nie distanziert hat(350),
hatte es seit
I dem Kampf um Hernani von Victor Hugo (351) gelernt, Werke
außerhalb der Ästhetik des französischen Klassizismus zu schätzen.
347)J.w.Goethe,
Zum 5hakespearea-Tag, op.cit.,
5.226
\\,
348)"Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug aaine Menachen
nach,
( ... ) und dann belebte er sie mit dem Hauch seines Geistes,
er redet aus
allen, und man erkennt ihre Verwandtschaft."
Ebenda,
5.227
349)"Oas, was edle Philosophen von der welt gesagt haben, gilt auch von
Shakeapearen, das, was wir bös nennen,
ist nur die andere Seite vom Guten, die
80 notwendig zu seiner Existenz und in das Ganze gehört( ... )~ Ebenda, 5.227
350 ,Vg l.Histoire de la langue et de la litt~rature fransaises des origines ä
1900. Publi~e sous la direction de L. Petit de Julleville,
Librairie Armand
Collin, Paris,
tome VII;
1905, 5.153
3Sl)Victor Hugos Drama Hernani
(1830),
das in völligem Gegensatz zur klassischen
Poetik verfasst wurde, war sozusagen das Manifest der romantischen Poetik in
Frankreich.
Bei dessen zwei ersten Aufführungen durch die Comedie Francaiae karn
es zu harten Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Romantik und
)' liJiii
iJ
=

·--1
139
Dies hätte aber nicht gehindert,
daß Senghor mit guten Gründen
hätte glauben können, diese Schrift führe denselben Kampf wie die
beginnende Negritude-Bewegung.
Er hätte sich durch sie in seinen
Bestrebungen bestätigt fühlen können,
eine der
schwarzafrikanischen Natur angepasste Literatur zu begründen. Aber
Goethes Kampfschrift beruft sich auf Shakespeare, einen Autor
also, der einem Volk angehört, das nach Frobenius'
Lehre zur
hamitischen zivilisation gehört,
zu eben jener zivilisation, gegen
welche die Anhänger der Negritude-Bewegung sich auflehnten.
Mir scheint, das wäre für Senghor Grund genug gewesen,
sich
nicht auf Goethes Begeisterung für Shakespeare zu berufen,
auch
wenn er dessen gegen den französischen Klassizismus gerichtete
Rede gekannt hätte.
2.2.2
"VON DEUTSCHER BAUKUNST"
2.2.2.1
DER GOTISCHE STIL,
EINE CHARAKTERISTISCH-DEUTSCHE
ARCHITEKTUR
Bis zu seinem Straßburger studienaufenthalt war für Goethe, wie
für den an der griechisch-römischen Architektur orientierten
Geschmack seiner Zeit, die gotische Architektur, wie er selbst die
Definition von Johann Georg Sulzer in Allgemeine Theorie der
\\
Verteidigern der Klassik, welche in der Geschichte der französischen Literatur
unter der Bezeichnung "la Bataille d'Hernani" bekannt sind.
rr
:Tiifr
'n
LL 1..1 .IU)

140
schönen Künste nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter
übertreibend umschreibt,
Synonym von:
"unbestimmtem, ungeordnetem,
unnatürlichem,
zusammengestopeltem, aufgeflicktem, überladenem( . . . ),,(352)
Von deutscher Baukunst ist der erste und bekannteste Niederschlag
von Goethes Rebellion gegen den herrschenden Geschmack in der
Architektur.
Es war für Goethe,
nach eigenem Bekunden,
eine richtige
Offenbarung, als er das Straßburger Münster,
dieses vorn deutschen
Architekten Erwin von steinbach in gotischem stil errichtete
Gebäude,
zum ersten Mal zu Gesicht bekam.
"Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der
Anblick,
als ich d~S~r trat.
Ein ganzer,
großer Eindruck füllte
meine Seele ( ... ) " (
)
Nachdem er im ersten Teil des Textes das Genie des Architekten
gefeiert hat, unternimmt es Goethe, die gotische Architektur gegen
den griechisch-romanischen Geschmack zu verteidigen.
"Es ist im kleinen Geschmack,
sagt der Italiener, und geht
vorbey, Kindereyen,
lallt der Franzose nach, und schnellt
\\
352)J.W,Goethe: Von Deutscher Baukunst.
In: Von deutscher Art und Kunstr
einige
fliegende Blätter
/ Herder,
Goethe,
Frisi.
Möser.
Hrsg.
von Hans Dietrich
Irm.cher,
5tuttgart 1977,
5.99
-Goethe bezieht sich hier auf folgende Definition, die J.G.5u1zer von dem
Adjektiv "gotisch" gab:
"Man bedient sich dieses Beyworts in den schönen Künsten
vielfältig, um dadurch einen barbarischen Geschmack anzudeuten,
wiewohl der Sinn
des AusdrUCKS selten genau bestimmt wird.
Fürnehmlich scheint er eine
Ungeschicklichkeit, den Hangel der Schönheit und guter Verhältnisse in
sichtbaren Formen anzuzeigen,
und ist daher entstanden,
daß die Goten,
die sich
in Italien niedergelassen, die Werke der alten Baukunst auf eine ungeschickte
Art nachgeahmt haben." J.G.Sulzer:
Allgemeine Theorie der schönen Künste nach
alphabetischer Ordnung der Kunstwörter,
Leipzig
(1771).
Nachdruck Hi1desheim
1967, Bd.2 5.433
353)von deutscher Baukunst, op.cit.,
5.99
.....'''''Ef"'-..
, , , " " ~ ' "
· m
. . . .
. .
. . .
: . . .
_

141
triumphierend auf sein~ ~ose a la Greque. Was habt ihr getan, daß
ihr verachten dürft?"( 5 )
Sich auf den Essai sur l'architecture
(1733j55)des französischen
Jesuiten Marc-Antoine Laugier beziehend, dessen deutsche Version
aus dem Jahr 1768 in der Goetheschen Familienbibliothek zu
Frankfurt am Main vorhanden war, verwirft Goethe aggressiv diesen
griechisch-lateinischen Baukanon, dessen Hauptcharakteristikum die
Säule ist.
"Die Säule liegt dir sehr am Herzen,
und in anderer Weltgegend
wärest du Prophet. 11 (355)
Es hieße einfach, der Natur Gewalt anzutun, wenn Franzosen und
Italiener, die sich überhaupt nicht rühmen können,
einen stil
geschaffen zu haben(356) , die Säule in Deutschland einführen
woll ten.
Denn:
"Säule ist mit nichten ein Bestandteil unserer Wohnungen; sie
widerspricht vielmehr dem Wesen all unsrer Gebäude.
Unsere Häuser
entstehen nicht aus vier Säulen in vier Ecken; sie entstehen aus
vier Mauern auf vier Seiten, die statt aller Säulen sind,
alle
Säulen ausschließen,
und wo sie aufgeflickt,
sind sie bela~~;nder
Überfluß.
Eben das gilt von unsren Palästen und Kirchen." (
)
Es heißt also die Natur der Dinge verkennen, wenn die romanischen
Völker sich anmaßen,
die Deutschen zu lehren, was sie brauchen.
354)Ebenda, 5.96
355)Ebenda, 5.98
356)"Oa der Italiener sich keiner eignen (Baukunst) rühInen darf, vLelweniger der
Franzos." Ebenda, 5.101
357)Ebenda, 5.98
:
;
::

Teil und dem ganzen Gebäude(360) , wodurch das Ganze den Charakter
eines Werks der Natur bekomme(361).
Hier drückt sich die
künstlerische Reife des Baumeisters aus,
deren Prozeß
folgendermaßen geschildert wird:
"Jemehr sich die Seele erhebt zu dem Gefühl der Verhältnisse,
die allein schön und von Ewigkeit sind,
deren Hauptakkorde man
beweisen,
deren Geheimnisse man nur fUhlen kann,
in denen das
Leben des gottgleichen Genius in seeligen Melodien herumwälzt;
jemehr diese Schönheit in das Wesen eines Geistes eindringt,
daß
sie mit ihm entstanden ZU sein schein~, daß ihm nichts genugthut
als sie,
daß nichts aus sich wirkt als sie,
desto glücklicher ist
der Künstler,
desto herrlicher ist er,
dest~ ~iefgebeug~er stehen
wir da und beten an den Gesalbten Gottes."(
6 )
Goethe legt hier dar,
wie man sich zu dem entwickelt, was er
"gebildete Empfindsamkeit" des Künstlers(363)
nennt,
und dessen
Vollkommenheit im völligen Einklang zwischen dem "tiefsten Gefühl
der Wahrheit und der Schönheit der Verhältnisse,,(364)
bestehe.
Eben auf einem solchen Reifestand befand sich laut Goethe Erwin
von steinbach,
der Baukünstler des Straßburger Doms; auf diesem
Niveau - wie es am Ende des Textes gedeutet wird(365)
-
stimmt das
Charakteristische mit dem Allgemeinen und Überzeitlichen Uberein.
Hans Dietrich Irmscher hat vollkommen recht,
wenn er hier die
360)"( ... )weil er aus tausend harmonirenden Einzelnheiten bestand( ... )" Von
deutscher Baukunst,
op.cit.,
S.99
-"Wenn( ... )die unzähligen Theile zu ganzen Hassen verschmolzen( ... )'1 Ebenda,
S .100
361)"Wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringste Z~serchsn. alles
Gestalt,
und alles zweckend zum Ganzen( ... )" Ebenda,
S.lOOf
362)Ebenda, S.102f
363)Ebenda, 5.102
364)Ebenda, 5.103
365)vgl. dazu Hans Dietrich Irmscher. Nachwort zu "Von deutscher Art und Kunst":
In, Von deutscher Art und Kunst ... , op.cit.,
S.193

I "~ ,....o't-. ';" , ..''. ', '.' ; .,\\..' ," ". • •~

"Du willst uns lehren, was wir brauchen sollen, weil das, was
wir brauchen,
sich nach deinen Grundsätzen nicht rechtfertigen
läßt."C J5S )
Für den stürmer und Dränger Goethe also ist die gotische Baukunst
diejenige, die für die natürlichen Gegebenheiten in Deutschland
geeignet ist; anstatt sie,
vorn griechisch-romanischen Baustil
beeinflußt,
zu verachten,
sollte jeder Deutsche darauf stolz sein
und sie verherrlichen, wie er selbst,
Goethe,
es mit folgenden
Worten tut:
"Das ist deutsche Baukunst, unsre Baukunst( . . . I,,(J59)
2.2.2.2
VERGLEICH DER VON GOETHE GEFORDERTEN ÄSTHETIK MIT
DER VON SENGHOR DARGESTELLTEN SCHWARZAFRIKANISCHEN
Goethe setzt hier dem griechisch-romanischen ästhetischen
Kanon eine Baukunst entgegen, die er für typischdeutsch hält. Gibt
es zwischen dieser "gotischen Ästhetik", wie Goethe sie durch das
I Straßburger Münster verwirklicht sieht, und der von Senghor
I
,
postulierten schwarzafrikanischen Ästhetik eine Beziehung, die
~
Goethe als Verbündeten der Negritude-Bewegung hätte erscheinen
lassen können?
Was Goethe am Straßburger Dom fasziniert,
das ist zunächst die
\\
Harmonie zwischen allen Teilen untereinander und zwischen jedem
1
3S8)Ebenda, S.9?f
3S9)Ebenda, 5.101
f
IM
!1;[.
I
1111

Ästhetik des Klassikers Goethe schon im Ansatz vorformuliert
zwischen einer solchen Ästhetik und der von Senghor
postulierten schwarzafrikanischen besteht natürlich ein
Unterschied. Senghor selbst formuliert ihn folgendermaßen:
"Dans l'esthetique greco-latine, qui a survlcu dans l'Occident
europlen,
le Moyen-Age exceptl,
jusqu'a la fin du XIXe siecle,
l'art est "imitation de la nature" -je veux dire:
"imitation
corrigle"i en Afrique noire,
il est explication et connaissance du
monde, c'est-a-dire participation sensible a la rlalite qui sous-
tend l'univers,
a la surrlalite, plus exactement aux forces
vitales qui animent l'univers.
L'Europlen se plalt a reconnaitre
le monde par la reproduction de l'objet,
( ... )
le Nlg5g-Africain,
a le connaitre vitalement par l'image et le rythme."(
7)
Über steinbachs Klassizität hinaus,
die sich im Straßburger
Münster ausdrückt,
und die den Deutschen Goethe und den Franzosen
Laugier gleichermaßen faszinierte,
betont Goethe das,
was er als
Charakteristisches in diesem Meisterwerke sieht:
stärke und
Rauheit des stils
(368).
Denn für den Verfasser der Schrift Von
deutscher Baukunst trifft es nicht zu/
daß die schönen Künste -
nach der von J.G.Sulzer vertretenen traditionnellen AUffassung -
aus der Neigung des Menschen entstanden seien, alles um sich herum
366)I'Man kann also tat8~chlich sagen, daß Goethe in seiner Grundposition sich
gar nicht 80 weit vom Standpunkt des bekämpften Klassizismus entfernt,
dessen
spannungs losen Schönheitsbegriff er freilich mit äußerster Dynamik erfüllt."
I Hans Dietrich Irmacher, ebenda
367) "In der gr iechiach-lateini9c:'e:: ~.5,:hE':.':'}:
-, ~ --~~_~,;;;;,;.;
Mittelalters -
bis 2'.:r:1 E':-.':e
jef
:=-, ..;i.;-.;-;-.~r..u.a:..~~-<Utt...
überlebt hat,
iso ::c. '.-;:
"'>-'''-='''C._~~
Nachahmung" i
.:.:"'. S:."-: ...·.:.=;'-:=-~
....: ~_....,.;~. \\
gefühlsmäßige reilr..r..=4 ,n ~, -~~1il', ,
:.: ;;:: •• : ;~"., 'iono"., .n c11" ..,\\,,~,
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""",,,-.-.: ~;. ~.J'. 'I.,n dure" "b~\\fl~~i~':;)
':-~.-'---':::;",::""'__ .'r: .• ~.: ~:/~.•• :
J~~ ';"!Ul ·dt.~l, durch daß ~ild une den ~h,·t'tut'u, ..
~. ;.5.:::;::c:-: :.. ::3:,-.~::.=-..:a ;,eqro-africaine. In: Li.bel·t~·.. r '('~
... ' - .
~.. 0:," 0"
.......
..
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~'_"

.. ..
1%4, 5.20Bf
368)von deutscher Baukunst, op.cit., 5.102 u. 5.103
A

verschönern zu wollen
(369).
In einer Rezension in den Frankfurter
Gelehrten Anzeigen
(Nr.101 vom 18.12.1772) über Sulzers Werk Die
schönen Künste in ihrem Ursprung,
ihrer wahren Natur und besten
Anwendung
(1772)
präzisiert Goethe seine Ansichten.
Im Einklang
mit bestimmten aufklärerischen Vorstellungen vertrat Sulzer die
Meinung,
daß:
"( ... )das Aug' und die andren Sinnen vo~ 81len seiten her
durch angenehme Eindrücke gerührt werden."( 7 )
Denn:
"Die Natur wollte durch die von allen seiten her auf uns
zuströmenden Anne~mlichkeiten,unsreG~~yter überhaupt zu der
Sanftmut und Empf1ndsamke1t b11den."(
)
Dieser Theorie eines sänftigenden Einflusses auf den Menschen hält
Goethe eine Frage entgegen, die auf ein umfassenderes Verständnis
der Natur abzielt:
"Sind die wütenden Stürme,
wasserfluten,
Feuerregen,
unterirdische Glut,
und Tod in allen Elementen nicht ebenso wahre
Zeugen ihres ewigen Lebens als die herrlich ~~5gehende Sonne über
volle Weinberge und dUftende Orangenhaine?"(
)
Es trifft für ihn also nicht zu,
daß die Natur in uns nur
Sanftmut und Empfindsamkeit zu entwickeln suche:
369)"5ie wollen euch glauben machen, die schönen Künste seyen entstanden aus dem
Hang, den wir haben Bollen,
die Dinge rings um uns zu ver8chönern.~ Ebenda,
5.102
370)Zitiert nach Goethe: Aue den Frankfurter gelehrten Anzeigen (1772). In:
Goethes Werke, op.cit., Bd.12,
5.17
371 jEbenda
372 )Ebenda

J!!'i'."'"
....
. /,
"~i ... )sie härtet vielmehr, Gott sei Dank,
ihre echten Kinder
gegen die Schmerzen und Übel ab,
die sie ihnen unablässig
bereitet,
so daß wir den glücklichsten Menschen daran sehen
können, der der stärkste wäre,
dem Übel zu entgegnen,
es von sich
zu weise~ ~nd ihm zum Trotz den Gang seines willens zu
gehen."( 7 )
Wenn Kunst darin bestünde,
die Dinge um uns herum zu verschönern,
dann geschähe das nicht im Einklang mit der Natur; denn:
"Was wir von der Natur sehen,
ist Kraft, die Kraft
verschlingt; nichts gegenwärtig,
alles vorübergehend,
tausend
Keime zertreten,
jeden Augenblick tausend geboren,
groß und
bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich,
~~i und
bös,
alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend."(
)
Inmitten dieser widerspruchsvollen Prozesse,
aus denen die Natur
bestehe,
bemühe sich der Mensch, der voller Bestandteil derselben
sei, durch die künstlerische Schöpfung gegen die zerstörende Kraft
anzukämpfen.
"( ... )die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus
den Bemühungen des Indivi~~~ms, sich gegen die zerstörende Kraft
des Ganzen zu erhalten."(
)
Deshalb besteht das Wesentliche in der Kunst für Goethe nicht
darin,
unbedingt etwas den Sinnen Angenehmes zu produzieren,
sondern im Schaffensakt selbst. Denn:
"( ... )um den Künstler allein ist's zu tun,
daß ( ... ),
in sein
Instrument Yersunken,
er mit allen seinen Empfindungen und Kräften
da lebt." (3"10)
373)Ebenda
374)Ebenda, 5.18
375)Ebenda, 5.18
376)Ebenda, 5.20

I
14;
In der Schrift Von deutscher Baukunst drückt Goethe das in für
seine Zeit äußerst revolutionären Worten aus:
"Die Kunst ist lang bildend,
eh sie schön ist,
und doch,
so
wahre,
große Kunst,
ja, oft wahrer und größer,
als die Schöne
selbst. Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur,
die gleich
sich thätig beweist,
wann seine Existenz gesichert ist.
Sobald er
nichts zu sorgen Ulld zu
fürchten hat, greift der Halbgott, wirksam
in seiner Ruhe,
umher nach Stoff ihm seinen Geist einzuhauchen.
Und so modelt der Wilde mit abenteuerlichen Zügen,
gräßlichen
Gestalten,
hohen Farben,
seine Cocos,
seine Federn, und seinen
Körper.
Und laßt diese Bildnerey aus den willkürlichsten Formen
bestehen,
sie wird ohne Gestaltsverhältniß zusammenstimme~7 denn
Eine Empfindung schuf sie zum karakteristischen Ganzen."(
7)
Sieht man von den Bedingungen,
Ruhe und Sicherheit,ab, die Goethe
hier als
zur künstlerischen Schöpfung notwendig bezeichnet,
50
hat man hier den Eindruck,
als läse man einen europäischen
Kunstkritiker vom Ende des 19.
und dem Anfang des 20.Jahrhunderts
über die Kunst der sogenannten primitiven Völker.
Diese kühne
Erweiterung des ästhetischen Horizonts im damaligen Europa hätte
genügen können,
um aus Goe~he ein Vorbild für die Rebellion der
Negritude-Bewegung zu machen,
falls Senghor diese Schrift gekannt
hätte.
War denn hier nicht schon die Rehabilitierung der
schwarzafrikanischen bildenden Kunst formuliert,
die der Europäer
im allgemeinen und im besonderen der Kolonialherr mit verachtung
betrachteten?
Die Vorstellung von einer "bildenden Natur" in jedem Menschen,
die der Verfasser der Schrift Von deutscher Baukunst vertritt,
stimmt mit Senghors Vorstellung einer "participation sensible ä la
realite qui sous-tend l'univers"
( einer gefühlsmäßigen Teilnahme
an der Realität,
die dem Universum zugrunde liegt)
des
Schwarzafrikaners überein.
Diese Nähe der beiden Vorstellungen
377)von deutacher Baukunat,
op.cit.,
5.102
~~
il\\'~iJll_ni!liLuaibid i2i2
LEb S.aiiUUttJ 12
2UJW sau 2!
SiE
, i.LJ '

beruht darauf,
wie Goethe und Senghor die innere Verfassung sehen,
mit der der Künstler in den Schaffensprozeß eintritt. Auch wenn
Goethes Aussage eine universale GÜltigkeit beansprucht und Senghor
sich auf schwarzafrikanische VBlke~ be~chränkt, stimmen sie doch
beide darin überein,
daß beide den Künstler als ein Individuum
betrachten,
das mit der Natur kommuniziert und sie durch sein
Temperament,
seine PersBnlichkeit,
seine Kultur ausdrückt.
Indem
der Künstler,
nach Goethes Vorstellung,
sich durch seine Schöpfung
zu verewigen suche,
fixiert er nur einen Teil der Natur,
wie er
sie in ihrer lebendigen Wirklichkeit wahrnimmt,
welche unseren
sinnen nicht immer angenehm ist.
somit ist seine Nachahmung der
Natur keine "korrigierte Nachahmung"
(imitation corrigee) mehr,
wie es Senghor von der griechisch-romanischen Ästhetik meint;
seine Kunst geht über das bloße Bedürfnis hinaus,
"die Welt durch
die Reproduktion des Objektes zu erkennen"
(de conna1tre le monde
par la reproduction de l'objet),
um der Ausdruck jener Lebenskraft
zu werden,
worin die Natur bei Goethe besteht und an der der
Künstler teilhat.
Dies bedeutet,
daß der Künstler für den jungen
Goethe an denselben "vitalen Kräften"
(forces vitales)
beteiligt
ist,
von denen Senghor spricht,
an den Kräften nämlich,
"die das
Universum beleben"
(qui animent 1 'univers) . Aus dieser Teilhabe
entsteht das,
\\,'as Goethe die "charakteristische Kunst" nennt, und
von der er sagt:
"Diese karakteristische Kunst,
ist nun die einzige wahre.
Wenn
sie aus inniger,
einiger,
eigner,
selbständiger Empfindung um sich
wirkt,
unbekümmert alles Fremden,
da mag sie aus Wildheit,
oder
aus gebilde~7§ Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz und
lebend ig. " (
)
37B)von deutscher 3aUKU:"lst,
op.cit.,
$.102
_'lIIliIlllllI!llI1il11• • • • • • • • • • • • •IIIII.IEILEIllIlEII2i411MIIIIC.UlIli2• • •
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",
:1-"
Solche Gedanken über die Kunst hätten Wasser auf die MÜhle
Senghors und aller anderen vertreter der Negritude-Bewegung leiten
können,
welche forderten,
in ihrem kulturellen Anderssein
respektiert zu werden.
Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß Hermann Hesse
in einer Rezension über earl Einsteins Essay Negerplastik
(379)
einen Vergleich zwischen der Negerkunst und dem gotischen stil
anstellt(380).
Nachdem er den Wert dieser Kunst unterstrichen
hat(381),
schließt Hesse mit folgender Bemerkung:
"Wir sind dankbar für dieses Buch über die Negerkunst,
nicht
weil wir wieder ein stückchen Wissen,
einen Bissen stoff erwischt
haben,
sondern weil hier Lebendiges zu uns spricht in Lauten,
die
wir zum Teil verstehen, die uns Ahnungen wecken und die Seele
weiten. Man gibt sich viel Mühe mit dem Studium dessen,
was die
Menschen, Völker und zeiten voneinander trennt.
Achten wir je und
je auch wieder auf das,
was alle Menschen verbinq~~! Etwas davon
sieht uns dann auch aus den Negerplastiken an."(
)
Mit einem solchen Werk der Annäherung zwischen Menschen und
Völkern hatte Goethe schon in seiner Jugendschrift Von deutscher
Baukunst begonnen,
auch wenn sie einen aggressiv nationalen
Charakter aufzuweisen scheint. Goethe wollte hier nicht nur
379)carl Einetein:
Neger'plastik
(1915).
In:
'!"Y'erke,
hrsg.
von Rolf-Peter Baacke,
Eerlin 1980,
Ed.l,
5.245-263
380)"Der erste Eindruck ist der von Kinderarbeiten,
der Eindruck der
Primitivität;
( ... )bis sich ze:'gc ,
daß dies Gefühl der Überlegenheit nur auf
tiefem Nichtkennen ber~ht. Dann beginnt man nachdenklich zu werden und sich etwa
der gotischen Plastik oder der oscasiatischen Kunst zu erinnern, deren Werke von
uns Europäern und
Mo~e=:,en auch einst wie Kincerspielereien betrachtet und
lediglich einer gewisse~ Drolligkeit wegen beliebt waren. Heute erkennen wir in
..
jenen Kunstwerken höc~st wertvolle Leistung eines Kunstwollens
( ... )"
Hermann
Hesse:
Die Plastik der ~;eoer. Vossische Zeiturlg,
vom 30.
Juli 1915,
in:
earl
I Einatein: h'erke, op.cit., 3d.l, S.505. r....~rvorhebung vonmir.
381)"Wir haben das Recht,
diese K~nst abzulehnen,
sie als
fremd und störend zu
empfindeni aber wir haben kein Recht,
sie nicht als Kunst,
nicht als notwendig
und in sich tief begrUndec und wertvoll anzuerkennen."
Ebenda,
8.506
382)Ebenda,
5.506

\\
15CoI
titanische Kraft verherrlichen
(383),
sondern er beabsichtigte vor
allem,
eine Ästhetik zu entwerfen,
die den Respekt vor der Kunst
jedes Volkes,
jeder Kultur eben in dem garantierte, was sie
Originales, Charakteristisches in sich hat,
und mit dessen
Verwirklichung gerade die Möglichkeit bestehe,
zur Klassizität zu
gelangen, wie es Erwin von Steinbach,
dem Baukünstler des
Straßburger Münsters,
im gotischen stil gelungen war.
Daß Senghor
diese Schrift nicht als Beispiel der Rebellion des stürmers und
Drängers Goethe in Anspruch genommen hat,
kann nicht anders
erklärt werden,
als daß er diesen Text nicht gekannt hat.
Daß Senghors Sympathie für die deutsche Kultur - besonders für
die der Goethezeit - mit Analogien zwischen seiner eigenen
situation des Angehörigen eines von Frankreich kolonisierten Volks
und der des von Frankreich kulturell und zeitweise auch politisch
kolonisierten Deutschland der Goethezeit zusammenhing,
ist schwer
zu leugnen.
Senghor ging es darum,
eine schwarzafrikanische kulturelle
Identität gegen den anmaßenden französischen Kolonialherrn zu
behaupten und sich dabei auf das Vorbild Goethes und der deutschen
stürmer und Dränger und Romantiker zu stützen.
Zu dieser Anlehnung
ebnete ihm der deutsche Ethnologe Leo Frobenius den Weg mit seiner
Lehre von einer Seelenverwandtschaft zwischen Deutschen und
Schwarzafrikanern.
Frobenius'
Einfluß auf Senghor mag andererseits erklären, daß
dieser Goethes Rede Zum Shakesoeares-Tag, auch wenn er sie gekannt
383),t( ... )fUr Goethe bedeutete der gotische Stil,
wie er im MUnster zum Auadruck
kam,
vor allem die Eigenschaften von titani9cher Kraft und Erhabenheit und
bildete d~~it einen Gegenpol 4U den künstlichen und oberflächlichen
Eigenschaften des Rokoko."

W.D.Robson-Scott:
Goethe und die Tradition der
bildenden Künste.
In:
Gcethe und die Tradition,
hrsg.
von Hans Reiss,
Frankfurt
am Hain 1972,
S,200
sas::
iZSi

j.;';~'
J
,<
~~,.':~:
.\\f
....
hätte, nicht zu den Texten zählen konnte,
auf welche er sich bei
seiner Rebellion gegen die französische Kultur stützen mochte. Was
die Schrift Von deutscher Baukunst betrifft,
so hätte sie ihm
dagegen problemlos die entschiedenste Argumentationshilfe leisten
können.
2.3
MODELLE DER REBELLION:
SENGHOR UND DER STÜ&'lER UND
DRÄNG ER GOETHE
Im ersten seiner beiden Essays zum Thema Negritude et Germanite
hat Senghor mitgeteilt, wie er zwischen 1927 und 1934 am Lycee
Louis-Le-Grand in Paris deutsche Philosophen gelesen und mit
Begeisterung Musik der deutschen Romantik gehört habe(384).
Nach der Schulzeit habe sich seine Rezeption der deutschen
Literatur dann in zwei Hauptetappen entfaltet.
a)
Die Zeit von 1936 bis 1939 sei -
besonders nach der Lektüre
von Leo Frobenius - von einem sehr starken Interesse am Sturm und
Drang und an der deutschen Romantik geprägt gewesen(385).
b)
seit 1941, während er in deutscher Kriegsgefangenschaft in
Frankreich war,
habe er sich zur Weimarer Klassik bekehrt(386).
384)Siehe hnmerkung 17 der Einleitung.
38S)L.s.senghor: Negri"ude et Germanite 1, op.cit.
S.14
386)Ebenda,
S.lSf
]$
S2
3

\\
151
2.3.1
STURM UND DRANG UND ROMANTIK IN SENGHORS SICHT
Was in Senghors Schriften über die deutsche Literatur auffällt,
ist die typisch französische vermengung von Sturm und Drang und
Romantik.
Dies wirkt sich besonders auf das Bild aus,
das er sich
von Goethe gemacht hat. Während er in dem Essay Le Message de
Goethe aux Negres nouveaux noch den Unterschied zwischen dem
Stürmer und Dränger und dem Klassiker Goethe deutlich macht(387),
heißt es in der späteren Friedenpreisrede L'Accord conciliant:
"si donc Goethe est classique,
c'est qu'il a participe au
mouvement du Sturm und Drang,
qu'il a commence par etre romantique
et qu'il s'est reste,
dans son sUbconscient,
jusqu'a sa
mort.,,(38 )
Es handelt sich hier keineswegs um eine naive verwechslung der
beiden literarischen Bewegungen,
sondern um deren vollkommen
bewußte Gleichsetzung,
die in folgender Aussage noch deutlicher
wird:
"Romantique parce que,
tournant le dos a
l'imitation de
l'etranger,il a decide d'etre lui-meme en eta nt allemand,
que,
ce
faisant,
il s'adressait "directement au peuple,
a son coeur,
sans
passer par le pressoir de la critique".
Oui,
il s'est d'abord
adresse au peuple allemand,
coeur a coeur,
en retournant, avant
Novalis, aux sources vives du Lied et du Märchen:
aux forces
obscures du desir et du sentiment,
exprimees dans des i~§~es
analogiques surgies de la terre et du ciel allemands."(
)
387)L.S.Senghor:
Le Message da Goethe aux N~ore9 nouveaux, op.cit.
- Dort spricht Ser.ghor zunächst von Goethe als dem Vertreter des Sturm und
Drangs
(5.84); dann vom Klassiker Goethe
(5.84-86)
388)"wenn also Goethe ein Klassiker ist,·dann deswegen, weil er zuvor an der
Bewegung des Sturm und Drang teilnahm,
weil er zunächst Romantiker war und es
in
seinem Unterbewußtsein bis zu
seinem Tod geblieben ist." L.S.Senghor: L'Accord
conciliant,
op.cit.,
deutsche Übersetzung:
Versöhnung der Gegensätze,
s.65
389) "P.omantiker war er, weil er der bloßen Nachahmung des Fremden den RUcken
kehrte und beschloß,
er selbst zu sein,
i~dem er Deutscher war, und weil er sich
dabei "urunittelbar a~ cas Volk und a~ das Herz des Volkes wandte,
ohne den Umweg
7
J
J

"
"
,
Diese sätze könnten zugleich als Senghors Definition der Romantik
gelten. Betont man den vom Gefühl getragenen nationalen Aspekt
dieser Bewegung,
so ist sie tatsächlich mit dem sturm und Drang
gleichzusetzen.
Dies mag erklären, "daß Senghor in seinen Schriften
liber die deutsche Kultur kaum auf romantische Autoren - außer
Novalis(390)
-
hinweist,
obwohl er behauptet,
er sei von ihnen
äußerst fasziniert gewesen(391).
Schon in seinem ersten,
1949
veröffentlichten Essay über die deutsche Literatur ist diese
Gleichsetzung des Sturm und Drang mit der Romantik festzustellen.
Goethes Klassizität definierend,
bedient sich senghor darin der
Worte Andre Gides,
der die Klassik als "beherrschte Romantik" (392)
auffaßte.
Der Klassiker Goethe ist also für Senghor ein
Romantiker,
der seine Romantik ständig unter der Kontrolle seiner
Vernunft zu halten gewußt habe,
ohne sie völlig zu ersticken.
Goethe synthetisiere -
besonders im Alter - alle Strömungen seiner
zeit. Daher scheut sich Senghor nicht, Werke wie Eqmont
(1788)
und
Faust 11 (1832), dieses monumentale Werk,
das mit dem Urfaust und
Faust I ein beeindruckendes Inventar und eine Synthese des inneren
und äußeren Lebens des Autors und "dessen zeit darstellt,
als
Zeugnisse des Sturm und Drangs zu bezeichnen. Und deshalb auch
Uber die Kelter der Kritik'!
zu gehen.
Ja,
er hat sich zunächst und vor allem an
das deutsche Volk ge .....'a!'.dt,
von Eerz zu Herzen gesprochen,
indem er noch vor
Novalis zum lebendigen Q~el1 des L~ed9 und des Härchens zurückkehrte,
zu den
dunklen Kräften der Sehnsucht und des Gefühls,
wie sie sich in den aus der
deutschen Erde und dem deutschen Hi~~el erwachsenen Bildern und Gleichnissen
ausdrücken." Ebenda,
5.65
390)"Himmliacher,
als
jene blitzenden Sterne,
dünken uns die unendlichen Augen,
die die Nacht
in U~9 ~eöffnet." Zitiert nach der deutschen Übersetzung von
L'Accord cgnciliant ,
5.66,
(Originalfas8ur.g 5.49)
aus Novalis'
Hymnen an die
Nacht.
In:
Novalis Schriften T,
Stuttgart 1960,
s.133
391)5Lehe ~nmerkung (1)
392)Le Hessage de Goethe .•. op.cet.,
5.86

1~
beschränkt sich Senghor fast exklusiv auf Goethe bei seiner
Beschäftigung mit der deutschen Kultur der zweiten Hälfte des 18.
und der drei ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts.
Über sein
,Interesse am sturm und Drang schreibt er zum Beispiel:
"Leo Frobenius nous avait embrigades dans un nouveau sturm und
Drang, nous avait conduits a Wolfgang Goethe, un Goethe beau comme
Ganymede,
plus brillant qu'Alcibiade,
et d'une temeraire audace.
A
la suite du rebelle,
nous nous insurgions contre l'ordre ~~ les
valeurs de l'Occident,
singulierement contre sa raison." (
3)
Der Vergleich zwischen dem stürmer und Dränger Goethe und
Ganymed einerseits und andererseits zwischen ihm und Alcibiades
darf nicht übersehen werden.
Zunächst aber verdient der Rebell
Goethe,
der den Negritude-Theoretikern in ihrem Kampf gegen die
abendländische zivilisation zum Modell gedient habe,
besondere
Aufmerksamkeit.
Mit dieser Aussage zieht senghor eine deutliche
Parallele zwischen dem sturm und Drang und der Negritude-Bewegung,
besonders in bezug auf deren Bestrebungen und Ziele.
Senghor gibt
damit zu verstehen,
er habe sich als Negritude-Theoretiker vom
Goethe der Sturm-und-Drang-Zeit inspirieren lassen.
Die Werke
Goethes, die Senghor selbst als Inspirationsquellen für seinen
Kampf anführt,
werden nun in bezug auf die Frage diskutiert,
welche Lehren Senghor aus ihnen für die Negritude-Bewegung gezogen
zu haben meint,
aber auch,
welche in demselben Zusammenhang zu
ziehen gewesen wären.
; ...
393)"Leo Frobeniu9 hatte uns fUr einen neuen sturm und Drang angeworben und zu
Wolfgang Goethe geführt,
Z'.1
einem Goethe so schön wie Ganymed,
glänzender als
Alcibiadea und mit einem k0hnen Wagemut.
In der Gefolgschaft des Rebellen
lehnten wir uns geSe~ die Ordnu~g und die ~erte des Abendlands,
besonders gegen
seine Vernunft,
auf."
Le ~essage de Goethe ... op.cit.,
5.84.
& 2nn$'
da
iEiSb
d
Si
2l
zailllifl

I
15\\
2.3.2
REBELLIONSVORBILDER
"Avec Götz von Berlichingen et Egmont, nous montions a
l'assaut de l'imperialisme capitaliste,
revendiquant,
pour les
peuples noirs,
plus encore que l'independance politique,
l'autonomie de la Negritude.,,(394)
Götz und Egmont seien Vorbilder für die Forderung nach politischer
Unabhängigkeit und vor allem nach kultureller Autonomie gewesen.
So die Lehre,
die Senghor aus der Lektüre dieser beiden Werke von
Goethe gezogen haben will.
Inwiefern diese Werke einen solchen
Gebrauch
ermöglichen konnten,
soll jetzt anhand von deren Analyse
untersucht werden.
,-j
2.3.2.1
EIN UNPASSENDES VORBILD: GÖTZ VON BERLICHINGEN
Der Ritter Götz von Berlichingen befindet sich in Fehde mit dem
Bischof von Bamberg,
an dessen Hof sein Jugendfreund Weislingen
lebt.
Es gelingt Götz,
diesen gefangen zu nehmen und dazu zu
bringen, auf das Höflingsdasein zugunsten eines Lebens als freier
Ritter zu verzichten.
Diese Wiederaufnahme der alten Freundschaft
wird durch die Verlobung zwischen \\,eislingen und Götzens Schwester
Marie besiegelt. Doch an den Bamberger Hof
zurückkehrt, um sein
Verhältnis mit ihm zu lösen,
erliegt Weislingen den Reizen von
Adelheid von Walldorf,
die ihn wieder für die Sache des Bischofs
394)"Hit Götz von 8erlichingen und Egmont atUrmten wir gegen den
kapitalistischen Imperialismus an und forderten für die schwarzen Völker über

die politische UnabhängigKeit hinaus die Autonomie der Negritude.~ L.S.Senghor:
La Message da Goethe aux Negres nouveaux,

op.cit.,
5.84
:2&1.;
.2t
2
lUdE
1 vrrb
I
Ä

\\
156
1
gewinnt und aus ihm den schlimmsten Feind Götzens macht.
Weislingen intrigiert gegen seinen einstigen Freund bei dem
Bischof und dem Kaiser,
so daß der Kaiser Götz auf seinem Schloß
belagern,
ihn fangen und nach Bamberg bringen läßt, wo er dazu
gebracht wird,
Urfehde zu schwören und ruhig auf seinem Schloß zu
leben.
Da bricht ein Aufstand der Bauern aus,
welche für ihre
Freiheit kämpfen und ihn als Führer wählen.
Der Aufstand wird
niedergeschlagen,
Götz verwundet,
festgenommen und ins Gefängnis
geworfen, wo er an seinen Wunden und mit dem Wort "Freiheit" im
Munde stirbt.
Kann diese Gestalt als Vorbild für das Streben nach politischer
Unabhägigkeit und/oder kultureller Autonomie genommen werden?
2.3.2.1.1
~ÖTZ, EIN KÄMPFER FÜR POLITISCHE u~ABHÄNGIGKEIT?
Der historische Hintergrund der Handlung des Dramas Götz von
Berlichingen weist eine gewisse Analogie mit dem Afrika der
Kolonialzeit auf.
Das Drama spielt am Anfang des 16.Jahrhunderts,
in der
Entstehungszeit der kapitalistischen wirtschaft und der immer
grösseren wirtschaftlichen Bedeutung der städte auf Kosten der
Burgen und Schlösser der kleinen Adligen.
Der historische Götz von
Berlichingen (1480-1562)
gehörte zu den Rittern,
die aufgrund
dieses ökonomischen Wandels verarmten,
und die auf Raub ausgehen
mußten,
um zu überleben.
seit der Mitte des 13.Jahrhunderts
herrschte daher im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation eine
große Rechtsunsicherheit,
der der Wormser Reichstag
(1495)
ein
I
... 11"
I iJIiIi'DUd1l:L
n,: W 2
a
.1

157
~.
Ende zu setzen versuchte,
indem hier ein ewiger Landfrieden
beschlossen und zu dessen Bewahrung ein Reichkammergericht mit
sitz in Frankfurt am Main,
dann Speyer und schließlich in Wetzlar
gegründet wurde.
Jeder Ritter,
der sich künftighin eine die
öffentliche Ordnung gefährdende Tat zuschulden kommen lassen
würde, würde von den Reichstruppen bekämpft werden(395).
;~.
.
Die Kolonisation,
der krasseste Ausdruck des europäischen
Imperialismus,
hatte auch die Lebensverhältnisse der Afrikaner
umgestürzt.
An die stelle schwarzafrikanischer Lebenswerte waren
nun europäische getreten; und nicht selten kam es zwischen den
Lebensverhältnissen beider seiten zu Zusammenstößen,
und dies
meist auf Kosten der Afrikaner,
die sich von nun an nach
europäischem Lebenskodex zu richten hatten(396) .
Als Raubritter(397)
stemmt sich Götz von Berlichingen der
Entwicklung kapitalistischer wirtschafts- und Verkehrs formen
entgegen.
Erscheint er damit nicht als ein Verbündeter all
derjenigen,
die mit dem Kolonialismus auch die kapitalistische
Expansion bekämpften? In dieser Hinsieht mochte Senghor jedenfalls
recht haben,
ihn als Vorbild im Kamf gegen die französische
Kolonisation zu sehen.
Die Versuchung, Götz als Vorbild für jeden
Unabhängigkeitskampf zu nehmen,
muß für Senghor um so größer
395)Hajo Halborn:
Deutsche Gesch~cr.te in der Neuzeit, 1.Band: Das Zeitalter der
Reformation und dea Absol\\.~tism'.1B (bis 1790),
München 1970,
S.J5ff
396)Vgl.Heinrich Loth: Afrika unter imperialistischer Kolonialherrschaft und die
Formung der antikolonialen Kräfte 1884-1945. Teil 11.
von Afrika: Geschichte von
den Apfängen bis
zur Geoen'Hart,
Köln 1979,5.69-82
397)Götz selbst spricht oft von seiner Raubrittertätigkeit:
-seinem Knappen Georg sagt er;
!'Ein andermal, Georg,
wann wir Kaufleute
fangen gehen und Fuhren wegnehmen."
J.W.Goe~he: Gdtz von Berlichingen.
In:
Werke, München 1982,
5.77
-Seinem Mann selbitz vertraut er an:
"Es komroen nun bald Kaufleute von
Bamberg und Nürnberg aus der Frankfurter Messe.
Wir werden einen guten Fang
tun." Ebenda,
S.107
I! &
.a

I
158
gewesen sein,
als Götz das Wort "Freiheit" ständig im Munde führt.
Auf seiner Burg von den Reichstruppen belagert,
trinken Götz und
seine Leute ihr letztes Glas Wein mit dem Ausruf:
"Es lebe die Freiheit!,,(398)
Die Forderung nach Freiheit bringt Götz auch dazu,
die Führung der
aufständischen Bauern zu übernehmen(399).
Freiheit ist schließlich
Götzens letztes wort,
bevor er stirbt(400).
Aber die Freiheit,
um welche Götz kämpft,
ist einigermaßen von
der verschieden,
die Senghor und seine Gesinnungsgenossen als
Kolonisierte erstrebten.
Zunächst kämft Götz nicht wie Senghor und seine
Gesinnungsgenossen darum, ein Volk von der politischen Herrschaft
eines anderen zu befreien.
Zwar ist die Grundauffassung dieselbe:
Freiheit wird sowohl von Götz als auch von Senghor als eine der
Grundforderungen des menschlichen Lebens betrachtet. Von dieser
Grundforderung ausgehend verteidigt Götz aber zunächst das
ritterliche Ideal,
nach dem der freie Ritter
"( ... lnur abhängt von Gott.
seinem Kaiser und sich
selbst." (~Ol)
398)Götz von Ber1ichingen, op.cit., 5.141
399)"Warum seid ihr ausgezogen? Eure Rechte und Freiheiten wiederzuerlangen?
( ... ) Wollt
ihr abstehen von allen Übeltaten und handeln als wackere Leute, die
wiesen,
was sie wollen,
so will
ich euch behülflich sein zu euern Forderungen
und auf acht Tage e~er Hauptmann sein."
Ebenda,
5.160
400)Ebenda, 5.175
401) Ebenda, S. 9°
E&älli

159
Dieses Lebensideal bietet er seinem Freund Weislingen an Stelle
eines Höflingslebens am Hof des Bischofs von Bamberg an.
Die
Erfüllung dieses Ideals im ganzen Reich fordert eine bestimmte
Lebensethik:
Treue und Redlichkeit.
Abgesehen von der Tatsache,
daß er die Führung der aufständischen Bauern übernimmt,
wozu er
übrigens gezwungen wird,
richtet sich der Götz von Goethe nach
dieser Ethik.
Er nimmt Weislingen, den ergebenen Diener des
Bischofs, gefangen,
weil der Bischof den Landfrieden zwischen
beiden gebrochen habe,
indem er Götzens Knappen hat festnehmen
lassen(402).
Dem Weislingen gibt er seine Freiheit nur deshalb
zurück, weil der sein Ehrenwort gegeben hat,
er werde wieder sein
Freund sein (403).
Und als Weislingen sein Wort bricht,
ist ihm,
als würde die ganze welt zusammenbrechen(404). Und doch wäre das
Leben schön,
wenn es im Reiche Menschen wie Weislingen nicht gäbe,
wenn alle nach der ritterlichen Ethik lebten!
Es würde Freiheit
geben und im Lande wäre es so,
wie Götz es sich erträumt:
"( ... )wir sehen im Geist unsere Enkel glücklich und die Kaiser
unserer Enkel glücklich. Wenn die Diener der Fürsten so edel und
frei dienen wie ihr mir,
wenn die Fü~Ö;en dem Kaiser dienen
würden, wie ich ihm dienen möchte."(
)
402)"wenn Euer Ge'""issen rein i s t i s o seid Ihr frei.
Aber wie war'e um den
Landfrieden? Ich ~eiß noch,
als ein Bub von sechzehn Jahren war ich mit dem
Markgrafen auf dem Reichstag. Was die Fürsten da für weite Mäuler machten, und
die Geistlichen am ärgsten.
Euer Bischof lärmte dem Kaiser die Ohren voll;
als
wenn ihm Wunder wie!
die Gerechtigkeit ans Herz gewachsen wäre i
und jetzt wirft
er mir selbst eine;] 3uben niec!er,
zur Zeit da unsere Händel vertragen sind,
ich
an nichts Böses denke.
Ist nicht alles
zwischen uns geschlichtet? Was hat er mit
dem Buben?"
Götz. von gerlichingen,
op.cit.,
S.91f
403)Ebenda S.99
404 lE benda, S.115f
405)Ebenda, S.14lf
I
' j
;
l
...,.t- 2 'Hß"itr . nnv rTilif

I
160
Diese Vision wird durch folgendes Gemälde über das Leben in einem
solchen Reich ergänzt:
"Sollten wir nicht hoffen,
( ... ) daß Verehrung des Kaisers,
Fried und Freundschaft des Nachbarn und Lieb der Untertanen der
kostbarste Familienschatz sein wird, der sich auf Enkel und
Urenkel erbt? Jeder würde das Seinige erhalten und in sich selbst
vermehren,
statt daß sie ~B~zO nicht zuzunehmen glauben, wenn sie
nicht andere verderben."(
)
,,;-.'.
...
'.
zwischen dem von Götz beschworenen gemeinschaflichen Leben und
seinem bisherigen Lebenswandel könnte man einen krassen
Widerspruch sehen,
wie es Rainer Nägele mit gewissem Recht
tut(407).
In der Tat könnte sich Götz in einem solchen Reiche
nicht mehr auf seine Raubzüge begeben,
deretwegen er sich von
Weislingen hat vorwerfen lassen müssen:
"Du siehst die Fürsten an,
wie der Wolf den Hirten. Und doch
darfst du sie schelten,
daß sie ihrer Leut und Länder Bestes
wahren? Sind sie denn einen Augenblick vor den ungerechten Rittern
sicher, die ihre Untertanen auf alö~n Straßen anfallen,
ihre
Dörfer und Schlösser verheeren?" (
)
2.3.2.1.2
GÖTZ,
STÖRER DER ÖFFENTLICHEN ORDNUNG ODER
VERFECHTER DER TRADITION?
Götzens scheinbar anarchischer Kampf ist gegen die Fürsten als
Urheber von vielerlei ungerechtigkeiten gerichtet.
Denn während
die Fürsten vorgeben,
für Recht und Ordnung zu sorgen,
nutzen sie
406)Ebenda,
5,142
407)vgl.
Rainer Nägele:
Johann Wolfgang Goethe:
Götz von Berlichingen.
In:
Interpretationen,
Dra:-nen des ~t\\.lrm und Drang.
Stuttgart 1987,
S.20ff
408)J.W,Goethel Götz von Berlichingen,
op.cit.,
S.90f
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iO-L
J!R1.'.1I L t
,--ua
W'

1b'
in Wirklichkeit die Situation aus,
um die Kleinen zu
unterdrUcken(409).
Daher genießt Götz trotz seiner RaubzUge große
sympathie bei den BaUern(410) , welche wilden Haß gegen die Fürsten
und besonders gegen den Bischof von Bamberg hegen(411), und bei
denjenigen, die ohne weltliche Ansprüche wahrer Gerechtigkeit
dienen wie der Mönch Martin,
der Götz mit Bewunderung begegnet:
'"
"So seid Ihr Götz von Berlichingen!
Ich danke dir,
Gott, daß
du mich ihn hast sehen lassen,
diesen Mann,
den die Fürsten hassen
und zu dem die Bedrängt~n.sich wenden! ( ... ) Laßt mir diese Hand,
laßt mich sie küssen!" ( 12)
'~'
Nicht also das Gesetz lehnt Götz ab,
sondern er kämpft gegen
dessen Mißbrauch durch die damaligen Machthaber und
Rechtssachverständigen.
Die Absicht dieser "Gestalt eines rohen,
wohlmeinenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit,,(413)
ist
also dem Standpunkt einer intellektuellen Opposition in den
heutigen unabhängigen afrikanischen staaten insofern näher als der
Sache der Negritude-Bewegung,
die weniger gegen Machtmißbrauch
durch Landsleute als gegen Fremdherrschaft kämpfte.
Götzens Kampf steht der Negritude-Bewegung nicht einmal in
deren Grundsatz nah,
die kulturellen Werte des traditionalen
Schwarzafrikas denen des imperialistischen,
Modernisierung
erzwingenden Europa entgegenzusetzen.
409)Ebenda, 8.91
410)Die Meinung der Bauern über Götz faßt eich in folgenden Worten eines von
ihnen, Metzler,
zusammen:
"Gott erhalt ihnl
Ein :rechtschaffener Herr!" Götz von
Berlichingen,
op.cit.,
5.74
411)Der Haß und die Empörung der Bauern den Fürsten gegenüber lassen eich durch
folgende Worte von Sievers,
einem Bauern,
fUhlen:
"DUrften wir nur 80 einmal an
die Fürsten, die une die Haut über die Ohren ziehen."
Ebenda,
5.76
412)Ebenda,
8.81
413)J.W.Goethe:
Dichtung und Wahrheit,
2.1'ei1,
10.
Buch,
op.cit.,
8.413

162
Insofern als sich Götz in seiner streitsache mit dem Bischof
von Bamberg auf das mittelalterliche Faustrecht beruft, mag er als
Verkörperung des Widerstandes der absterbenden Zeiten gegen die
gesellschaftliche Modernisierung betrachtet werden.
Doch sein
Vorhaben entspricht eigentlich dem,
was Weislingen als Vertreter
der Partei der Fürsten folgendermaßen vorgibt:
"Wenn nun auf der anderen Seit~ unsers teuern Kaisers Länder
der Gewalt des Erbfeindes ausgesetzt sind,
er von den ständen
Hülfe begehrt,
und sie sich kaum ihres Lebens erwehren:
ist's
nicht ein guter Geist,
der ihnen einrät,
auf Mittel zu denken,
Deutschland zu beruhigen,
Recht und Gerechtigkeit zu handhaben,
um
einen jeden, Großen un? Kleinen,
die Vorteile des Friedens
genießen zu machen?,,(4 4)
~'.-
:f".
~
Götzens Antwort hierauf ist sehr einleuchtend:
-,
"( .. ;)wären die Fürsten, wie ihr sie sihildert,
wir hätten
alle, was wir begehren:
Ruh und Frieden." ( 15)
Um Frieden im Reiche zu erlangen,
ist Götz als Ritter bereit, das
von ihm erwartete Opfer zu bringen.
Er weiß sehr wohl,
daß ein
solcher Zustand das Verschwinden des Ritterstandes in seiner
bisherigen Form bedeutet;
aber er meint:
"Wir würden noch immer zu tun genug finden.
Wir wollten die
Gebirge von Wölfe säubern,
wollten unserm ruhig ackernden Nachbar
einen Braten aus dem Wald holen und dafür die Suppe mit ihm essen.
Wär uns das nicht genug,
wir wollen uns mit uns ern Brüdern ( ... )
vor die Grenzen des Reichs gegen die Wölfe die Türken, gegen die
Füchse die Franzosen lagern und zugleich unsers teuer Kaisers sehr
ausgesetzte Länder und die Ruhe des Reichs beschützen.
Das wäre
ein Leben!
Georg
! wenn man ~I~ne Haut für die allgemeine
Glückseligkei t
dransetzte." (
)
-,-
414)Götz von Berlichingen, op.cit., S.91
415)Ebenda
416)Ebenda,
S.142f
t "~lIjjll&1lIII1,.IIJIIIj&UtS&Ci._
• •1Il3!!llj&
• .!l1i2I!.l!I!M.!lEl!lliIl22I1jlllll:_._ZII!§IIl!12_IIIIS_.2J2_~

163
Götzens Vorstellungen,
sozial selbstmörderisch(417), drücken seine
Fortschrittsbereitschaft aus.
Man sieht hier, daß er gewillt ist,
auf die mittelalterliche Lebensweise der Ritter zu verzichten,
um
;:
"
ein Mitglied einer ständigen nationalen Wehrmacht -
dies fehlte im
Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation(418)
-
in einem
,
"
Rechtsstaat zu werden.
Im Grund genommen ist er also kein
absoluter Ver fechter der vergangenen und vergehenden Zeiten.
Nicht
die Modernisierung lehnt er zugunsten der absterbenden Tradition
ab.
Nicht einmal das "fremde" römische Recht verwirft er.
Sonst
würde er den klagenden Bauern nicht raten,
die Gerichtsbeamten
wegen Mißbrauchs der Gerichtbarkeit vor dem Reichkammergericht zu
speyer anzuzeigen(419).
Auch wenn die einheimischen Bevölkerungen der afrikanischen
Kolonien, wie die damaligen deutschen Bauern und Handwerker, Opfer
von allerlei Mißbräuchen der Rechtssachverständigen waren, welche
auf sie ein völlig fremdes -
englisches,
französisches oder
portugiesisches - Recht anwandten(420),
kann Götz schlecht als
Vorbild genommen werden,
um die Autonomie der Negritude zu
fordern"
wie es Senghor tun zu können glaUbte.
Die Gestalt Götz
eignet sich sehr schlecht zum Vorbild für den gerechten Kampf der
kolonisierten Schwarzafrikaner für die Wiederherstellung eines
authentisch schwarzafrikanischen Rechtes.
Diese Senghorsche sicht
des Götz von Berlichingen muß aber dadurch entstanden sein, daß
417)"( ... )indem er die "Wölfe"
vernichtet,
muß er eich eelbet vernichten,
um
seine Utopie zu reali9~eren."
R.Nägele,
op.cit.,
5.21
416)vg1. dazu Hajo Holborn, op.cit.,
S.45ff
4l9)"Hacht euch auf nach Speier,
(.,.)
zeigt's an,
eie müssen'e untereuchen und
euch zu dem Eurigen helfen."
Götz von Berlichingen,
op.cit.,
S.120
420 1Vg1. dazu Jacques Vanderlinden:
Les systemes juridioues africaina,
PUF,
Paria 1963, S.76ff
~
;":lI>ii&
..":.,IS"'i&Si'i'
!II;,·';';·':'·ir;,;·';~;;,'~~tAlll~.~·~_il.fl'ii1]fili·iIlltli\\il111'tt.·IliIlI.lIlilllli• • •21l1:.IIlIIil.--,""tlll12l11i__....iI!,....__.......
I"'....._ .•_~~_ ..

I
1641I
die Kritik seit Justus Möser(421)
den Akzent auf den typisch
deutschen Charakter der im Drama dargestellten Welt und auf die
nationale Absicht des stürmers und Drängers Goethe gelegt hatte,
was seit Madame de stael(422)
auch in Frankreich als ausgemacht
galt.
Das Vorbild für die von Senghor gemeinte kulturelle
Autonomie ist aber vielleicht im Egmont von Goethe zu suchen.
2.3.2.2
POLITIK UND KULTURELLE EIGENHEIT:
EGMONT
Schon der historische Kontext,
von dem sich Goethe inspirieren
ließ, um seinen Egmont zu verfassen, weist genug Analogien mit der
Situation auf,
von der die Begründer der NegritUde-Bewegung
ausgingen.
Es handelt sich hier, wie bei jenen Angehörigen
französischer Kolonien,
um ein Volk im Kampf gegen eine
Fremdherrschaft.
seit Karl V.
gehörten die Niederlande,
also nach damaliger
Terminologie das heutige Belgien,
Holland, Luxemburg und ein Teil
von Nord-Frankreich,
zur spaniSChen Krone, wie Senegal seit 1854
421)"Goethena hbsicht
tn seinem "Gbtz von Berlichingen"
war gewiß,
uns eine
Sammlung von Gemälden aus dem Nationalleben unserer Vorfahren zu geben,
und une
zu zeigen,
was wir hät~en und waS wir könnten,
wenn wir einmal der artigen
Kammerj~ngfern und der witzigen Bedienten auf der französisch-deutschen Bühne
müde wären{ ... )"

.Just1..;S Möser:
Ü!Jer die de'Jtsche Sprache und Literatur.
(1781).
In:
Sä.JTh"T1tliche r,.;rerke,
ne'Je vermehrte A\\lsga!Je von B.R.A.beken,
aerlin
1858,
8d.9,
8.143
422)"Goeth~ Atait fatigu6 de l'imitation des pi~ce8 francaieea en Allemagne, et
i1 avait raison;
car un Francais meme 1e serait aussi.
En consequence i1 compoea
un dra~e historique ~ 1a maniere de Shakespeare, Götz von Ber1ichingen." Mad~~e
de Stae1,
De 1'A11emagne
(1813),
Heprint Paris 1968,
Bd.1,
5.322.
-Dort besonders:
"On aime beaucaup cette piace en Allemagne;
lee maeurs et
lee
coutumee nationaux de
l'ancien temp9 y eont fidelement representee, et tout ce
qui tient ä la chevalerie ancienne remue le coeur des Allemands." 8.324
I_ f _._. . .-
"' ........ ~t
_
w.
..... 'f-'~-'"'
SLibSS2
&&1&1
&Li

..,.:
\\
165'
I
(423)
und andere afrikanische Gebiete seit den letzten beiden
Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts als Kolonien zu Frankreich
gehörten(424).
Zwar waren diese Kolonien wirtschaftlich nicht mit
den Niederlanden vergleichbar,
die aufgrund ihres blühenden
Handels und der großen Manufakturen ihrer städte eines der
reichsten Länder West-Europas waren i
doch spielten sie wie alle
Kolonien eine beträchtliche Rolle in der Entwicklung des
Industriekapitalismus der Metropole.
Auch wenn dies nicht in
derselben Form wie in den Niederlanden geschah,
deren Steuern eine
der bedeutendsten Einnahmequellen der spanischen Krone
ausmachten(425) , so befriedigten die Kolonien das aus der
Großindustrie entstandene und ständig steigende Bedürfnis der
westeuropäischen Länder,
hier Frankreichs,
nach Rohstoffen,
Bodenschätzen,
Lebens- und Genußmitteln einerseits und
andererseits nach neuen Absatzmärkten für ihre industriell
erzeugten Massenartikel(426).
Um dies zu gewährleisten,
mußte die lokale Verwaltung der
Kolonien unter totaler Kontrolle der Eroberer stehen.
Dazu
gehörte, daß die traditionale verwaltungs- und Produktionstruktur
zugunsten der von der Kolonialmacht eingeführten Strukturen zum
Verschwinden gebracht 'HUrde,
daß europäische Lebensgewohnheiten
den kolonisierten Völkern bisher unbekannte, den großindustriellen
423)vgl. dazu Thea 3~ttneL: AfLika von den Anfängen bis zur territorialen
Auf teilung durch die
;mpeLialistisc~en Kolonialmächte, Teil I von AfLika:
Geschichte vO:1 den An:ängen bis ZUL Gegenwart,
Köln,
1985
(2.Aufl.)
S.
228f
424)Vgl. dazu Heinrich Loth:
AfriKa unter impeLialistischer Kolonialherrschaft
ulld die Formierung der antikolonialen Kr~fte 1884-1945, Teil II von Afrika:
Geschic~te von den Anfängen bis zur Gegen~art,
Köln 1979,
S.17f
425)"Die Niederlande ~ildeten dle schönste Perle an der Krone von Spaniens
König." 80 P.J.31ocK: Geschichte der Niederlande,
Friedrich Andreas PeLthes,
3d.
2, Gotha 1905,
S.646
426)vgl.
dazu Thea Büttner,
ap.
eit.,
S.
220f
I.
11
.2
:::

Produktionsverhältnissen entsprechende Bedürfnisse erzeugten(427).
In den Niederlanden wurde die situation nach der Abdankung von
Karl V. mit der der Kolonien vergleichbar. Bevor er abdankte,
hatte Karl V.
seinem Sohn Philipp 11.
Spanien mit all seinen
Kolonien und den Niederlanden vermacht. Während sein Vater sich
auf dem Gebiet der Religion als tolerant erwiesen,
den Provinzen
Verwaltungsautonomie gewährt und dem Lokaladel seine Privilegien
gelassen hatte,
ließ Philipp II.
angesichts der Verbreitung des
Calvinismus im Lande alle hohen Posten von spaniern besetzen,
vermehrte die Anzahl der katholischen Bischöfe,
die nun alle aus
Spanien kamen,
beschränkte die Freiheiten und führte die
Inquisition ein (428).
Diese letzte Maßnahme schien um so
~
interessanter für die spanische Krone,
als sie zwei Drittel und
,.
die Kirche ein Drittel des Vermögens
jeder Person bekam,
die ihr
zum Opfer fiel.
Selbstverständlich waren die reichen Bürger, von
denen viele sich zum Calvinismus bekannten, die häufigsten Opfer
der Inquisition.
Die Masse des Volks ihrerseits strebte nach Religionsfreiheit
~.
und Umstrukturierung der Gesellschaft auf der Basis der Freiheit
.,~:'
>i'.
~."
fUr alle. Ähnlich dürsteten die einheimischen Bevölkerungen der
Kolonien nach Freiheit. Die Antwort der Metropole darauf war meist
nicht sehr verschieden von der der spanischen Krone auf die
Bestrebungen des niederländischen Volks:
strenge Kontrolle und
massenhafte Hinrichtungen.
Angesichts dieser Maßnahmen schickte
die lokale niederländische Aristokratie im Jahre 1565 eine
427) Vgl.
dazu Heinrich Loth,
op.cit.,
S.69ff.
428)Die Inquisition wurde eigentlich schon 1521 von Karl V.
in den Niederlanden
eingeführt.
Die in diesem Rahmen bis 1555 erlassenen Edikte waren aber nach den
beiden eraten Jahren so gelockert,
daß sie fast nie vollzogen wurden.
Erst
Philipp 11.
ließ sie streng vollziehen.
Vgl.daz.u P.J.81ock,
op.cit.,
8.587
:1~'~
'';~
~~;'S~ERTh~@;··if_.1
tL
JIb2
.Ei

167
Abordnung zu König Philipp 11., um die Minderung der den
spanischen Kaufleuten gewährten Vorteile, die Abschaffung der
Inquisition und weniger Härte den Ketzern gegenüber zu fordern.
Keine von all diesen Forderungen wurde günstig aufgenommen.
Im
darauf folgenden Jahre fand die Unzufriedenheit des Volkes
Ausdruck in einer AUfstandsbewegung im ganzen Lande.
Gleiches
geschah in den meisten französischen Kolonien Afrikas in der Form
von streiks, Volksaufständen und religiösen Widerstandsbewegungen
unter der Leitung einheimischer Propheten christlicher oder
islamischer Offenbarung(429).
Als Reaktion der Kolonialmacht
darauf wurden nicht selten bewaffnete Truppen gegen die
aufständische Bevölkerung eingesetzt und die AUfwiegler kaltblütig
erschossen(430).
Nicht weniger grausam verfuhr Philipp II. mit dem
niederländischen Volk.
Er verfügte nämlich eine unbarmherzige
Repression.
Seine eigene Schwester, Margarete von Parma,
die
bisherige Regentin in den Niederlanden,
wurde durch den
fanatischen und grausamen Herzog von Alba ersetzt.
Dieser ließ
8000 Bürger, darunter den Grafen Egmont
(1568),
hinrichten. Darauf
erfolgte eine große Emigrationswelle.
Vom Ausland aus
organisierten die ausgewanderten Aristokraten und Bürger den
bewaffneten Widerstand,
um das Land von der spanischen Herrschaft
zu befreien. Der endgültige Sieg wurde erst 1648 erlangt(431). Die
situation in den französischen Kolonien Afrikas dauerte aber noch
an, als Senghor, wohl um 1936,
den Egmont von Goethe las.
dazu Heinrich Loth,
op.cit.,
S.140fi
S.204ff
430)Ebenda,
S.205
431)vgl. daz" P.J.
Slock,
op.cit.,
Bd.3,
Vom Anfang bia Seite 360

I
'1
2.3.2.2.1
EGMONT,
EIN UNEQLJ~CHES OPFER DER POLITIK?
Daß der Negritude-Theoretiker Senghor Goethes Egmont als
Vorbild für politische und kulturelle Emanzipation sehen mochte,
könnte dazu verleiten,
sich diese literarische Gestalt als einen
großen strategen im antikolonialen Kampf des niederländischen
Volkes vorzustellen.
In einer Rezension dieses Dramas schrieb aber
schon 1788 Schiller über diese Gestalt:
"In diesem Trauerspiel
( ... ) wird ein charakter aufgeführt,
der in einem bedenklichen Zeitlauf, umgeben von den Schlingen
einer arglistigen Politik,
in nichts als sein Verdienst
eingehüllt, voll übertriebenen Vertrauens ZU seiner gerechten
Sache, die es aber nur ihm allein ist,
gefährl!~h wie ein
Nachtwanderer auf j äher Dachspitze,
wandelt." (
2)
Dieses Urteil,
das den Egmont als naives Opfer einer
unerbittlichen Welt der Politik erscheinen läßt,
in welcher er
voller Vertrauen lebt,
und die ihn erbarmungslos zermalmt, hat bis
~
zum Anfang des 20.Jahrhunderts in der kritischen Literatur
:L'Y.dominiert, und dies nicht ohne Grund.
,.:.
Graf Egmont,
der von Kaiser Karl V.
mit dem Orden des goldenen
Vlies ausgezeichnet worden ist,
der dem König Philipp 11. seine
Treue und Tapferkeit erwiesen hat,
indem er ihm zu den
entscheidenden Siegen von st.
Quentin
(1557)
und Gravelingen
(1558) gegen Frankreich verholfen hat(433),
führt das Leben eines
.getreuen, sogar allzu getreuen Dieners seines Königs. Obwohl er
,'432)l'riedrich Schiller:
Über Egmont,
Trauerspiel von Goethe.
In:
Schillers
Werke, Nationalausgabe,
hreg. von Herbert Meyer,
22.Bd., Weimar 1958, S.200f
Egmont.
In: Werke,
~ünchen 1982, Bd.4, 5.373
. ?
7 .
a
I

169
die Sympathien der Bürger genießt(434)
und das Volk in ihm und dem
Herzog von Oranien die künftigen Befreier vom spanischen Joch
sieht(435),
ist er für eine Lösung durch Verhandlung und gegen
jede Gewalt.
So rät er den Bürgern:
"Steht fest gegen die fremde Lehre und glaubt nicht,
durch
Aufruhr befestigte man Privilegien.
Bleibt zu Hause;
leidet nicht,
daß si~ sich auf den staßen rotten. Vernünftige Leute können viel
tun. "( 3 6)
Dabei handelt es sich auch nicht um eine taktische Haltung zur
besseren Organisierung des Kampfes gegen die Fremdherrschaft.
Der
Graf Egmont will sich tatsächlich der Realität fügen und das Leben
eines friedlichen Untertanen führen,
indem er jeden Zusammenstoß
mit dem König vermeidet.
Er sagt zu den Bürgern:
"Reizt den König nicht mehr,
er hat zuletzt doch die Gewalt in
Händen.
Ein ordentlicher Bürger, der sich ehrlich und a~7ißig
nährt, hat Uberall so viel Freiheit,
als er braucht." (
)
Während sein Freund, der Herzog von Oranien, mit aller Um- und
Vorsicht handelt(438),
indem er sich über die Absichten des Königs
434)Die Hochachtung der Brüssler tür Egmont wird u.a. durch folgende Aussage von
Jetter illustriert:
"Hätte man uns den statt der Hargarete von Parma zum
Regenten gesetzt)" ~ont, op.cit.,
5.374
4JS) "Wir haben noch Egmont I noch Oranien 1 Die Borgen für unser Beetes!"
Ebenda,
5.393
436)Ebenda,
5.395
437)Ebenda,
5.394
438)"ICh stehe immer wie über einem Schachspiele und halte keinen Zug des
Gegners für unbedeutend;
und wie müßige Menschen mit der größten Sorgfalt sich
um die Geheimnisse der Natur bekümmern,
60
halt ich es für Pflicht,
für Beruf
eines Fürsten,
die Gesinnungen,
die Ratschläge aller Parteien zU kennen."
Ebenda,
5.401
ili"' '7'

170
genau informiert,
schon über die Ankunft des Herzogs von Alba und
dessen verderblichen Auftrag Bescheid weiß(439),
lebt Eqmont fast
unbekümmert dahin,
unwissend über Eintreffen und Auftrag von Alba
~
im Lande(440).
Er weigert sich einfach, seinem K6nig so viel
,
j
Undankbarkeit(44l)
und Ungerechtigkeit zu unterstellen.
Und sollte
sich das, was er für unm6glich hält,
trotzdem ereignen,
dann hätte
die spanische Krone selbst den Haß des niederländischen Volkes
gegen sich ausgelöst und dessen brutale Trennung von Spanien
hervorgerufen(442).
Er erwähnt diese letzte Eventualität mit der
geheimen Überzeugung, daß es nie dazu kommen werde.
Eqmont kämpft also nicht, um das niederländische Volk der
spanischen Krone zu entziehen.
Er ist kein Kämpfer für die
politi~che Unabhängigkeit der Niederlande. Es ist jedoch
unzutreffend,
wie Peter Michelsen mit Recht bemerkt(443) , mit
Georg Keferstein zu glauben, daß Goethe mit Eqmont eine
unpolitische Gestalt habe zeichnen wollen(444), und zu behaupten:
439)Ebenda, S.402
440)"Oranien: Alba ist unterwegs
Egmont:
Ich glaub's nicht.
Oranien:
Ich weiß e8 "
Ebenda,
S.404
441)I'Eine Ungerechtigkeit,
der sich Philipp nie schuldig machen wird;
und eine
Torheit I
die ich ihm und seinen Räten nicht
zutraue." Ebenda,
S. 404
442)"Nein, Oranien,
es ist nicht möglich.
Wer Bollte wagen,
Hand an uns zu
legen?( ... ) Der Windhauch,
der diese Nachricht übers Land brächte,
würde ein
\\Jngeheures Feuer ZUBarruT1entreiben ( ., .)
Ein schrecklicher Bund würde in einem
Augenblick das Volk vereinigen.
Haß und ewige Trennung vom spanischen Namen
würde eich gev,,'altsam erklären."
Egmont, op.cit.,
5.404
443)Peter Michelson: ~onts Freiheit. In: Euphorion, Nr.65 (1971), S.287
444) Ober schiller. Interpretation des Egmont schreibt er:
"( ... )er
(Schiller)
verlangt von Goethe,
daß er einen politischen Menschen gestalten soll,
wo er
einen unpolitischen Menschen zeichnen wollte."
Georg Keferetein:
Die Tragödie
des Unpolitischen.
In:
Deutsche Vierteljahreszeitschrift für
Literaturwissenschaft 'J.nd Geistesgeschichte,
Nr.15
(1937),
Heft 111,
S.341t

I
171
"Der "Egmont" ist die Tragödie des Unpolitischen 4 des
unpolitischen Führers,
repräsentiert in Egmont ... ,,(4 5)
Schon als Reaktion auf den Brief des Grafen Olivia,
der Egmonts
Aufmerksamkeit auf den Verdacht lenkt,
den sein freier und
umstandsloser Umgang mit dem Volk bei der Regentin und am Hof des
Königs von Spanien hervorgerufen hat,
vertraut Egmont seinem
o
Sekretär sein politisches Vorhaben an:
"Ich stehe hoch und kann und muß noch höher steigen;
ich fühle
mir Hoffnung, Mut und Kraft.
Noch hab ich meines Wachstums Gipfel
nicht erreicht; und steh ich droben einst,
so will ich fest,
nicht
ängstlich st~hg. Soll ich fallen,
( ... ) da lieg ich mit viel
Tausenden. "( 4 )
Diese Worte drücken Egmonts pOlitische Ambition klar aus.
Er sieht
seinen politischen AUfstieg als einen Prozeß,
der ihm Sicherheit
garantiert, wenn er einmal auf dem Gipfel ist.
Denn durch die
sympathie des Volkes will er an die Macht kommen; er will dessen
tiefste Bestrebungen und Ideale verkörpern; er verbindet sein
pOlitisches Schicksal mit dem seines Volkes,
dessen Wünsche er auf
friedlichem Wege verwirklichen möchte.
Deshalb lehnt er Oraniens
Vorschlag ab,
Brüssel vor dem Eintreffen des Herzogs von Alba zu
verlassen,
um den unvermeidlichen bewaffneten Kampf in ihren
jeweiligen Provinzen zu organisieren,
indem er seinen Freund auf
die verheerenden Folgen eines solchen Verhaltens aufmerksam macht:
Keferatein,op.cit.,
5.356
op. cit.,
S. 401
p
IJ i$~V

I.
172
I
"Bedenke,
wenn du dich irrst, woran du schuld bist; an dem
~
verderblichsten Kriege,
der je ein Land verwüstet hat.
Dein
Weigern ist das signal,
das die Provinzen mit einmal ZU den Waffen
ruft, das jede Grausamkeit rechtfertigt,
wozu Spanien von jeher
nur gern den Vorwand gehascht hat.
Was wir lange mühselig gestillt
haben, wirst du mit einem Winke zur schrecklichsten Verwirrung
aufhetzen.
Denk an die städte,
die Edeln,
das Volk,
an die
Handlung,
den Feldbau, die Gewerbe!
und denke an die Ver'riÜstung,
den Mord!
RUhig sieht der Soldat wohl im Feld seinen Kameraden
neben sich hinfallen; aber den Fluß herunter werden dir die
Leichen der Bürger,
der Kinder,
der Jungfrauen entgegenschwimmen,
daß du mit Entsetzen dastehst und nicht mehr weißt,
wessen Sache
du verteidigst,
da d!7 zugrunde gehen,
für deren Freiheit du die
Waffen ergriffst." (4
)
Zwar geben die darauf folgenden Ereignisse Oranien recht; doch hat
Egmonts Analyse der situation ihre Triftigkeit. Seine
Befürchtungen wUrden sich verwirklichen, wenn er seinem Freund
folgte; und es wUrde bedeuten,
daß er für seine eigene Sicherheit
das niederländische Volk opferte, dessen politische Unreife ihm
doch nicht unbekannt ist,
wie er Klärchen gegenüber andeutet:
"( ... )geliebt von einem Volke, das nicht weiß,
was es will;
geehrt und in die HÖh~ ~etragen von einer Menge, mit der nichts
anzufangen ist ( ... ) "( 4 )
In der Tat zeigt das niederländische Volk,
zeigen besonders die
Bürger in diesem Werk Goethes zwar eine dumpfe Unzufriedenheit mit
der Politik von Philipp 11.,
aber sie unternehmen nichts,
um ihre
Lage zu ändern.
Sie begnügen sich damit,
ZU sagen:
"Wir ~a~en noch Egmont
noch Oranien!
Die sorgen für unser
Bestes!"( 4 )
447)Ebenda,
5.405
448)Ebenda, 5.415
449)Ebenda,
5.393

173
f
Der politischen Sensibilisierung, die der Schreiber Vansen
\\
unternimmt,
wird mit Mißtrauen begegnet(450). Was seinen Versuch
betrifft,
die Bürger von Brüssel dazu zu bewegen,
sich wie ihre
Brüder in Flandern aUfzulehnen(451),
so scheitert er einfach an
:i
deren Feindseligkeit, Vergeblich versucht auch Klärchen die Bürger
von Brüssel zum Aufruhr zu bewegen,
als Egmont verhaftet
wird(452).
Man kann also hier mit Keferstein sagen:
"Der "EgmQot" ist die Tragödie( .. ,)
des unpolitischen
Volkes (.
.)" (4!) 3 )
Was Egmont selbst betrifft, kann er mitnichten unpolitisch genannt
werden.
Er hat eine Auffassung vom Staat,
die bei dem berühmten
entscheidenden Gespräch mit dem Herzog von Alba am Ende des IV.
AUfzugs deutlich zum Ausdruck kommt.
450)DaS niederländische Volk ist offensichtlich gespalten.
Während das gemeine
Volk sich bereit
z.e~gt, seine Rechte mit Ge'...'alt zu verfechten,
sind die Bürger
für Verhandlungen,
wie es durch folgende Worte des Zimmermeisters
z~m Ausdruck
kommt:
"Lauter Lumpengesindell
Und das macht \\...:nsre gute Sache schlimm.
Wir
hätten eher,
in der Ordnung und standhaft,
unsere Gerechtsame der Regentin
vortragen und drauf halten Bollen.
Reden ~ir jetz.t, versammeln wir uns jetzt, 80
heißt es,
wir gesellen unB zu den Aufwieglern,"
Ebenda,
5.389
I
-Diejenigen,
die wie der Seifensieder,
dieser Meinung sind,
schenken Vansen kein
"
Gehör.
und dies führt
z.um Handgemenge mit denen,
die ihm folgen wollen.
Ebenda,
,
S.393f
,
~:
.;'
451)"Eure BrUder in Flandern haben das gute werk angefangen." Ebenda,
5.393
452)"( ... )lIbscheulichl( . . . ) Da
ihr laut den Helden verehrtet,
ihn Freund und
Schutz und Hoffnung nanntet,
i~~ vivat rieft,
wenn er kam:
da stand ich in
meinem winkel,
schob das fenster halb auf,
verbarg mich lauschend,
und das Herz
SChlug mir höher als euch allen,
Jetzt schlägt mir's wieder höher als euch
allenl
Ihr verbergt e\\Jch,
da es not
iet,
verleugnet
ihn und fühlt nicht,
daß ihr
untergeht,
wenn er verdirbt."
Ebenda,
5.437
453)Georg Keferstein,
op.cit.,
5.356
-Einige Jahre
z.uvor schrieb Fritz Brüggemann:
"Egmont ist die Tragödie des
versagenden BUrgertunlS,"
Goethes "Egmont":
die Tragödie des versagenden
.~
BUrgertu:ns.
In:
Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft,
Nr.ll
(1925),
5.165
l,I~"","
.-

2.3.2.2.2
POLITISCHE INTEGRATION UND KULTURELLE EIGENHEIT
Der Herzog von Alba,
der schon entschieden hat,
den Grafen
Egmont zu verhaften,
verwickelt ihn in ein Gespräch, um sieh dafür
r
einen Vorwand zu verschaffen.
In der Absicht,
zum Frieden im Lande
~ .'
,~..
beizutragen,
schildert Egmont in aller Offenheit die Meinung des
Volks über das Regiment des Königs Philipp 11. und seine eigene
Ansichten über die geeignetste Regierungsform.
Wichtig für ihn
ist, daß zwischen Regierendem und Regierten,
zwischen König und
Untertanen,
ein gegenseitiges Vertrauen bestehe,
welches auf einer
Art Familienverhältnis beruhe.
Daher folgende Antwort Egmonts,
wenn der Herzog von Alba den guten Willen des Volks als Garantie
gegen eine Wiederholung der Unruhe im Lande anzweifelt:
"Ist der gute Wille eines Volks nicht das sicherste, das
',::
edelste Pfand? Bei Gott!
Wann darf sich ein König sicherer halten,
als wenn sie alle für einen
einer für alle stehn? Sicherer gegen
4
innere und äußere Feinde?"( 54)
".'.
Um ein solches Vertrauen entstehen zu lassen,
schlägt er vor, daß
der König eine Generalamnestie gewährt,
"und bald wird man sehen, wie Treue und Liebe mit dem Zutrauen
wieder zurückkehrt." (45~)
Damit ist das Fundament bezeichnet,
auf dem das Verhältnis
zwischen Regierendem und Regierten beruhen soll. Aus gegenseitigem
454)Egmont,
op.cit.,
5.428
455)Ebenda
~_n ri"'diftl._===911·······
_.111___ da),. :1_2
n
• • • • • • • •
_
.... lII'I
....
_
....
Id2
:22

175
Vertrauen entstehen Treue und Liebe.
Daß es an einem solchen
Verhältnis fehle,
sei ja doch der Hauptvorwurf, den die Bürger von
Brüssel dem König Philipp 11. machen.
"Er hat kein Gemüt gegen uns Niederländer,
klagen sie,
sein
Herz ist dem Volk nicht ~eneigt, er liebt uns nicht; wie können
wir ihn wiederlieben?" (4 6)
Die Niederländer sehen also in Philipp 11. das Gegenteil seines
Vaters Karl V.
Die Maoht und Autorität des letzteren bei ihnen
ergaben sich aus der Tatsache, daß seine Art zu regieren keine
Kluft zwischen ihm und seinen Untertanen sohuf.
"Das war ein Herr!
sagen sie mit Sehnsuoht.
Er hatte die Hand
über den ganzen Erdboden und war euch alles in allem; und wenn er
euoh begegnete,
so grüßt'
er euoh wie ein Naohbar den andern; und
wenn ihr erschrooken wart,
wußt' er mit so guter Manier( ... ) Er
ging aus,
und r i t t aus,
wie's ihm einkam, gar mit wenig Leuten.
Haben wir doch 911e geweint,
wie er seinem Sohn das Regiment hier
abtrat( ... ),,(45 )
Die Regierungspraxis von Karl V.
paßte zu den Niederländern.
Er
war es,
der sioh auf die Niederländer einstellte und nicht
umgekehrt.
Es ist typisch für dieses volk,
daß seine Fürsten ihm
gleiohen sollen. Sie sollen, wie Soest im Stück einmal sagt:
"froh und frei sein wie wir,
leben und leben lassen.,,(458)
Dem entsprioht Egmonts Naturell, wie ebenfalls Soest,
456)Ebenda,
5.372
457)Ebenda
458)Ebenda

176
stellvertretend für die Bürger von Brüssel,
sagt:
"Warum ist alle Welt dem Grafen Egmont so hold? Warum trügen
wir ihn alle auf den Händen? Weil man ihm ansieht,
daß er uns
wohlwill; weil ihm die Fröhlichkeit, das freie Leben,
die gute
Meinung aus den Augen sieht; weil er nichts besitzt,
das e~ ~em
Dürftigen nicht mitteilte,
auch dem,
der's nicht bedarf."( 5 )
Egmont kann mit seinen Landsleuten so gut umgehen, weil er sie,
wie er selbst dem Herzog von Alba sagt,
kennt(460).
Daß der
Regierende die von ihm Regierten kennen solle,
ist eine
Grundbedingung in Egmonts AUffassung vom Staat. Diese Kenntnis
kann nur dadurch
erleichtert werden, daß Regierender und Regierte
Produkte derselben Natur und derselben Geschichte, Angehörige
derselben Kultur sind,
daß ihr sinn für Rechte und Pflichten durch
I.
,
dieselben Sitten und Gebräuche gebildet worden ist.
In dem
f.
Gespräch mit Alba sagt Egmont:
"C ... )natürlich ist's, daß der Bürger von dem regiert sein
will, der mit ihm geboren und erzogen ist,
der gleichen Begriff
mit ihm von Rec2~ und Unrecht gefaßt hat, den er als seinen Bruder
ansehen kann." (
1)
Wenn diese Varaussetzung fehlt,
kann die Macht des Regierenden,
auch wenn er mit der besten Absicht käme,
nur zu etwas führen,
was
459)Ebenda
460)"ICh kenne meine Landsleute.
Es sind Hänner, wert, Gottes Boden zu betreten;
ein jeder rund für sich,
ein kleiner König,
fest,
ruhig,
fähig,
treu,
an alten
Sitten hängend.
Schwer ist '8,
ihr Zutrauen" zu verdienen;
leicht,
z.u erhalten.
Starr und feet!
Zu drÜCken sind eieinicht ·~u unterdrücken." Egmont,
op.cit.,
5.430
461)Ebend~, 5.431
.. .,..,rll1:
In iG\\J

Egmont,
in bezug auf das Verhältnis zwischen Philipp 11. und den
Niederländern,
folgendermaßen kritisiert:
"Er will den inneren Kern ihrer Eigenheit verderben; gewiß in
der Absicht,
sie glücklicher zu machen.
Er ~~ll sie vernichten,
damit sie etwas werden,
ein ander Etwas.,,(4
)
Wie könnte ein Kolonisierter bei der Lektüre solcher Worte
seine Begeisterung unterdrücken? wie hätte Senghor darauf
verzichten können,
sich diese entschieden antikolonialistischen
Gedanken anzueigenen, um seinerseits die situation von
Kolonisierten,
die eigene situation also,
anzuprangern? Dies
scheint nun in krassem Gegensatz zu dem üblichen Bild vom
jt,,,.
unpolitischen Goethe zu stehen,
zu dessen Entstehung er selbst
durch manche Aussagen beigetragen hat(463),
und dem in den letzten
"
Jahren vor allem Adolf Muschg (464)
und besonders Ekkehart
Krippendorff(465)
entgegengetreten sind.
,!'
Obwohl Jürgen Schröder gut begriffen zu haben scheint, worum es
in dem Gespräch zwischen Egmont und dem Herzog von Alba geht,
schreibt er,
immer noch ein wenig im Banne des Bildes vom
unpolitischen Goethe:
462)Ebenda.
5.432
463)Vgl. dazu Ekkehart Krippendorff:
"Wie die Großen mit den Menschen spielen".
Goethes Politik.
Frankfurt am Main 1988,
S.66f
464)In einem 1984 in ~ainz geha1tene~ Vortrag über das Thema Goethea grüne
Wissenschaft zeigt ~dolf Huschg,
~ie Goethes wissenschaftliche Tätigkeit eine
ganze Philosophie der Umweltpolitik, des Verhältnisses des Menschen zur Natur,
kur~ eine Ökophilosophie ~ar.
-Der Vortrag ist abgedruckt in: Adolf Huschg:
Goethe als Emigrant,
Frankfur: am
Hain 1986,
S.
48-72
465) In seinem oben zitierten 8uch
(siehe Anm.
41)
stellt E. Krippendorff Goethes
ven Höser inspirierte
Auffassung der Politik dar.
Bei aller Zustimmung scheint
mir der Hinweis angebrach:,
daß Krippender!f den Einfluß etwas vernachlässigt,
den auch in dieser Hinsicht Herder auf Goethe ausgeübt hatte.

178
"In dem Gegeneinander der Niederlande und spaniens, Egmonts
und Philipp/Alba in den Jahren 1564 bis 1568 hat Goethe die
Spannung zwischen zwei Geschichtsanschauungen in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts dramatisiert:
zwischen einern
neuentstandenen,
von Herder und Möser geprägten poetisch-
bürgerlichen Geschichtsverständnis und der immer noch herrschenden
Geschichtsrracht des Absolutismus,
die im Rückblick als der
historisch falsche Weg zur bürgerlichen Freiheit erken~bar werden
und in der bürgerlichen Perspekt*~~ in ihrer ganzen Fremdheit und
Feindlichkeit erscheinen soll."(
)
Zwar sind die Ideen Herders und Mösers,
von denen sich Goethe
hatte inspirieren lassen,
um seinen Egmont mit dieser Auffassung
vom Staate auszustatten,
im Rahmen von Überlegungen über die
Geschichte formuliert worden. Wenn aber Möser schreibt:
"Die Geschichte der Religion,
der Rechtgelehrsamkeit,
der
Philosophie,
der Künste und schönen Wissenschaften ist auf die
sicherste Weise von d~~ Staatsgeschichte
unzertrennlich ( ... )" (
7),
und wenn Herder behauptet:
"Jede Nation hat ihren MittelPun~~ der Glückseligkeit in sich,
wie jede Kugel ihren Schwerpunkt." (4
),
so unterstreichen beide implizit den engen Zusammenhang zwischen
der Kultur jedes Volkes und dessen Staatsorganisation. Herders und
466)Jürgen Schröder: Poetische Erlösung der GeschLchte - Goethea Egmont.
In:
Geschichte als Schauspiel:
Deutsche Geschichtsdra~en. Interpretationen. Hrag.
von Walter Hinck,
Frankfurt
am Hain 1981,
S,103f
467)JU8tUS Höeer;
OB~abrücki9che Gesc~ichte (Vorrede zur ersten Ausgabe des
ersten Teils).
In:
sämrntliche Werke,
neue vermehrte Ausgabe
von B.R.Abeken,
Berlin 1858,
Bd.6,
5.XXI
468)J,G,Herder;
Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit
(1774).
In:
5ämmtliche Wer<e,
Berlin 1891,
NachdrucK Hildeaheim 1967,
Bd.5,
5.509

Mösers Überlegungen über die Geschichte sind also zugleich
Überlegungen über die Politik.
Indem sie die Individualität und
Einmaligkeit jedes Volkes behaupten, meinen sie auch dessen
spezifische Art,
sein Leben durch Arbeit und Erholung zu
regulieren,
sich sozial zu organisieren und zu verwalten, d.i.
sein Politik zu gestalten.
Der Egmont von Goethe ist die Verkörperung einer Auffassung des
staates,
nach der der staat als politische Organisation eines
,
,
jeden Volks eine Emanation seiner Kultur und seiner Geschichte
sein soll, wie es später von der Historischen Rechtsschule
gefordert wurde. Hat Goethe nun diese Auffassung vom staate
geteilt?
2.3.2.2.2.1
KULTUR UND POLITIK BEI GOETHE
Bekanntlich war Goethe von den Patriotischen Phantasien von
Justus Möser sehr begeistert(469).
Bereits vorher muß er auf
Herders Anregung zumindest die Einleitung von Mösers
Osnabrückischer Geschichte
(1768)
gelesen haben,
von der ein
Auszug in der unter dem Titel Von deutscher Art und Kunst 1773
erschienenen Textsammlung von Herder veröffentlicht wurde, und in
der Mösers AUffassung des Volkes als eines organischen Ganzen
schon zum Ausdruck kommt(470).
Krippendorff zeigt, wie
entscheidend Mösers Ideen für Goethes amtliches wirken in weimar
469)vgl.datu
E.
Krippendorff,
op.cit.,
S.22f
470)Siehe oben Zitat unter Anmerkung (45)
t
r
w,':aa
illlYJZZ. a
2 J&
a :SZill52

180
gewesen sind(471),
und welch reges Interesse für die regionalen
kulturellen Eigenheiten sie bei ihm erregt haben(472) .
I
j
,
Anläßlich der Rezension eines elsässischen Theaterstücks, Der
pfingstmontag,
zeigt Goethe im Jahr "1820 am Beispiel des Elsaß,
wie der Respekt vor der kulturellen Partikularität zur moralischen
Gesundheit eines Volkes beitragen und,
letzten Endes,
eine feste
Basis der Nationaleinheit dank der Achtung vor der natürlichen
,,
vielfalt ausmachen kann.
seine Überlegung auf die damalige
situation Deutschlands anwendend,
schrieb er:
"( ... )was soll aus ihr werden,
wenn man das Bedeutende der
einzelnen Stämme ausgleichen und neutralisieren will? Alle
Sprachverschiedenheit ruht auf der Mannigfaltigkeit der Organe,
und diese hängen wieder von mannigfaltiger Totalität menschlicher
Organisation ab,
die sich weder im Einzelnen noch im Ganzen
verleugnen kann( ... ) Lassen wir also gesondert,
was die Natur
gesondert hat,
verknüpfen aber dasjenige, was in großen Fernen auf
dem Erdboden auseinandersteht,
oh9~ den Charakter des Einzelnen zu
schwächen,
in Geist und Liebe!,,(4
)
I, 471)"OieMöser-Schriften sind bei Goethe auf einen ungemein fruchtbaren Boden
gefallen,
haben
in ihm das Verlangen nach gesellschaftlicher Praxis,
nach
öffentlichem Tätigsein,
das bis dahin vielleicht eher latent,
halbbewußt
vorhanden war,
freigesetzt.
Er brauchte "nur"
eine Gelegenheit,
wo er eich
in
ähnlicher Weise bewähren könnte.
Diese Chance präsentierte eich im Dezember 1774
in der Person des
jungen Prinzen earl August von Weimar,
der in Frankfurt
Station machte und bei der Gelegenheit den berühmten jungen Dichter
kennenzulernen wünschte."
E.
Krippendorff,
op.cit.,
5.27
472)"I ... )die von jenem (M~ser) formulierten politischen GrundUberzeugungen -
z.E.
die vom produktiven Reichtum gesellschaftlich-kultureller, und das heißt
auch politischer Vielfalt gegenüber zentral-national-ataatlichem Uniformismus -
entsprachen Goethea eige~en Einstellungen, und an ihnen hat er
zeitlebens ( ... ) festgehalten ( ... ) Es ist ( ... ) der Dialog zwischen kulturellen
partikularitäten,
das Hegen und Bewahren einer Vielfalt von Eigenständigkeiten,
die im Zusammenspiel eine Nation - und,
darüber hina1Je,
eine Weltkultur -
möglich machen,
nicht aber die
"Mannigfaltigkeit der o~gane'l( ••. )erdrijcken'l
Ebenda,
S. 24f
473)J.W.Goethe:
Der Pfingsmontag.
In: Goethes Werke,
hrsg.
im Auftrag der
Großherzogin Sophie von Sachsen,
41.Eand,
erste Abthei1ung,
Weimar 1902,
5.224
in za
&!

181
Einige Jahre später,
bei einem Gespräch mit Eckermann,
wird diese
Idee von Goethe noch deutlicher formuliert:
"Wodurch ist Deutschland groß als durch eine
bewunderungswürdige Volkskultur,
die alle Teile des Reiches
gleichmäßig durchdrungen hat( ... )? Gesetzt,
wir hätten in
Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien
und Berlin,
oder gar nur eine,
da möchte ich doch sehen, wie es um
die deutsche Kultur stände( ... ) Nun denken Sie aber an Städte wie.
Dresden, München,
stuttgart,
Kassel,
Braunschweig,
Hannover und
ähnliche;( ... )denken sie an die Wirkungen,
die von ihnen auf die
benachbarten Provinzen ausgehen(
)Frankfurt,
Bremen, Hamburg,
Lübeck sind groß und glänzend(
) Würden sie aber wohl bleiben,
was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränität verlieren und
irgendeinem großen deutschen R,ich als Provinzialstädte
einverleibt werden sollten?,,(4 4)
Wenn in diesem Zusammenhang das viel zitierte Wort fällt,
ihm,
Goethe,
sei "nicht bange,
daß Deutschland nicht eins werde,,(475),
dann handelt es sich bei der gesamten Textpassage deutlich um die
I
verteidigung der kulturellen Partikularität jeder Region innerhalb
f
eines und desselben Reiches,
jedes Stammes innerhalb eines und
desselben Volks,
was bereits Goethes "Lehrer" Herder sehr am
Herzen lag. Diese Auffassung der Politik vertritt auch Egmont, der
deshalb Senghor nur faszinieren konnte.
474)JOhann Pet er Eckerrnann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines
Lebens,
hrsg.von H.H.Houben,
Wiesbaden 1959,
5.532f
475)~benda, 5.532
-Um aue Goethe den Propheten der Bismarckchen deutschen Einigung zu machen,
ist dieser Satz sehr oft und zu Unrecht
in, zusanunenhang nur mit diesen
unmittelbar auf
ihn folgenden Aussagen gebracht worden:
"Unsere guten Chausseen
und künftigen Etsenbahnen werden das ihrige tun. Vor allem aber Bei ea eins in
Liebe
untereinander I Und immer aei ea eine gegen den auswärtigen Feind.
Ea sei
eine,
daß der deutsche Taler und Groschen im ganzen Reich gleichen Wert habe;
eins,
daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet
passieren kö~ne. Es sei eins,
daß der städtische Reisepaß eines weimar ischen
Bürgers von dem Grenzbeamten eines großen Nachbarstaates nicht für unzulänglich
gehalten werde,
als der Paß eines Ausländers.
Es sei von rnland und Ausland
unter deutschen Staaten überall keine Rede mehr.
Deutschland sei ferner eins
in
Maß und Gewicht,
in Handel und Wandel und hu~dert ähnlichen Dingen, die ich
nicht alle nennen kann und mag."
Ebenda,
5.532
;aUtu:::
2
Ä
I
U"l
ih:almr

1a2
2.3.2.2.2.2
EGMONT UND SENGHOB
Zur Analogie zwischen dem niederländischen geschichtlichen
Kontext zur Zeit des Grafen Egmont und der Situation Senghors und
der Begründer der Negritude-Bewegung kommt eine erstaunliche
;;
Identität der politischen Auffassungen bei Egmont und bei senghor
hinzu. wie Goethes BÜhnenfigur kämpfte Senghor weniger für die
politische Unabhängigkeit als für die Respektierung der
kulturellen Identität der afrikanischen Völker innerhalb eines
großen französischen Imperiums(476).
Schon 1937,
lange vor seinem Eintritt in die aktive Politik,
erörterte Senghor auf einer Konferenz in Dakar das heikle
kulturelle Problem in den französischen Kolonien im allgemeinen
und im besonderen in Westafrika
(in der A.O.F.). Er vertrat darin
in Anlehnung an seinen französischen Freund Delavignette "la
douceur d'etre differents et ensemble,,(477). Nicht daß Senghor von
seinen schwarzafrikanischen Brüdern gefordert hätte,
sie sollten
alles Europäische ablehnen.
Zwar definierte er die Kultur damals
noch als
"une reaction raciale de l'homme sur son milieu,
tendant a un
equilibre intellectuel et morale entre l'homme et ce
milieu." (478) i
476)Dieser Gedanke wurde schon von Robert Delavignatte in seinem Buch Soudan-
parie-Bourgogne
(Grasset,
Paris 1935)
vertreten.
477) "Das Wohlgefühl,
verschieden zu sein und doch zusammenzugehören"
Zitiert
und von mir übersetzt nach L.S.
Senghor: La probleme culturel an A.O.F.
In:
Liberte 1,
Ed.
du Seui1;
Paria 1964,
5.13
478)"e10e rassische Reaktion des Menschen auf sein Milieu, die auf ein
intellektuelles und moralisches Gleichgewicht zwischen dem Menschen und diesem
Hilieu abzielt." L.S.Senghor:
La probl~ma cultural ... op,cit.,
5.12

18:1
aber er ergänzte folgendermaßen:
,
"CoInJ1le le milieu n'est jamais immuable, non plus que la race,
la culture devient un 7~fort perpetuel vers un equilibre parfait,
un equilibre divin." (4
)
Senghor ging es darum, die kulturelle Eigenheit der afrikanischen
Völker trotz ihrer Zugehörigkeit zum französischen Kolonialreiche
zu bewahren.
Die Westafrikaner sollten, wie die Elsässer,
politisch französische Staatsbürger werden, kulturell aber sie
selbst bleiben(480).
Denn er war davon überzeugt,
daß,
wie es in
seiner Schrift Ce oue l'homme noir apporte(481)
heißt,
die
schwarz afrikanischen Kulturen Werte enthalten, die das gemeinsame
Kulturgut der ganzen Menschheit bereichern und befruchten können.
Wünschenswert wäre natürlich auch für senghor gewesen, daß die
überseeischen Territorien im allgemeinen und im besonderen die
schwarzafrikanischen total unabhängig würden, wie er bei einem
Interview mit der Zeitschrift Gavroche am 8.August 1946 zum
Ausdruck brachte(482). Allein er vertrat einige Wochen später, am
479)"Da das Milieu nie unveränderlich iet,
ebenso wenig wie die Rasse,
wird die
Kultur zu einer ewigen Bemühung, ein vollkommenes,
ein göttliches Gleichgewicht
zu erreichen."
Ebenda,
5.12
480)"Diatinguant la politiq'Je de la culture,
je voua proposerai: "Travaillons a
faire de l'Oueat-africain,
politiquement un citoyen fran~aiB; maie
c'Jlturellement?"
(Die Politik von der Kultur unterscheidend,
vrurde ich Ihnen
vor9chlagen:
"Arbeiten wir daran,
aus dem Westafrikaner einen französischen
5taatsbUrger zu machen:
aber kulturell?" Ebenda, 5.13
481lL.S.Senghor:
Ce qua
l'homme ~oir apporte. In; LibertB 1, op.cit., 55.22-38
482)~Je voudraie conclure en assurant lee Blancs de natre volontä inebranlable
de gagner
not re independance et qu'il serait aussi sot que dangereux pour eux de
vauloir faire marche arriere.

Nous 8om~es p~et8, s'il le fallait en dernier
recours,
a conque~ir la liberte par tous les moyens, fussent-ile violents. Je ne
pense pas qua la France qui vient d'eliminer le racisme hitlerien puisee naue
reprocher catte decision."
(Zum Schluß möchte ich den Weißen unseren
unerschütterlichen Willen versichern,
unsere unachängigkeit
zu erlangen,
und daß
es von ihnen so dumm wie gefährlich wäre,
einen Schritt rückwärts machen zu
wollen.
Wir sind bereit -
sollte es letztendlich dazu kommen -
die Freiheit mit
cu
lEi
L; p"

184
18. september 1946, als neuer Abgeordneter von Senegal im Namen
der sozialistischen Fraktion,
zu der er gehörte,
vor dem
französischen Nationalparlament folgende These:
"Ce n'est( ... )qu'apres l'explrience de la dlmocratie locale et
l'ltablissement des divers statuts ou constitutions propres a
chaque pays,
que pourra etre etabli durablement,
avec la
participation de tous les E~§JS associes,
la constitution de la
Federation francaise ( ... )" (
)
Mit anderen Worten: die Völker der überseeischen Territorien im
allgemeinen und im besonderen diejenigen von Schwarzafrika werden
in der französischen Republik als mit dem Mutterland assoziierte
selbständige Staaten verbleiben. Schon ein Jahr zuvor wurde diese
Idee von Senghor in einem in La Com~unaute francaise
veröffentlichten Artikel mit dem Titel Vues sur l'Afrigue Noire ou
assimiler,
non etre assimills entwickelt.
In Anlehnung an Robert Delavignette, den Autor von Soudan-
Paris-Bourgogne
(484),
erklärt Senghor:
allen Mitteln -
sollten sie auch gewalttätig sein -
zu erobern.
Ich glaube
nicht,
daß Frankreich,
das den Hitlerschen Rassismus soeben ausgeschaltet hat,
uns diesen Entschluß vorwerfen kann." L.S.senghor:
Neue oe vOülons plus ~tre des
sujet9.
In:
Liberte 2,
Ed.
du Seuil,
Paris 1971,
S.18
. Von mir übersetzt.
48J)"Erst( ... )nach der Erprobung der lokalen Demokratie und der Herstellung
verschiedener,
jedem Land angepaßter Statuten oder Verfassungen kann die
Verfassung der französischen Federation unter Beteiligung aller assoziierten
Staaten dauerhaft festgelegt werden( ... )" L.S.Senghor:
bssimilation et
a9Bociation.
In:
Liberte 2,
op.cit.,
5.26
484)"Les vingt mille ~coliers soudanais de mon temps seront deux cent mille
bientöt.
11s se remettront ä lt~cole de leur Soudan.
Ila le resteront dans ses
valeurs propree en m~me temps qu'ils le r~noveront an l'associant ä la France."
(Die zwanzigtausend sudanischen schüler meiner zeit werden bald
zweihunderttausend sein.
Sie werden in die schule ihres Sudan zurückkehren.
Sie
~erden ihn in seinen eigensten Werten wiedernerstellen und ihn zugleich
erneuern,

indem sie ihn mit Frankreich aeeozLieren." Zitiert und von mir
übersetzt nach L.S.Senghor: Libert~ 2, op.cit.,
S.43
..
2i2
iSbLas

"Nous avons un temperament,
une ame profondement originale.
Cela transparait dans nos moeurs et nos croyances.
On peut
transporter,
telle quelle,
chez nous,
l'organisation politique et
sociale de la Metropole,
avec departements et deputes,
proletariat
et partis,syndicats et enseignement laique. On peut nous faire
perdre nos qualites, peut-etre nos defauts.
On nous inoculera les
defauts des Metropolitains;
je doute qu'on puisse,
de cette
maniere,
nous donner les qualites. On risque seulement de faire de
nous de pIles copies fran~~~ses, des consommateurs, non des
producteurs de cu 1 ture. " (
)
Am Beispiel seines eigenen Volkes, der 5ereres, hebt er das
hervor, was er fUr die Hauptcharakteristika aller
schwarzafrikanischen Gesellschaften hält: die Einheit und
Harmonie(486)
um den König, den politischen FUhrer(487).
50 kommt
er zu der Ansicht, daß
"le gouvernement direct,
institue,
tres sinceremen 4S au nom du
progres etait,
en realitl,
une regression politique."(
8)
485) ftWir haben ein Temperament,
eine zutiefst eigene Seele.
Das scheint in
unseren Sitten und unserem Glauben durch.
Han kann die politische Organisation
der Metropole mit Verwaltungabezirken und hbgeordneten,
Proletariat und
Parteien, Gewerkschaften und konfessionslosem Unterricht unverändert bei uns
einführen.
Man kann uns um unsere Eigenschaften und vielleicht auch um unsere
Hängel bringen. Han wird uns die Fehler der Bewohner der Metropole einimpfen;
ich zweifle daran, daß man ung auf diese Weise deren Eigenschaften geben kann.
Han läuft nur die Gefahr,
aus uns blasse französische Kopien,
Konsumenten und
nicht Hersteller von Kultur zu machen." L.S.Senghor:
Vues Bur l'Afrigue noire ou
assimiler.
non etre assimiles.
In:
Liberte 2,
op.cit.,
5.43
486)"ce qui frappe,
c'est son unite et son harmoni.e."
(Was auffällt, das ist
ehre Eenheet und Harmonee)
Ebenda,
5.53
487)"Le roe 6taH un personnage mytheque:
Cl repr6sentait l'unit6 du royaume,
1e
lien religieux gui unissait la communaute des vivantB aux Ancetres et A la
Divinite. n
(Der König war eine mythische Person:
er vertrat die Einheit des
Reiches, das religiöse Band,
das die Gemeinschaft der Lebenden mit den Vorfahren
und der Gottheit vereinigte)
Ebenda,
5.48
488)"daß die direkte Regierung,
welche sehr aufrichtig im Namen des FortSChritts
eingeführt wurde,
in Wirklichkeit ein politischer Rückschritt war." Ebenda,
5.57
1,""'~~~ll:"~{••rilii4:Jii49i)i:"!IlB'i1·•••••••••••••••••••••••••. . . . . . . . . . . . . . . .,11",

186
An Stelle einer von der französischen Hauptstadt ausgehenden
Zentralgewalt fordert Senghor,
daß die den Völkern der Kolonien am
nächsten stehenden Vertreter der Macht in Schwarzafrika
Schwarzafrikaner seien, welche von den Afrikanern selbst nach dem
traditionellen Verfahren gewählt würden(489).
Die Dorfhäuptlinge
würden die Vertreter ihres Verwaltungsbezirks, meist identisch mit
dem Territorium eines stammes, wählen; diese würden die Vertreter
der ganzen Kolonie wählen,
welche die Mitglieder des föderativen
Parlaments wählen würden.
Natürlich würde das französische
Kolonialreich seine föderative Struktur in Afrika,
also die
Gliederung in Nord-Afrika,
Zentralafrika (A.E.F.)
und Westafrika
(A.O.F.)
beibehalten.
Im Mutterland würde ein Parlament (un
parlement imperial) tagen, welches aus Vertretern des Mutterlandes
und der überseeischen Territorien bestünde, und das über
allgemeine und internationale Angelegenheiten beraten WÜrde(490).
Die exekutive Gewalt in jeder regionalen Föderation würde von
einem von der Metropole ernannten Gouverneur ausgeübt werden. Er
würde die Gesetzesinitiative haben, wobei Gesetze aber erst in
Kraft treten würden,
nachdem sie vom lokalen Föderationsparlament
verabschiedet worden wären.
Das,
was an Senghors vorschlägen als bedenkenswert und
wesentlich erscheint,
ist der Gedanke, daß die politische Macht
auf der Respektierung der Individualität eines jeden Volks beruhen
und daraus erwachsen soll, daß alle Gesetze,
letzten Endes, das
4S9)"Je ne auia pas un fanatique du bulletin da vote,
qui est un mode europäen
d'~lection. Je ne tiena pas non plus ä ce qua 1e vota aait individuel. Je 18
voudrais plutöt familial en Afrique Noire -
ce qui serait dans la tradition du
paya."
(Ich bin kein Fanatiker des Wahlscheins,
der eine europäische Art des
Wählena ist.
Ich bestehe auch nicht darauf, daß die Wahl
individuell aei.
Ich
möchte vielmehr,
daß in Schwarzafrika die Familien Träger des Wahlrechts seien -
was im Sinne der Tradition des Landes wäre.)
Ebenda,
S.59f
490)Ebenda,
5.60

187
Ergebnis eines Dialogs zwischen den beteiligten Völkern sein
sollen, was durch folgende Metapher zum Ausdruck gebracht wird:
"Ce systeme,
( ... )loin d'affaiblir l'autorite de la Metropole,
ne ferait que la renforcer puisqu'il la fonderait sur le
consentement et l'amour d'hommes liberes, d'homrnes libres; loin
d'affaiblir l'unite de l'Empire, il la souderait puisque le chef
d'orchestre aurait pour mission non d'etouffer, en les couvrant de
sa voix,
les voix des differents instruments, mais de les diriger
dans l'unite et d~ 1ermettre ä la moindre flUte de brousse de
jouer son röle." ( 9 )
Dies ist, mit einigen kleinen Unterschieden, das gleiche Ziel,
das der Egmont von Goethe verfolgt. Weit davon entfernt, das
niederländische Volk der politischen Autorität der spanischen
Krone entziehen zu wollen, versucht ,er vielmehr, sie für dieses
Volk akzeptierbar werden zu lassen,
indem er rät, mit ihrer
direkten Ausübung Einheimische zu betrauen, die allein dazu fähig
seien, diese Fremdherrschaft dem Gemüt der Niederländer
anzupassen. Egmont, der mit stolz in einer mit dem goldnen Vlies
geschmückten spanischen Tracht vor Klärchen tritt(492) und sich
dabei als von Natur aus unfähig erklärt, die öffentlichen
Angelegenheiten nach der spanischen Art zu fUhren(493),
zeigt in
der Tat eine große Nähe zu dem, was Senghor für die kolonisierten
Völker Schwarzafrikas forderte, nämlich "assimiler, non etre
491) "Weit davon entfernt,
die Autorität der Hetropole zu schwächen( •.. ) würde
dieses System aie nur befestigen,
da es eie auf das Einverständnis und die Liebe
von befreiten Menschen,
von freien MenBc~en gründen wUrde; weit davon entfernt,
die Einheit des Imperiums zu 8ch~ächen, ~~rde es eie zusammenachmieden, da der
Kapellmeister die Aufgabe hätte,
die Klänge der verschiedenen Instrumente nicht
zu dämp~en,
indem er sie mit seiner Stimrr.e übertönte,
Bondern eie im Einklang
miteinander zu dirigiere~ und der geringsten BUBchflöte zu erlauben,
ihre Rolle
zu spie:en." Ebenda,
5.60
492)"Ich versprach dir,
einmal spanisch z.u Kommen." Egmont,
op,eit., 5.412
493)"Ich habe nun
z.u der epaniechen Lebensart nicht einen Blutstropfen in meinen
Adern;
nicht Lust, meine Schritte nach der neuen bedächtigen Hofkadenz zu
mustern.~ Egmont. op.cit.,
5.399

188
assimiläs" (assimilieren, nicht assimiliert werden),
in einer
fruchtbaren Assoziation mit dem Mutterlande.
Ob Senghor sich selbst in dieser Gestalt erkannt habe, ob er
von ihr beeinflußt worden sei, das kann hier nicht mit Sicherheit
behauptet werden, auch wenn er selbst mitgeteilt hat, sie habe ihm
und seinen Gesinnungsgenossen als Vorbild gedient. Festzuhalten
ist in jedem Falle eine erstaunliche Identität der politischen
Anschauungen zwischen Senghor und Egrnont, bzw. zwischen Senghor
und Goethe, eine Identität, die sich bis zur Bewunderung des Elsaß
als eines Vorbildes regionaler kultureller Eigenheit und
politischer Integration(494) erstreckt.
Mit Egrnont stellte sich nicht die Frage "wie kann man Neger auf
Französisch sein?,,(495), wie Senghor sie später formulierte,
vielmehr ließ sich mit Goethes Drama eine Antwort auf die Frage
finden: wie kann man Franzose auf Bambara, Baule, Bete, Diola,
Wolof etc.sein? Wenn Senghor sich diese Antwort als französisches
Imperium mit kultureller Autonomie für die beteiligten Völker
vorstellte, dann war das schon das, was später Frankophonie heißen
sollte.
494)Senghor Bpricht von einer "pn'di1ection que j 'ai pour l'A1eace,
1a Bretaqne
et la Normandie,
des r~gionB fortes,
caract~riBtiqueB." (einer Vorliebe, die ich
tür das Elsaß,
die Bretagne und die Normandie,
jene starken,
charakteristischen
Regionen empfinde.)
L.S.Senghor:
La pO~8ie da l'action. Convereations avec
Hohamed Aziza,
Ed.
Stock,
0.0.,
1980,
5.50
495)L.s.senghor:
Comment peut-on etre Negr. an francaiB7(1975).In: Le S~n~ga1
ecrit. Ed.
par Gisela Bonn,
Horst Erdmann Verlag Tübingen, NEA Dakar, o.J.,
5.9-
12
<rr
I

189
2 • 3 . 2 . 3
GRÖßE UND SCHÖNHEIT DER SELBSTÄNDIGKEIT:
PROMETHEUS UND GANYMED
"Nouveaux Promlthles,
Fausts ä visage d'lblne,
nous opposions,
a la platitude de la raison, les hauts fOts de nos forätsi ä la
sagesse souriante du "Dieu aux oreilles roses",
l'incendie de
brousse de notre täte,
~~rtout l'incoercible Ilan de notre sang
dans notre poitrine.,,(4
)
So drückt Senghor das aus, was ihm der Prometheus und der Faust
von Goethe bedeuteten.
In ihrem Kampf "gegen den kapitalistischen
Imperialismus", wobei Götz und Egmont ihm und seinen
Gesinnungsgenossen Vorbilder gewesen seien, hätten sie sich wie
neue Prometheusse und schwarze Fauste gefühlt,
dem trocknen
Rationalismus des Okzidents die noch unberührte, den afrikanischen
Urwäldern ähnliche Natur des Schwarzafrikaners entgegensetzend,
die christliche Moral der Verzeihung verwerfend,
um ihre Revolte
heftig zum Ausdruck zu bringen und ihren Entschluß zu verkünden,
von nun an ihr Schicksal nach den Werten der schwarz afrikanischen
zivilisationen zu erfüllen.
Ist das wirklich die Botschaft des
Prometheus und des Faust von Goethe an die Schwarzafrikaner des
Zeitalters der Entkolonisierung?
496)"Neue PrometheuBse,
Fauste mit Ebenholzgesichtern, setzten wir der Flachheit
der Vernunft die hohen Stämme unserer Wälder,
der lächelnden Weisheit des
"Gottes mit den rosigen Ohren"
den BUBchbrand unseree Kopfes,
besonders den
unbändigen Elan uneeres Blutes in uneerem Herzen entgegen." L.S.Senghor: La
Message da Goethe aux Negrea nouveaux, op.cit.,

5.84

190
I
2.3.2.3.1
DIE GRÖßE DER SELBSTÄNDIGKEIT: PROMETHEUS
Der mit der griechischen Antike vertraute Senghor konnte
Goethes Hymnen Prometheus und Ganymed aus dem Jahre 1774 nicht
übersehen, da diese Gedichte der griechischen Mythologie entnommen
sind und zu den bekanntesten des Dichters gehören.
In der griechischen Mythologie ist Prometheus jener Titan, der
gegen den willen der Götter Menschen aus Lehm formte und sie
belebte; er stahl den Göttern vom Olymp das Feuer und schenkte es
den Menschen,
vor denen es bislang versteckt gehalten wurde.
Zur
Strafe ließ ihn Zeus an einen Felsen des Kaukasus fesseln, wo ihm
ein Adler die Leber fraß,
welche ständig nachwuchs. Später wurde
er, mit Zeus'
Zustimmung von Herkules befreit,
zum Ratgeber der
Götter im Olymp.
Goethes Gedicht zeigt diese mythologische Figur in dem
Augenblick, da ihr Konflikt mit Zeus den Höhepunkt erreicht hat.
Schon die erste Strophe drückt die Revolte gegen Zeus aus.
"Bedecke deinen Hi~~"
Zeus,
Mi t
Wolkendunst ! " (
)
Nicht nur kehrt sich der Sprecher von Zeus ab,
sondern er wagt es,
ihn mit einem Knaben zu vergleichen,
"der Disteln köpft,,(498) , als
seien die Götter nicht mehr allmächtig.
Noch schlimmer, die Erde
steht, nach seinen worten,
nicht unter Zeus' Autorität, sondern
497)Goethes Werke in 14· Bänden
(HA. München 1982), op.cit.,
1.Bd., 5.44
498}"Und übe, Knaben gleich,
Der Diestein köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhnl" Ebenda,
S.44f

191
sie gehört ihm, Prometheus, der sie "meine Erde,,(499) nennt, der
stolz auf seine Hütte ist, da er sie selbst gebaut hat; er genießt
sein Herdfeuer mit umso größerem stolz, als er meint, zeus beneide
ihn darum(500). Tatsächlich hält er die Götter für die Ärmsten
~
unter der sonne(501), weil sie auf die Opfergabe von Menschen
~:
angewiesen sind, die töricht genug sind, auf ihre Hilfe zu
,
hoffen(502), obwohl sie diese Hoffnung noch stets getrogen
haben(503). Nichts ist deshalb berechtigter als die Frage:
"Ich dich ehren? Wofür?,,(504)
Und damit ist es nicht weit bis zu der Unabhängigkeitserklärung,
mit der das Gedicht schließt:
"Hier sitz' ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
499)"MUßt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,"
Ebenda,
5.4S
SOOI"Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest." Ebenda
SOl)"Ich kenne nichts Ärmer's
Unter der 50nn' als euch Götter." Ebenda
S02)"Ihr nähret kümmerlich
Von opfersteuern
Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet,
wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren." Ebenda
S03) "Hast du die schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillt
Je des Geängsteten?" Ebenda, 5.4Sf
S04) Ebenda,
5.4S
[
;;a;:s:&&H

192
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein n~8gt zu achten,
Wie ich."(
)
Dazu schreibt Edith Braemer:
"Der Anspruch,
Menschen nach dem eigenen Bilde zu schaffen,
ist eminent bürgerlich,
denn er richtet sich ebenso gegen Gott,
nach dessen Bild in religiöser Vorstellung die Menschen erschaffen
wurden, wie gegen d~Ö Fürsten, die nach höfischer Vorstellung
vorbildhaft sind."(
6)
Damit wird das Gedicht einer bestimnten Phase der deutschen
Sozialgeschichte zugeordnet. Aber der Anspruch,
den Prometheus
formuliert,
kann unschwer auf das Verhältnis zwischen
Kolonisierten und Kolonialherren übertragen werden.
Kolonisieren wollen,
heißt ja in einern kulturellen Sinne, sich
für vorbildhaft zu halten und Menschen nach seinem Bild formen zu
wollen.
Indern Senghor sich selbst und die Mitbegründer der
Negritude-Bewegung "neue Prometheusse" nennt, erklärt er ihre
Ablehnung der Kolonisation und unterstreicht er ihren Anspruch,
ihr schicksal selber in die Hand zu nehmen, d.i.
Menschen nach
ihrem eigenen Bilde - nach den Werten der schwarzafrikanischen
Zivilisationen -
zu formen.
Senghor und seine Gesinnungsgenossen
entschließen sich also,
den Palästen des imperialistischen Europa
den Rücken zu kehren,
um sich in die Hütten ihrer Dörfer
zurückzuziehen.
Denn, wie Edith Braemer weiter meint:
"Das ist der Triumph der Hütte,
erwachsen aus bürgerlicher und
bäuerlicher Bedrängnis,
aber auch aus dem Haß gegen die
Bedrängnis.
Die Hütte steht für die charakteristische Nation gegen
die polierte Nation,
also nicht nur gegen den
SOS)Ebenda, 5.46
506)Edith Braemer: Goethea Prometheu9 und die Grundpo9itionen des Sturm und
Drang,
Berlin und Weimar 1968, 5.269
~~...cil\\il"'T!F..·7'J:!"
~"'~'........"'.............-":"-,•.
..-!l!lMM\\!I!Ill
G
~,~...j'$f:!!5i.
tI II"IIII'
I • • •_.IIIIIIIl!!IIIIIIIl!!I!I!!!!!!!!I!I!!!!!!I!!!!!!!!!!I!!!!IIIII!!!!!I------------

193
feudalabsolutistischen Gegner,
sondern ebensosehr gegen die eigene
Mutlosig~ö~t, gegen die Fesseln, die abzuwerfen noch nicht gewagt
wurde. " (
)
Es ist, als ob Senghor für die Negritude-Bewegung jene Haltung
übernommen habe, die Goethe in bezug auf die Entstehungsumstände
seines Gedichtes folgendermaßen schildert:
"Die alte mythologische Figur des Prometheus fiel mir auf,
der, abgesondert von den Göttern,
von seiner Werkstätte aus eine
Welt bevölkerte.
Ich fühlte recht gut,
daß etwas ~~deutendes sich
nur produzieren lasse,
wenn man sich isoliere.,,(5
)
Ähnlich möchte sich Senghor, um Kraft zu schöpfen,
auf sein
Geburtsdorf Joal(509)
in Sine(510),
seine Heimat zurückziehen.
Über sein Prometheus-Gedicht schrieb Goethe in Dichtung und
wahrheit,
es gehöre zu dem Fragment gebliebenen Drama gleichen
Titels(511).
In diesem Fragment ist Prometheus,
bei seiner
Rebellion gegen Zeus,
nicht mehr allein.
Bei seinem kühnen
Unternehmen, Menschen nach seinem Bilde zu schaffen,
genießt er
die Hilfe von Minerva, der Tochter Zeus', welche ihm das Geheimnis
entdeckt,
seine Geschöpfe zu beleben(512). Wenn Merkur Zeus, der
507)Edith Braemer, op.cit.,
5.292
508)J.w.Goethe: Dichtung und Wahrheit,
15.Buch, Werke,
op.cit, Bd.10, 5.48
509)vgl.
dazu das Gedicht Joal von L.5.5enghor in:
Chants d'ombre suivi de
hosties noires.
Ed.du 5euil, Paris 1945,
1948/
5.19f
510)vgl. dazu L.5.5enghor:
Nuit de 5ine,
in:
Chants d'ombre suivi de hosties
noires,
op.cit.,
S.l?f
511)"Die Fabel des Prometheus ward in mir lebendig.
Das alte Titanengewand
schnitt ich mir nach meinem wuchse ZU,
und fing,
ohne weiter nachgedacht zu
haben,
ein Stück zu schreiben an( ... )Zu dieser seltsamen Komposition gehört als
Monolog jenes Gedicht,
das in der deutschen Literatur bedeutend geworden( .•. )"
J.W,Goethe: Dichtung und Wahrheit,
op.cit.
5.
48
512)"Komm,
ich leite dich zum Quell des Lebens all,
Den Jupiter uns nicht verschließt:
sie Bollen leben,
und durch michl"
J.W.Goethel
Prometheu8.
In: Goethes Werks,
op.cit.,
Bd.4,
5.181
~:"-~~J:...~"t.~..r~ _ _.miiiiii_...
"...·"""-"'__~·~__- - - - - - - - - - -

194
im Dramenfragment auch Jupiter heißt,
den Verrat seiner Tochter
anzeigt und ihn auffordert,
den Frevel zu bestrafen(513) ,
antwortet der Herr vom Olymp:
"Sie sind!
und werden sein!
Und sollen sein!
Über alles, was ist
Unter dem weiten Himmel,
Auf der unendlichen Erde,
Ist mein die Herrschaft.
Das Wurmgeschlecht vermehret
Die Anzahl meiner Knechte.
Wohl ihnen, wenn sie meiner Vatersleitung folgen;
Weh ihnen, wenn sie meinem Fürstenarm
sich widersetzen.,,(514)
Doch im Gegensatz zur Fabel der Mythologie bestraft Zeus weder
Prometheus dafür, daß er sich mit ihm hat messen wollen,
noch
seine Tochter Minerva dafür, daß sie nicht nur mit seinem Gegner
zusammengearbeitet,
sondern ihm auch das Geheimnis der Belebung
seiner Geschöpfe verraten hat.
Er betrachtet Prometheus' Werk
vielmehr als Verlängerung seiner Schöpfung und daher seiner
Autorität unterworfen.
Daß er Prometheus nicht bestraft, als der
ihm trotzig seine Geschöpfe zeigt(515),
läßt die Absicht des
513)"Greuel - Vater Jupiter -
Hochverratl
Minerva, deine Tochter,
Steht dem Rebellen bei,
Hat ihm des Lebens Quell eröffnet
Und seinen lettnen Hof,
Seine Welt von Ton
Um ihn belebt.
0, dein Donner,
Zeust"
Ebenda,
5.181-182
514)Ebenda, 5.182
515) "
Sieh nieder,
Zeus,
Auf meine Welt,
sie lebtl
Ich habe sie geformt nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
zu genießen und zu freuen sich
Und dein nicht zu achten
Wie ich,"
Ebenda,
5.182-183
3=
.7.
rZ?
_" "' .-"
" I liiti

I'
195
Dichters erahnen,
Diese Absicht, die im Einklang mit dem Ausgang
der mythologischen Fabel steht(516),
ist noch deutlicher von
Herder in seinem stück Der entfesselte Prometheus (1802)
enthüllt
worden.
Herder will durch dieses stück die Errungenschaften der Kultur,
dieses Produkts der Vernunft, des Feuers, das Prometheus den
Göttern stahl und den Menschen schenkte, verherrlichen und so den
Spender jener fundamentalen Fähigkeit preisen, durch welche der
,
Mensch,
indern er an der Schöpfung teilnimmt, sich zu Gott erhebt.
In der Widmung an Gleim kommt das zum Ausdruck:
"Wer möchte aber noch zu unserer Zeit Prometheus' Charakter,
wie Aeschylus es darstellt,
fortzuführen wagen?
( . . . ) Indessen
bleibt die Fabel des alten Halbgottes ein sehr lehrreiches Emblem.
Sein Name sowie der Name seines ihm so ungleichen Bruders, die
Geschichte der Pandora, die er verschmähte,
sein Bruder aber
aufnahm, und die dem
Geschlecht der Menschen so viel Unheil
brachte; die Bildung dieses Geschlechtes selbst und das Geschenk,
das Prometheus ihm vorn Himmel holte; die Strafe, die er dafür
leiden mußte,
die Befreiung seiner durch Hercules; seine
Verwandtschaft mit der Erde und Themis selbst -
alle diese
Umstände sind ein so reicher stoff zu Bildung eines geistigen
sinnes in ihren Gestalten, die uns zuzurufen scheinen:
"Gebrauchet
das Feuer, das Euch Prometheus brachte,
für Euch!
Lasset es heller
und schöner glänzen! denn es ist die Flamme der immer fortgehenden
Menschenbildung"( ... )die Bildung und Fortbildung des
Menschengeschlechtes zu jeder Cultur, das Fortstreben des
göttlichen Geistes im Menschen zu Aufweckung all seiner
Kräfte,,(517)
Wie der Prometheus von Goethe seine Menschen nur mit Hilfe von
Minerva belebt,
führt derjenige von Herder die Seinigen nur in
Zusammenarbeit mit Ceres-Demeter in die Kultur ein.
Im einen wie
im anderen Fall genießt Prometheus die mittelbare Unterstützung
516)Oie Rolle des Ratgebers der Götter,
die Prometheus am Ende spielt,
deutet
auf die Bedeutung -
auch für die Götter -
seiner Tat hin.
Sie bedeutet
besonders,
daß er mit dieser Tat den Göttern nützlich wird.
S17)Johann Gottfried Herder:
Der entfesselte Prometheua.
In: Herder'e Werke,
hrsg.
von Heinrich Dünt~er, Berlin o.J., S.141f
,

·
196
(
, .
der Götter; und alles verläuft genau im Sinne der Themis, wenn sie
sagt:
"Die Menschenfreundlichsten der Götter sind
Hilfreich dem Unterfangen, das Du begannst,
Das zu Eonen reift. ~~r olyrnpus ist
Fortan auf Erden.,,(5
)
Dieser letzten Endes segensreiche Gebrauch des prometheischen
Feuers, mit allen damit verbundenen. Unannehmlichkeiten, macht auch
das Hauptthema von Goethes Pandora (1808)
aus.
Senghor scheint all dies begriffen zu haben,
indem er die
Begründer der N~gritude-Bewegung mit Prometheus identifizierte.
Der zivilisierten Welt des imperialistischen Europa den Rücken zu
kehren und sich in seine schwarzafrikanische Heimat
zurückzuziehen, das hieß, sich nur vorübergehend zu isolieren;
denn damit wUrde man sich der göttlichen Schöpfungsarbeit
anschließen, um die Menschheit um etwas Neues zu bereichern; es
hieß, sich schließlich doch dem Rest des Menschengeschlechtes
zuzugesellen.
2 . 3 . 2 . 3 . 2
SCHÖNHEIT DURCH SELBSTÄNDIGKEIT: GANYMED
Wenn Senghor in seinem Goethe-Essay von 1949 eine Parallele
zwischen Goethe und einer anderen Gestalt der griechischen
Mythologie herstellt und von einem Goethe "beau comme
Ganyrnede,,(519) spricht, dann ist das zunächst nur eine Anspielung
518)Ebenda, 5.156
519)"ein Goethe schön wie Ganymed" L.5.5enghor:
Le Message de Goethe aux N~gres
nouveaux, op.cit.,
5.84

auf Goethes Gedicht Ganymed. Auf den ersten Blick hat dieses
Gedicht außer dem Titel nichts mit der Ganymed-Fabel der
griechischen Mythologie zu tun. Bei der Lektüre des Gedichtes
würde man ohne dessen Titel nie an die Legende jenes Jünglings in
der griechischen Mythologie denken, den Jupiter wegen seiner
großen Schönheit eines Tages durch einen Adler in den Olympus
entführen läßt, wo er von
nun an als Mundschenk der Götter lebt.
Das lyrische Ich in Ganymed fühlt sich vor der Schönheit der
Landschaft und der Stimmung eines Frühlingsmorgens so glücklich,
daß es den Eindruck hat,
in dieser Stimmung aufzugehen und mit
der göttlichen Einheit der Dinge des Universums zu verschmelzen.
Wie Joachim MUller(520)
haben die meisten Interpreten auf die
den
Gedichten Prometheus und Ganymed zugrunde liegende und beide
verbindende spinozistische Weltanschauung hingewiesen.
Die
Polarität, durch die J. MUller die beiden Gedichte miteinander
verbunden sieht(521),
hängt ebenfalls mit dem spinozismus als
Quelle von Goethes Inspiration zusammen.
Es gibt aber in der
Uberlieferungsgeschichte dieser Gedichte ein Detail, das die
Interpreten zwar wiederholt unterstrichen aber noch nicht erklärt
haben.
Es ist die Reihenfolge,
in der diese Gedichte von Goethe
selbst und seitdem stets aufs neue veröffentlicht wurden. Obwohl
Prometheus im Herbst 1774 und damit später als der im Frühjahr
520)"Ich und Natur werden gleichermaßen zum Gott erhöht,
oder besser:
an die
Stelle des Göttlichen gesetzt,
eie werden welthaltig. Wir sind wieder beim
spinozistischen deus sive natura,
das auch den prometheiechen Gotteetrotz
impliziert." Joachim Müller: Goethes Hymnen "Prometheus" und "Ganymed".
In:
Sinn
und Form,
Nr.ll
(1959),
5.885
521)"Goethes Weltbild ist schon frUh auf PolaritKt angelegt( . . . )Der eine Pol des
Weltgeschehens heißt titanische Selbstverwirklichung, der andere pol heißt
ganymedische NaturfUlle in der Begegnung von Ich und Welt.
Nur eins ist in
dieser PolaritKt nicht möglich:
daß der alte personale Gott wieder eingesetzt
wird.
Und deshalb scheinen uns beide Gedichte Zeugnisse von Goethes
spinoziBt~echer Wendung zu sein." Joachim Müller, op.cit., S.886f
..\\~;.r~~i*a·r:";:~le~""· ·-'ei.j'll~=-"-'~h'~'

'98
1774 enstandene Ganymed geschrieben wurde, werden sie immer in der
umgekehrten Reihenfolge pUbliziert,
und dies nicht von ungefähr.
wie bereits gezeigt,
sind die Götter Prometheus' Werk sowohl im
Fragment als auch in Pandora letzten Endes günstig. wie Edith
Braemer in bezug auf Pandora sagt(522), gründet diese Teilnahme
der Götter an Prometheus' Werk auf einem Bild des Universums als
Einheit in der Vielfalt,
einer Auffassung des Göttlichen als
synthese aller Gegensätze,
eben auf jener spinozistischen
Weltanschauung, die Goethe in einern Brief an Friedrich Jacobi
zusammenfassend charakterisiert:
"Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des
ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht,
woraus alles
übrige fließt.
Er beweist nicht das Dasein Gottes,
das Dasein ist
Gott. Und wenn ihn andere deshalb Atheum schelten,
so möcg~! ich
ihn Theissimum,
ja Christianissimum nennen und preisen." (
)
Indem Prometheus sich gegen Zeus auflehnt, und vor allem indem
er Menschen bildet, die dank dem von ihm gebrachten Feuer die
Schöpfung fortsetzen,
kann er nicht anders denn als einer
betrachtet werden, der am göttlichen prinzip teilhat. Und somit
muß er Zeus gefallen,
ähnlich wie Ganymed. Mit anderen Worten,
für
Goethe erlangt den Reiz Ganymeds in den Augen der Götter nur
derjenige, der sich selbst wie Prometheus über seine
ursprünglichen Lebensverhältnisse erhebt. Man muB Prometheus sein,
deutet Goethe durch die Anordnung der beiden Gedichte an, um den
Göttern wie Ganymed zu gefallen.
522)"In der Pandora-Szene steht die triumphierende Bejahung des Daseins in
seiner umfassenden Vielfalt im Vordergrund.~
E.8raemer, op.cit., 5.298
523)Goethe an F.Jacobi
(am 9.6.1785).
In, Goethes Briefe,
Hamburg 1962, Bd.1 S.
475
"
~~em~~1iiId!fi-·.IIII• •
. T .
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,
199
":.
"".
Diese Absicht Goethes scheint Senghor gut begriffen und auf
diesen selbst angewandt zu haben, wenn er von einern Goethe "beau
comme Ganymede" spricht.
Indern er den geltenden Normen den Rücken
kehrte,
fand Goethe in und um sich die Quellen einer
"charakteristischen"
Schöpfung, die es ihm ermöglichte, auf seine
Weise ein Grieche zu werden und zur Bildung der Humanität
beizutragen.
Eine ähnliche Kühnheit beanspruchte Senghor für sich
selbst und die Negritude-Bewegung,
indern er sich in deren Namen
gegen die Ordnung und die Werte des Okzidents auflehnte. Diese
Kühnheit findet Ausdruck im Gedicht Le Message,
in dem ein
schwarzafrikanischer Fürst seinen Untertanen,
die in Europa
studiert haben, vorhält:
"KurZköpfige Kinder,
was haben euch die Koras gesungen?
Ihr dekliniert die Rose, hat man mir gesagt,
und eure Ahnen
die Gallier.
( ... )
Seid ihr nun glücklicher? Ein paar Qua-Qua-Quaketrompetten
Und dann heult ihr da unten allabendlich nach großen Feuern
und Blut.
Muß man euch das alte Drama und das Epos entrollen?
Geht nach Mbissel nach Fa'oYi betet den Rosenkranz der
Heiligtümer ab, die an der Großen Straße lagen,
Geht den Königsweg nach und denkt über diesen Kreuzweg
und Ruhmweg.
Eure Hohenpriester werden euch antworten:
stimme des Bluts!
Schöner als Fächerpalmen sind die Toten Elissasi gering waren
einst die Bedürfnisse ihres Leibes.
Nie warfen sie ihren Ehrenschild fort noch ihre getreue Lanze
Sie sammelten keinen Flitter und keine Guineen um ihre
Püppchen zu schmücken.
Ihre Ländereien waren von Herden bedeckt und ihre Häuser
lagen im göttlichen Schatten der Feigenbäume.
Und ihre Scheuern brachen von dem gehäuften Korn ihrer
Kinder.
Stimme des Bluts! Gedanken zum Überdenken!
Die Eroberer werden eure Haltung begrüßen und eure Kinder die
weiße Krone auf eurem Haupt."
Ich habe das Wort des Fürsten vernommen."(524)
524)L.S.senghor, Le Message.
(Die Botschaft)
In, Chants d'ombre suivi de bosties
noires, op.cit.,
S.2Sf.
In deutscher Übersetzung von Jahnheinz Jahn.
In:
Botschaft und Anruf, Göttingen 1988, S.48f
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. .
.
~
-"T···~-"·:iZ~[i.· "ZKr··· ... ," -" _. ,......
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."~,.~d_._

200
Dieses Gedicht von Senghor drückt den Stolz darauf aus,
seine
schwarzafrikanische Identität zu bewahren.
Es ist, wie Goethes
Prometheus, ein Glaubenbekenntnis, ein Bekenntnis zu den Werten
der schwarzafrikanischen Kulturen. Es drückt prometheischen Trotz
aus,
die einzige Haltung,
die ermöglicht, die eigenen natürlichen
Fähigkeiten zu nutzen und auf diese weise dazu beizutragen, die
Natur und dadurch sich selbst zu bereichern und zu verschönern.
3
EIN PROBLEMATISCHES VORBILD: FAUST
3.1
FAUST, VERBÜNDETER DES NEGRITUDE-THEORETIKERS SENGHOR
"Fausts ä visage d'lblne,
nous opposions,
ä la platitude de la
raison,
les hauts fOts de nos foräts,
ä la sagesse souriante du
"Dieu pale aux oreilles roses",
I' incendie de brousse de notre
täte ... " ( :> 2 5)
Wenn Senghor in seinem Essay über die Botschaft Goethes an die
"neuen Neger" mit diesen Worten Faust für die Negritude-Bewegung
vereinnahmt,
dann sieht er in diesem zunächst einen Verbündeten
gegen die Flachheit und Oberflächlichkeit rationaler Erkenntnis,
gegen eine Vernunft,
die unfähig sei, die Realität der Welt zu
durchschauen, von der man sich also abkehren sollte, um sich der
Natur zu öffnen.
525)"Fayste mit Ebenholzgesichtern,
setzten wir der Flachheit der Vernynft die
hohen stämme ynserer Wälder,
der lächelnden Weisheit des "bleichen Gottes mit
den roaafarbigen Ohren" den BUBchbrand unserer Köpfe entgegen ..• " L.S.Senghor:
La Message da Goethe aux Negrea nouveaux, op.cit.,
5.84
ra ." "k
RIIJ °E_
7
LL
-

201
3.1.1
FAUST AN DER GRENZE DER RATIONALEN ERKENNTNIS
Gleich am Anfang des Werks macht der große humanistische
Gelehrte Faust eine tiefe Krise durch.
Der alternde Mann hat sein
ganzes bisheriges Leben dem Studium aller Fächer gewidmet, die die
Wissenschaft seiner Zeit ausmachen.
"Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.,,(526)
Das Ergbnis ist leider schmerzlich enttäuschend.
Der Mann muß sich
eingestehen, daß er sich im Kreis gedreht hat und eigentlich nicht
über seine Anfänge hinaus gelangt ist.
"Da steh'
ich nun,
ich armer Tor
Und bin so klug als wie zuvor!,,(527)
I
Nicht daß er all dieser Zweige der Erkenntnis nicht mächtig wäre.
Ganz im Gegenteil,
er hat sie alle ausgeschöpft,
und er kennt
niemand, der ihm in all diesen Fächern imponieren könnte.
"Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen
Doktoren, Magister,
Schreiber und Pfaffen,,(~28)
Es verhält sich auch nicht so,
daß er bei seinen Forschungen von
Skrupeln (V.36B)
oder konfessionellen Schranken(V.369) behindert
worden wäre. Daraus machte er sich nichts. Er hat also seine
526)Faust I, V.354-357
527)Faust I, V.358-359
528)Ebenda, V.366-367

202
Forschungen bis an ihre möglichen Grenzen geführt,
und insofern
könnte hier von keinem Zweifel
(V.368)
die Rede sein.
Es ist also
zu einseitig und verkürzend, wenn Heinz Harnm meint:
",.
"Der Beginn des "Faust"
fUhrt einen Gelehrten vor, der in der
Vergangenheit seine wissenschaftliche Arbeit nach den
Leitvorstellungen einer die Natur verketzernden Theologie des
Theismus ausgerichtet hat und nun deren Falschheit einsehen
mUß.,,(:>29)
Fausts Problem hat weder mit einern individuellen Scheitern noch
mit den Schwierigkeiten einer von religiösen Erwägungen
behinderten Wissenschaft zu tun.
Faust stellt vielmehr die Grenzen
der rationalen Erkenntnis fest.
"Und sehe, daß wir nichts wissen könnenl,,(530)
Mit Bezugnahme auf die Kritik der reinen Vernunft(1781)
von Kant
könnte man zu glauben versucht sein,
hier mit einem Problem zu tun
zu haben, das einer bestimmten zivilisation spezifisch eigen ist,
eben der abendländischen Zivilisation, die nach Senghor in
Anlehnung an Leo Frobenius sich durch die Vernunft,
die rationale
Erkenntnis kennzeichne.
529)Heinz Hamm: GoetheB "FauBt". WerkgeBchichte und Textana1yBe.
Ber1in 1978,
5.26
530)FauBt I, v.364
I
l!iti:iiiiiif
Pi "finit ;j
t

203
3.1.2
DIE UNZULÄNGLICHKEIT DER RATIONALEN ERKENNTNIS: HOMUNCULUS
Es ist Fausts Famulus wagner gelungen,
chemisch einen Menschen
im Kleinen herzustellen: Homunculus. Dies war eine der größten
Ambitionen des Renaissance-Menschen,
wie Paracelsus es in seinem
Werk De natura rerum
(531)
zeigte.
Das Rezept aber,
das damals
darin bestand,
Sperma in einem Probierglas verwesen zu lassen,
ist
nicht mehr dasselbe bei Wagner, den Goethe nach dem Stand der
Wissenschaft seiner Zeit gestaltet hat.
"( ... )Nun läßt sich wirklich hoffen,
Daß, wenn wir aus vielhundert Stoffen
Durch Mischung denn auf Mischung kommt es an -
Den Menschenstoff gemächlich komponieren,
In einen Kolben verlutieren
Und ihn gehörig kohobieren,
So ist das Werk im stillen abgetan.,·(532)
Gewiß ist die Theorie vollkommen logisch; der Mensch ist
tatsächlich das Produkt einer gewissen Zusammensetzung der
Materie, wie die Analyse seines Körpers bestätigt. Genügt aber
diese Kenntnis allein, um mit Wagner zu behaupten:
"Behüte Gott! wie sonst das Zeugen Mode war,
Erklären wir für eitel Possen.
Der zarte Punkt,
aus dem das Leben sprang,
Die holde Kraft,
die aus dem Innern drang
Und nahm und gab,
bestimmt sich selbst zu zeichnen,
Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen,
Die ist von ihrer Würde nun entsetzt;
wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt,
So muß der Mensch mit seinen großen Gaben
Doch künftig höhern,
höhern Ursprung haben.,,(533)
531)Theophraatua Parace1aua:
De natura rerum.
In: Werke, hrag. von will-Erich
Peukert, Dsrmatsdt 1968;
Bd.5/
5.53-132, Vgl.
dort inab.
5.58f
532)Fsuat II, V.6848-54
533)Ebends, V.6838-47
...
· ....:ill.
....."""".........
·.~.allllilIl'
J

204
Wagner hat sich aber nicht auf die Theorie beschränkt; er hat
tatsächlich einen Menschen hervorgebracht, ohne dem herkömmlichen
Verfahren zu folgen, das künftig den Tieren vorbehalten sein soll.
"Das Glas erklingt von lieblicher Gewalt,
Es trübt, es klärt sich; also muß es werden!
Ich seh in zierlicher Gestalt
Ein artig Männlein sich gebärden.
Was wollen wir, was will die Welt nun mehr?
Denn das Geheimnis liegt am Tage.
Gebt diesem Laute nur Gehör,
Er wird zur Stimme, wird zur Sprache.,,(534)
Dorothea Lohmeyer zeigt, vor welchem naturwissenschaftlichen
Hintergrund der Autor diese Wagners Experiment schildernden Verse
schrieb(535). Was aber ist Homunculus?
sich auf das berufend, was Goethe selbst nach Eckermanns
Mitteilung an Riemer(536)
darüber gesagt haben soll, definiert
victor Lange:
"Begriffen werden soll dieses Zwitterwesen( . . . )als "reine
Entelechie",
als Geist, wie er vor aller Erfahrung ins Leben
tritt.,,(53?)
Vor ihm hatte Friedrich Gundolf Homunculus als "das absolute
Denken"
(538)
bestimmt. Für Helena Herrmann ist er die
534)Ebenda, V.6871-78
535)DOrothea Lohmeyer:
Faust und die Welt. München 1975, 5.174-184
536) Riemers Notizen über sein Gespräch vom 30.März 1833 zitiert von Heinrich
Oüntzer: Goethes Faust,
2.Aufl.
Leipzig 1907, 5.528
537)Victor Lange:
Faust,
der Tragödie zweiter Teil.
In: Goethes Dramen.
Neue
rnterpretationen,
hrag. von Walter Hinderer,
Stuttgart 1980,
5.297
538)Friedrich Gundolf: Goethe (1916),
13.Auf1. Ber1in 1930, 5.769

20
"freie, uneingeschränkte Intelligen~j9die, begreifend, aber
nicht mitlebend, zu allem zugang hat."(
)
Es soll zunächst unterstrichen werden, daß der Text von einem
ganzen Menschen und nicht von einer seiner fähigkeiten spricht.
Wagner sagt ganz unmißvertändlich:
"Es wird ein Mensch gemacht.,,(540)
Und was er bekommt, ist ein Mensch im Kleinen, "ein artig
Männlein"(V. 6874), das eine Gestalt hat (V.6873), sich bewegt
(V.6874) und nicht nur eine Stimme, sondern auch sprache hat. sein
einziges Problem ist, daß er nicht aus seiner Phiole heraustreten
kann. Und dieses Gefangensein hängt mit einem gewissen Defizit
seines Wesens zusammen.
"Ich schwebe so von stell' zu Stelle
Und möchte gern im besten Sinn entstehn,,(541)
Wagners Homunculus existiert eigentlich noch nicht wirklich. Die
Gestalt, die in der Phiole sich bewegt und spricht, ist nicht
fähig,
außerhalb dieses künstlichen Milieus zu leben.
"Was künstlich ist, verlangt geschloßnen Raum.,,(542)
Dorothea Lohmeyer schreibt:
539)Helene Herrmann:
Faust, der Tragödie zweiter Teil:
Studien zur inneren Form
des Werks.
In:
Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft,
Bd.12
(1917),
3.Teil,
5.319
540)Faust II, V.6835
541)Ebenda, V.7830-31
542)Ebenda, V.6884
" " I Jiibb:."
~
- ..,--....:..-=..----

Z06
"Homunculus in der Phiole bedeutet,
daß hier aus Stoffen eine
"gläs~i~el', das heißt künstlich-geistige Einheit geworden
ist"(
)
Dieses Leben in einer Phiole,
das ist Goethes poetische Antwort
auf die Frage,
ob der Mensch wirklich dazu fähig sei,
seinesgleichen synthetisch herzustellen. Goethe nimmt offenbar an,
daß es zwar eines Tages der Naturwissenschaft gelingen könne,
jene
Zusammensetzung der Materie zu ergründen,
aus der die Bewegung und
die Denkfähigkeit entstehen.
Diese Vorstellung drückt sich
symbolisch in der Form eines Wesens aus,
das sich selbst als
Tätigkeit (544)
definiert, weil Goethe selbst davon überzeugt ist,
daß das Leben Kraft(545),
Energie sei.
Damit aber werde der Mensch ungeheure Gefahren eingehen. Es
werde die Gefahr bestehen,
daß dieses aUßerhalb natürlicher
Bedingungen entstandene Produkt nicht mehr vom Menschen beherrscht
werden könne.
Dies besagt die Szene,
in der Homunculus in
Begleitung Mephistos seinen Hersteller gegen dessen Willen
verläßt,
um sich mit Faust in die klassische Walpurgisnacht zu
begeben. Am Ende dieser Szene sagt Mephisto nämlich in bezug auf
Homunculus:
"Am Ende hängen wir doch ab
Von Kreaturen,
die wir machten. 11 (546)
543)Dorothea Lohmeyer, op.cit.,
5.1S0
544)"Dieweil ich bin, muß ich auch tätig sein" Faust 11, V.6S8S
Hit diesen Worten identifiziert Homunculus seine Existenz mit
Tätigkeit.
545)"( ... )weil das Leben in seiner Einheit sich als Kraft äußert( .•. )"
J.W.Goethe:
Betrachtungen über Morphologie überhaupt.
In;
Schriften zur
Naturwissenschaft, bearb.
von Dorothea Kuhn u.
Wolf v. Engelhardt, Weimar 1964,
B(1.10,
5.140-144,
zit.
5.142
546)Faust 11, V.7003-04

207
Wagners Irrtum besteht darin, daß er dem Ziel mehr Bedeutung als
dem Weg beigemessen hat. Darauf macht ihn Homunculus selbst
aufmerksam:
"Das Was bedenke, mehr bedenke das W i e.,,(547)
Dieses "Wie"
der Entstehung des Lebens zeigt Goethe in der
klassischen Walpurgisnacht.
Um zu entstehen, hat Homunculus die Wahl zwischen den bei den zu
Goethes Zeit geltenden Theorien über die Entstehung der Erde und
des Lebens auf Erden, zwischen dem Neptunismus und dem
Vulkanismus. Sie werden im Werke von zwei griechischen Philosophen
vertreten, die als deren Initiatoren im abendländischen Denken
gelten: Thales vertritt den Neptunismus und Anaxagoras den
Vulkanismus oder Plutonismus. Goethe war als Naturforscher
einigermaßen in der Lage, sich an der Debatte über diese Theorien
zu beteiligen. Obwohl er über gewisse Details(548) einen
vermittelnden Standpunkt vertrat, war er unmißverständlich
Anhänger des Neptunismus(549). Es ist also verständlich, daß sein
Homunculus sich für diese Theorie entscheidet und den Philosophen
Thales zum Ratgeber und Betreuer bei seiner Suche nach dem
Geheimnis der naturgemäßen Entstehung erwählt(550).
547)Ebenda, V.6992.
Sperrung im Original
548)vgl.
seine Schrift Vergleichsvorschläge.
die Vulkanier und Neptunier über
die Entstehung des Basalts zu vereinigen.
In:
Schriften zur Naturwissenschaft,
op.cLt .• Bd.l1,
5.37-38
549)vgl. seine Schrift Bildung der Erde.
In: Schriften zur Naturwissenschaft,
op.cit.,
Bd.11,
5.109-120
550)Heinz Hamm versucht meines Erachtens zu Unrecht den Vorgang der naturgemäßen
Entstehung des Homunculue zugunsten eines sozialen Prozesses zu relativierenJ
"Der Text spielt auf eine biologische Materialisierung des Homunculus an. Doch

208
Homunculus wird vom greisen Proteus, dem Diener Poseidons, in
seinen Entstehungsprozeß eingewiesen:
"Im weiten Meere mußt du anbeginnen!
Da fängt man erst im kleinen an
Und freut sich, Kleinste zu verschlingen,
Man wächst so nach und nach heran
Und bildet sich zu höherem Vollbringen." (551)
Dies wird von Tha1es durch folgende Anweisung ergänzt:
"Gib nach dem löblichen Verlangen,
Von vorn die Schöpfung anzufangen!
Zu raschem Wirken sei bereit!
Da regst du dich nach ewigen Normen,
Durch tausend, abertausend Formen,
Und bis zum Menschen hast du Zeit.,·(552)
Wenn Goethe hier als Anhänger des Neptunismus das Leben im Meere
entstehen läßt, dann liegt ihm dabei vor allem an dem Prinzip,
nach dem die Natur Tausende und Abertausende von Formen und Jahren
gebraucht habe, um durch eine allmähliche Metamorphose den
Menschen hervorzubringen.
Wagners Experiment aber hat vielleicht einige Jahre gedauert.
In dieser ungeheuren Kompression des Faktors zeit im
schöpferischen Werk der Natur besteht die Grenze wagners im
besonderen und im allgemeinen die des menschlichen Wissens und
Könnens. Die Wissenschaft, gibt uns Goethe durch die Homunculus-
Episode zu verstehen, könne nicht ohne Gefahr das heilige Prinzip
des Eros umgehen, das alles Leben zeugt und ordnet.
meinen wir, daß sein "Entstehn" in erster Linie einen sozialen, keinen
biologischen Prozeß vorführen soll." Heinz Hamm,

op.cit., Anmerkung 194, S.252
551)Fauet Ir, V.8260-64
552)Ebends, V.8321-26
bllillll.llIilIlIlil.';iIJtl• • • • • • • • • • • • • • • • • • • •I'lIII• •
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I
209
"So herrsche denn Eros,
der alles begonnen!,,(553)
Es bedeutet nicht, dem Menschen einen Ehrenplatz einzuräumen, wenn
man bei ihm den natürlichen Zeugungsprozeß abschafft, wie Wagner
voller Hochmut meint(V.6840-47).
Dies wUrde vielmehr heißen, daß
man an seiner Zerstörung und - noch schlimmer - an der Vernichtung
jedes Lebens auf der Erde arbeitet.
Sicher war in den vierziger Jahren,
da Senghor seinen ersten
Goethe-Essay schrieb,
von der Gentechnik noch nicht die Rede;
jedenfalls kann man annehmen, daß Senghor sich darüber keine
Gedanken gemacht hat.
Zwar schrieb er in bezug auf Goethes naturwissenschaftliches Werk:
"Elle nous signifie ( ... ) que
( ... ) la citä nouvelle de la
Negritude
( ... ) doit ( ... ) humaniser la ~~ture en la transformant,
pour la mettre au service de l'homme.,,(5
)
Aber Goethes Faust mochte ihn darin bestärken, daB aus dem Reiche
der neuen Nägritude das traditionell heilige Band zwischen den
Lebenden und dem Schutzgeist der Familie, des Dorfs,
des Stammes
und des Volkes durch Vermittlung der verstorbenen Vorfahren nicht
verschwinden dürfe. Wagners Homunculus gehört nicht ins Reich der
neuen Negritude.
Er symbolisiert die Unzulänglichkeit und die
Pervertierbarkeit der rationalen Erkenntnis des Abendlandes, die
Senghor und die Negritude-Bewegung ablehnten,
und der Goethes
Faust-Figur den Rücken gekehrt hatte.
553)Ebenda, V.8479
554 1 "Ea bedeutet fUr una ( ... ), daß ( ... ) daa neue Reich der Negritude die Natur
( ... ) humanisieren Ball,
indem es 8ie verwandelt, um sie in den Dienst des
Menachen zu atellen." L.S.Senghor:
L9 Message de Goethe ... ,
op.cit.,
5.85

210
3.1.3
DER MAGIER FAUST UND DAS TRADITIONALE SCHWARZAFRIKA
Es ist gut vorstellbar, wie Faust dem Frobenius-Leser Senghor
als Repräsentant der deutschen Kultur und als ein der
"äthiopischen"
Zivilisation angehöriger Mensch erscheinen konnte,
für den sich die Unzulänglichkeit der abendländischen rationalen
Erkenntnisweise erwiesen, und der sich zu einem anderen
Erkenntnisweg,
der Magie, bekannt hatte:
"Drum hab'
ich mich der Magie ergeben,
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Daß ich nicht mehr mit sauerm Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau' alle Wirkungskraft und samen,
Und tu nicht mehr in Worten kramen.,,(555)
Es gelingt Faust tatsächlich, durch Magie ein Eckchen des liber
der Realität der welt liegenden Schleiers zu lüften.
Beim Betrachten des Zeichens vom Makrokosmos schaut Faust das
ganze Universum an.
Er betrachtet meditierend die ganze Natur in
ihrer lebendigen Realität.
"Ich schau'
in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen."(556)
Er gerät in Verzückung vor der Einheit des Kosmos, welche sich aus
der Interaktion all seiner Komponenten ergibt, vor der Harmonie
des Universums, wo alles von Gott ausgeht und zu ihm zurückkehrt.
555)FauBt I,
V.377-85
556)Ebenda, V.440-41

Z11
"Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingenl,,(557)
Wie alle anderen Planeten, hat auch die Erde,
der Faust sich
natürlich am nächsten fühlt
(V.461i
464-467),
an dieser
Universalharmonie teil.
So beschwört er eher deren Geist herauf,
welcher erscheint und sich als zugleich schöpferische und
zerstörende Kraft,
als Quelle zugleich von Geburt und Tod,
als
unaufhörlichen Lebensfluß,
als das ewige Werden vorstellt.
"In Lebensfluten,
im Tatensturm
Wall'
ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiger Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff'
ich am sausenden Webstuhl der zS~~
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid."(
)
Obwohl Faust sich dem Erdgeist nahe fühlt,
kann er sich nicht mit
ihm messen.
Er ist nur dessen Produkt unter anderen,
nur ein
Teilausdruck.
Er kann deshalb nicht einmal dessen Anblick ertragen
(V.485). Als Ebenbild Gottes ist der Mensch nur als der
Mikrokosmos zu sehen, den der Mensch als ein schöpferisches Wesen
bildet; man darf aber vor allem nicht aus dem Auge verlieren, daß
dieser Mikrokosmos, bei all seiner Überlegenheit über eine
unendliche Anzahl von Welten, kleiner als eine unendliche Anzahl
von anderen immer größeren Welten ist.
Diese wahrheit,
die vor
557)Ebenda, V.447-53
558)Ebenda, v.S01-S09

212
Goethe schon von anderen Denkern wie Blaise pascal(559) und
Leibniz(560)gesehen und formuliert wurde, wird Faust durch den
Erdgeist brutal vermittelt.
"Du gleichst dew Geist, den du begreifst,
Nicht mir!"
(
1)
Bitterlich desillusioniert, wird sich Faust seiner Schwäche im
Vergleich zu den ihm in der universalen Hierarchie überlegenen
Kräften bewußt.
"Den Göttern gleich ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;
Dem Wurme gleich' ich, der den Staube durchwühlt,
Den, wie er sich im Staube nährend lebt,
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt.,,(562)
Doch während der Begegnung mit dem Erdgeist ist ihm auch bewußt
geworden, worin die Größe des menschlichen Daseins besteht; und so
hat er die Widersprüchlichkeit des Mensch-Seins im wesentlichen
erfahren: Größe und Schwäche in einem.
"In jenem sel'gen Augenblicke
Ich fühlte mich so klein, so groß,,(563)
559 1" Nas ist denn schließlich der Mensch in der Natur7 Ein Nichts im Hinblick
auf das Unendliche, ein All im Hinblick auf das Nichts, eine Mitte zwischen dem
Nichte und dem ~ll,
unendlich davon entfernt,
die Extreme zu begreifen. Das Ende
der Dinge und ihr Anfang sind in einem undurchdringlichen Geheimnis
unüberwindlich für ihn verborgen.~ 81aise Pascal: Gedanken. Übersetzung von
Nolfgang Rüttenauer,
Birsfelden-9asel 1967,
S.149
560)Vgl.G.N.Leibniz: Monadologie,
1714
(Manuskript),
1720 (erste
Veröffentlichung),
Stuttgart 1979, Sätze 37,
66 und 67.
561)Faust I, V.512-l3
562)Ebenda,
V.652-56
563)Ebenda, V.626-27

213
Auch mit Hilfe der Magie kann der Mensch die Realität der Welt
nicht total durchschauen.
Durch sie ist sich Faust nur der
Unergründlichkeit der Natur bewußt geworden.
"Geheimnisvoll am lichten Tag
Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit sChrg~~en."
(
)
Jedoch hat er die lebendige Realität der Natur entdeckt,
und er
weiß von nun an, daß seine wahre AUfgabe darin besteht,
sich in
ihre göttliche Einheit einzufügen. Dies sucht Faust nun in seiner
extremen Form zu verwirklichen,
indem er versucht,
sich selbst ums
Leben zu bringen, um dadurch in jene Geisterwelt einzudringen, wo
sich das Leben in seiner reinsten Form vollzieht.
"( ... ) Ich fühle mich bereit,
Auf neuer Bahn den Äther durchzudrig~5n,
Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit. (
)
Faust wird beim meditativen Betrachten des Universums bewußt:
"Die Geisterwelt ist nicht verschlossen~
Dein Sinn ist zu,
dein Herz ist tot!"( 66)
Mit anderen Worten,
das Universum ist eine lebendige Realität,
welche der Mensch,
ohne jedoch dessen Wesen zu erschöpfen,
wahrnehmen kann,
sobald er der Natur seine Sinne und sein Herz
öffnet. In seiner Qintessenz erscheint das Universum im Faust in
der Tat als eine wunderbare,
rätselhafte,
reale und surreale Welt,
564)Ebsnds, V.672-75
565)FSust I, V.703-705
566)Ebends, V.443-444
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214
als eine Welt mit zwei Wirklichkeiten(567). Über ihrer sichtbaren
Ebene, die Faust mit Wagner,
den Osterspaziergängern, den Bauern,
den Gästen von Auerbachs Keller,
Gretchen, dem Kaiser und seinem
Hof teilt,
befindet sich eine unsichtbare Ebene.
Hier verkehren
Tiere, Luft-, Wasser- und Waldgeister,
die Elemente, die
Naturphänomene,
die Verstorbenen,
sogar die Begriffe, mit den
Lebenden in derselben Sprache. Hier fallen alle Schranken der zeit
und des Raums weg, und das Vergangene lebt wieder.
Lebende und
Verstorbene begegnen einander, geraten in Konflikt miteinander,
heiraten untereinander,
zeugen miteinander Kinder,
teilen
dieselben Hoffnungen und Sorgen, dieselben Freuden und Nöte.
Selbst die werdenden Wesen wie Homunculus,
Produkte der Gegenwart,
erfahren hier das Geheimnis ihrer klinftigen naturgemäßen
Entstehung. von seinem natlirlichen Lebensmilieu an der Oberfläche
der Erde übersiedelt der Mensch hier ohne die geringste Mühe in
die Meerestiefe und in das unterirdische Reich,
wo sich die
Verstorbenen aufhalten.
Das Universum in Goethes Faust ist also
von der Atmosphäre bis in die Tiefe der Erde belebt.
Anders verhält es sich auch nicht mit der Welt in
schwarzafrikanischen Weisheitsmärchen wie Kaydara von Amadou
Hampate BA(568), mit jener vom Senghor der dreißiger Jahre so oft
verherrlichten Welt des traditionalen schwarzafrika(569). Man kann
567)Vgl.
dazu Rudolf Eppelsheimer:
Goethes Faust.
Das Drama im Doppelreich.
5tuttgart 1982,
5.17
:
"Nun aber kann sich auch ihm (Faust) das große
"Dappelreich~ voll erschließen: die Welt der "Wirklichkeiten" des Sichtbaren und
Unsichtbaren in einem,
in welcher der Faust-Dichter bereits von der "Zueignung"
an zu Hause isti"
568)Amadou Hampatä Ba: Kaydara,
Nouve11es Editions Africaines, AbidjanjDakar
1978
569)vg1. dazu 5enghors Essays,
- Ce qua l'homme nair apporte,
op.cit,
5.25-27
-L'Afrique naire.
La civilisation negro-africaine, ap.cit.,
5.71-74
-Elements constitutife d'une civilisation d'i~9piration negro-africaine,
op.cit,
5.264-68

I
215
daher leicht verstehen, wenn er bei seiner Rebellion gegen die
rationalistische Zivilisation des Abendlandes sich mit Goethes
Faust-Figur identifizierte, der ja in einer Welt lebt, die der von
der Negritude-Bewegung beschworenen in vielem gleicht.
Eine solche Vereinnahmung Fausts für diese Bewegung war umso
leichter,
als Faust sich zu einer Religion bekennt, welche, ohne
mit der von Senghor dargestellten schwarzafrikanischen
Religiosität identisch zu sein;
ihr doch sehr nahe ist.
3.1.4
FAUST, VERBÜNDETER GEGEN DEN CHRISTLICHEN GOTT DES
OKZIDENTS
Als das in herkömmlichem Sinne fromme Gretchen Faust fragt,
ob
er an Gott glaube, antwortet Faust mit folgendem
Glaubensbekenntnis:
"Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub I
ihn?
Wer empfinden,
Und sich unterwinden
Zu sagen:
ich glaub'
ihn nicht?
Der Allumfasser,
Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht
Dich, mich,
sich selbst?
Wölbt sich der Himmel nicht dadroben?
Liegt die Erde nicht hierunten fest?
Und steigen freundlich blickend
Ewige Sterne nicht herauf?
Schau ich nicht Aug'
in Auge dir,
Und drängt nicht alles
-L'eBth6tigue n6gro-africaine. op.cit.,
5.204-03

216
Nach Haupt und Herzen dir,
Und webt in ewigem Geheimnis
Unsichtbar sichtbar neben dir?
Erfüll davon dein Herz,
so groß es ist,
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn es dann,
wie du willst,
Nenn's Glück! Herz! Liebe!
Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür!
Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Raucg~
Umnebelnd Himmelsglut. 11 (
0)
Dieses Bekenntnis bestätigt und verdeutlicht Fausts Reaktion auf
die Glockenklänge und die Chorgesänge am Ostermorgen.
"Die Botschaft hör'
ich wohl,
allein mir fehlt der Glaube;
( ... )
Zu jenen Sphären wag'
ich nicht zu streben,
Woher die holde Nachricht tönt ll (571)
Er glaubt nicht mehr an einen seine Schöpfung transzendierenden,
sondern an einen ihr immanenten Gott,
der das Universum umfaßt und
zugleich dessen Inhalt ist.
Er sieht ihn im Firmament,
in der
Erde, den sternen, dem Nächsten.
Er'wendet sich an ihn durch die
ihm am nächsten stehende Form, durch die irdische Natur, welche
ihm zum Reich gegeben worden ist
(V.3220),
die ihn beschützt,
unterrichtet und in Erstaunen versetzt, wo er im Gebüsch,
in der
Luft und im Wasser seine Brüder zu sehen lernt (V.3226-27).
Er
beschränkt sich gern auf die Erde, wo er sicher ist, sich konkret
zu verwirklichen,
und wie Prometheus findet er es töricht,
seine
Augen nach oben zu richten und von dort irgendeine Hilfe zu
erwarten.
"Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd riChtet,
Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um;
570)Fauat I, V.3432-58
571)Ebenda, V.765/
767-68
.-.-

217
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumrn. Il (572)
Fausts Gott ist also die lebendige und wirkende Natur, die natura
naturans von Spinoza, deren Prinzip er in Gestalt des Erdgeistes
heraufbeschwört. Man kann mit Heinz Hamrn sagen:
"Der Erdgeist personifiziert ( ... ) nichts anderes als die
unbedingt schaffende Gott-Natur (natura naturans),
die sich in der
geschaffenen Nat~r (natura naturata)
den ihr wesensgemäßen
Ausdruck gibt.,,(573)
Indem er von seinem Verwandtsein mit der ihn umgebenden Natur
spricht,
behauptet Faust,
daß er deren Eigenschaften als
geschaffene und schöpferische Natur teilt.
Durch diesen Glauben an
die göttliche Natur kommt er nach eingehender Analyse
(V.1224-36)
dazu,
den ersten Vers des vierten Evangeliums (Joh.
1, 1)
neu zu
formulieren:
"( .. . )Im Anfang war die Tat."
(V.1237)
Die Tat ist für Faust das Prinzip des Göttlichen selbst und die
Natur dessen lebendiger Ausdruck.
Diese Art der Religiosität gleicht der des jungen Goethe. Als
der sich in seiner Jugend vornahm,
seine eigene Religion zu
bilden(574),
kam er zu einer Auffassung des Göttlichen, über
welche er später schrieb:
572)Faust II, V.11443-46
573)Heinz Hamm,
op.cit.,
5.29
574)"D .. ich oft genug hatte sagen hören,
jeder Mensch habe am Ende doch seine
eigene Religion,
so kam"mir nichts natürlicher vor,
als daß ich mir auch meine
eigene bilden könne( ... ) Der neue Platonismus lag zum Crunde; das Hermetische,
Mystische,
Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her,
und 80 erbaute ich mir
eine Welt,
die seltsam genug aussah." J.W.Coethe:
Dichtung und Wahrheit,
8.8uch j
Werke,
München 1982,
Bd.9,
5.350
'!"!,.::"4. . . .'-. w..•. ' ~,"l. ·.~·H·isf"5Sr

I
218
"Ich mochte mir wohl eine GO~1~eit vorstellen, die sich von
Ewigkeit her selbst produziert" (
)
In bezug auf dieses göttliche prinzip definiert sich der Mensch
wie folgt:
"So sehr sich nun diese
(die Schöpfung)
durch die immer
fortwirkende Lebenskraft der Elohim stufenweise vermannigfaltigte;
so fehlte es doch an einem Wesen, welches die ursprüngliche
Verbindung mit der Gottheit wieder herzustellen geschickt wäre,
und so wurde der Mensch hervorgebracht,
der in allem der Gottheit
ähnlich,
ja gleich sein sollte,
sich aber freilich dadurch
abermals in dem Falle Luzifers befand,
zugleich unbedingt und
beschränkt zu sein,
und da dieser Widerspruch durch alle
Kategorien des Daseins sich an ihm manifestieren und vollkommenes
Bewußtsein sowie ein entschiedener Wille seine Zustände begleiten
sollte; so war vorauszusehen,
daß er zugleich das Vollkommenste
und Unvollkommenste,
das glücklichste und unglücklichste Geschöpf
werden müsse.
Es währ~7 nicht lange, so spielte er auch völlig die
Rolle des Luzifers." (
6)
Diesen Ausführungen, die die metaphysische Grundlage der von Faust
erlebten Tragödie des Menschen skizzieren, kann entnommen werden,
daß der Mensch,
der in allem Gott ähnlich sein sollte, demzufolge
das anfängliche Wesen Luzifers teile,
daß er nämlich wie Luzifer
am Anfang zugleich unbedingt und beschränkt,
zugleich selbständig
und dem göttlichen Ganzen verbunden,
zugleich Individuations- und
Integrationsprinzip,
gleichermaßen den beiden gegensätzlichen
Tendenzen unterworfen ist,
die Faust in sich selbst fühlt:
"Zwei Seelen wohnen,
ach!
in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält,
in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden organen;
Die andre hebt gewaltsam sich 59' Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen." (
)
575)Ebenda, 5.351
576)Ebenda,
5.352
577)FauBt I, V.1112-1117
&
( .
USX4.LSIJItZ:

219
Diese zwei Seelen sind nichts anderes als das Äquivalent der zwei
ewig gegensätzlichen Momente, oben und unten,
auf und ab, Geburt
und Tod, des Pulsierens der schöpferischen Natur,
von dem der
Erdgeist andeutungsweise spricht, wenn er sich Faust
vorstellt(V.S01-S09). Ähnliches sagt Mephisto,
wenn er sich bei
seinem Auftritt vorstellt und vom Dämonischen im allgemeinen und
im besonderen im Menschen spricht.
"Wenn sich der Mensch,
die kleine Narrenwelt,
Gewöhnlich für ein Ganzes hält -
Ich bin ein Teil des Teils,
der anfangs alles war,
Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar,,(S78)
Das Dämonische ist also ein Teil des Ganzen, das der Mensch ist.
Mephisto definiert sich als "Geist, der stets verneint!,,(S79)
Er
wirkt somit als:
"Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.,,(S80)
Diese Aufgabe soll er dem Wunsch des Herrn im Prolog im Himmel
entsprechend am Menschen verrichten:
"Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen,
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen.,,(S81)
578)Ebenda, V.1347-1350
579)Ebenda, V.1338
580)Ebenda, V.1335-36
561)Ebenda, V.340-343

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'

I
220
Die Komplementarität des Göttlichen und Teuflischen, von Gut und
Böse, welche auch in den Teilen des Werks festzustellen ist, die
nach der sturm-und-Drang-periode verfaßt wurden, gehört trotzdem,
wie Hermann August Korff gezeigt hat,
zu jener Bewegung(582), die
mit der traditionellen Ordnung der Dinge brechen wollte und im
Bereich der Religion die göttliche Natur an die stelle des
geoffenbarten Gottes setzte.
In diesem.sinn ist auch ganz
zutreffend, was Konrad Burdach schreibt:
"Sein
(Fausts)
Bund mit dem Abgesandten des Erdgeists sollte
von dem Makel der krassen Teufelsbeschwörung,
den die Faustsage
ihrem Helden anheftete, befreit werden und vielmehr als Ausfluß
eines übersteigerten religiösen Drangs zur göttlichen Natur
erscheinen,
also recht eigentlich nur eines dunklen Drangs eines
guten Menschen.
In diesem religiös gefärbten Naturkult,
den Goethe
hier seinem faust beilegt( ... l,
lebt( ... )ein Grundzug aus der
Stimmung seiner Geniezeit,
die nach der Urreligion, der Anbetung
der von Gott erschaffenen Gestirne verlangte,
die im Pietismus der
Brüdergemeinde m~~ Gottfried Arnold die Urform des Christentums zu
finden wähnte,"(
J)
Zwar hat Heinz Hamm recht, wenn er die Entwicklung unterstreiCht,
welche die spinozistische Auffassung des Stürmers und Drängers
Goethe einerseits unter dem Einfluß der kantischen Philosophie und
der Ideen Schillers und andererseits dank seiner eigenen
naturwissenschaftlichen Forschungen erfahren hatte(584); doch
582)"wenn wir die Faust-Dichtung als die tiefste aller dem Sturm-und-Drang-
Geiste entsprungenen Dichtungen bezeichnen,
BO
ist das in dem Umstande
begründet, den man sich recht klar vor Augen führen muß, daß das Grundthema der
neuen Zeit,

die Empörung des Subjekts gegen das objektive Gesetz, das in 90
vielen anderen Dichtungen lediglich als gesellschaftliches Phänomen erscheint,
hier endlich seine metaphysische Tiefe zeigt." Hermann August Korff:

Kampf um
die metaphysische Freiheit,
Faust.
In:
Ders: Geist der Goethezeit
(1914-1954),
9.Auflage,
l.Bd"
Darmstadt 1974, S.278f
583)Konrad Burdach: Das religiöse Problem in Goethes Faust.
In.
Euphorion,
Nr.33
(1932),
S,12
584)"Die Erfahrung der naturwieeenschaftlichen Arbeit sowie der Einfluß Kants
und Schillers wirken zusammen,
in den neunziger Jahren die Mängel des bisherigen
Vorstellungamodells einzusehen und das Verhältnis zwischen Mensch und Natur neu
zu bestimmen.
Für die Arbeit am "Faust" in der Arbeitsperiode von 1787 bis 1801
ist das von entscheidender Bedeutung." Heinz Hamrn,
op.cit.,
5.78
.-- --sr

221
scheint Goethe bis zum Ende seines Lebens seine religiöse Haltung
nicht grundsätzlich geändert zu haben.
Im Alter schrieb er noch:
"Wir sind naturforscgggd Pantheisten, dichtend Poly theisten,
sittlich Monothelsten."(
)
Es handelt sich hier nur um verschiedene weisen,
eine und dieselbe
Realität zu erleben: Gott oder das göttliche Prinzip. Als
Naturforscher blieb also Goethe Pantheist spinozistischer
Inspiration, was in folgender Aussage noch deutlicher zum Ausdruck
kommt:
"Wer die Natur als göttlicg ;
Organ läugnen will,
der läugne
g
nur gleich alle Offenbarung."(
)
So konnte Goethe in demselben Sinne wie die von Gottfried Arnold
geführte pietistische Sekte meinen:
"Das Christenthum steht mit dem Judenthum ~9 einern weit
stärkeren Gegensatz als mit dem Heidenthum.,,(5
)
Dieselbe Annäherung zwischen Christentum und "Heidentum" drückt
sich in Gretchens Reaktion auf Fausts Glaubensbekenntnis aus:
"Das ist alles recht schön und gut;
Ungefähr sagt das der Pfarrer auch,
Nur mit ein bißehen andern Worten.,,(588)
585)J.w.Goethe: Maximen und Reflexionen.
Int Werke, München 1982, Bd.12, 5.372,
Maxime Nr.49
586)EbendA, 5.365, MAxime Nr.2
587)EbendA, 5.377,
Nr.83
588)Faust I, V.3459-61
2U ~.
:mn

222
Schon in Fausts Haltung am Ostermorgen ist eine solche Nähe
zwischen christlichem Glauben und heidnischer Naturfrömmigkeit
festzustellen.
Unmittelbar nachdem er seine Distanz zu
einem
konventionellen christlichen Glauben ausgedrückt hat,
bekennt sich
Faust in bezug auf die im Frühling erwachende Natur zu einer
Naturfrömmigkeit:
"Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich, durch Wald und wiesen hinzugehn,
Und unter tausend heißen Tränen
Fühlt'
ich mir eine welt entstehn.
Dies Lied verkündete der Jugend muntre Spiele,
Der Frühlingsfeier freies Glück;
( ... )
o tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!,·(589
In seiner Jugend mochte Faust im Kontakt mit der Natur wohl das
erlebt haben, was er Gretchen anrät(V.3451-3454).
Er mochte wohl
dasselbe erlebt haben, was in Goethes Gedicht Ganymed zum Ausdruck
kommt. wie in diesem Gedicht fUhrt die Verehrung der Natur zu der
Gottes über das Verhältnis Mensch/Natur. Menschenliebe als
Nächstenliebe gleicht der Liebe Gottes, wie Faust mit den
folgenden Versen zum Ausdruck bringt:
"Entschlafen sind nun wilde Triebe
Mit jedem ungestümen Tun;
Es reget sich die Menschenliebe
Die Liebe Gottes regt sich nun.,,(590)
Gott, den ewigen Schöpfer, der sich in der lebendigen Natur
manifestiert,
lieben,
indem man seinen Nächsten liebt, das ist das
Glaubensbekenntnis des "Heiden" Faust.
589)Ebenda, V.775-784
590)Ebenda, V.1182-85

223
In Ce que l'hoffiffie no ir apporte
(1939)
schreibt Senghor:
"On dit,
et l'on r~plte plus encore, que le Nlgre n'apporte
rien de nouveau en religion.
Ni dogme,
ni morale;
seulement une
certaine religiosit~. Mais, ä la r~flexion, l'esseg~iel n'est-il
pas dans ce mot de mepris,
plutöt dans la chose?"(
)
Dann fängt er an,
"das Dogma und die Moral der Neger,,(592)
im
Vergleich zum christlichen Credo zu untersuchen.
"Je crois en Dieu,
le PAre Tout-Puissant,
crlateur du ciel et
de la terre." Le debut du credo n'a jamais etonne aucun nlgre. Le
Nlgre est monothliste,
en effet,
si loin que l'on remonte dans son
histoire,
et partout.
Il n'y a qu'un seul Dieu,
qui a tout cr~~,
qui est toute puissance et toute volont~. Toutes les puissances et
toutes les volont~s Q~~ genies et des AncAtres ne sont que des
emanations de Lui. " ('
)
Senghors These von einem Monotheismus des Negers wird dadurch
bestätigt, daß es bei allen vom Islam unberührt gebliebenen
schwarzafrikanischen Völkern ein authentisch schwarzafrikanisches
Wort gibt,
um den allmächtigen Schöpfer des sichtbaren und
unsichtbaren Universums zu bezeichnen. Ohne ihm einen besonderen
Kult zu widmen,
erkennt und verehrt der Schwarzafrikaner die
Existenz des allmächtigen Schöpfers durch seinen Animismus, d.i.
S91)"Man sagt -
und man hat es oft wiederholt -
daß der Neger auf dem Gebiet der
Religion nichts Neues geschaffen habe.
Kein Dogma,
keine Moral,
nur eine gewisse
Religiosität.
Aber wenn man darüber nachdenkt,
liegt dann das Wesentliche nicht
vielmehr in dieser verächtlichen Behauptung als in der Sache?" L.S.Senghor: Ce
qua l'homme noir .. 0'
op.cit.,
5.25.
Deutsche Übersetzung von Jahnheinz Jahn
unter dem Titel:
Leopold Sedar Senghor.
Negritude und Humanismus.
Düsseldorf/Köln 1967, S.13
592) Ebenda
593)"Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater,
den Schöpfer des Himmels und
der Erde." Der Anfang des Glaubensbekenntnis hat nie einen Neger in Erstaunen
versetzt.

Der Neger iet Monotheist allenthalben,
und soweit man auch in Beine
Geschichte ,urückgehen mag
es gibt nur einen einzigen Gott,
der ~lles
l
geschaffen hat,
der allmächtig und ganz Willenskraft
ist.
Alle
Kräfte,
alle
Willenskräfte der Geister und der Ahnen sind nur Emanationen von ihm.",
Ebenda,
5.25f,
deutsch,
op.cit.,
5.13

224
seinen Pantheismus.
Sein Glaube besteht in dem,
was Senghor
folgendermaßen formuliert:
"une force vitale semblable I
la sienne anime chaque objet
doue de ~®aact~res sensibles, depuis Dieu jusqu'au grain de
sable."(
)
In diesem Sinne teilt der Schwarzafrikaner Goethes Pantheismus,
der sich in der Faust-Figur ausdrückt.
Was das Werk selbst betrifft,
so ist es die beste Illustration
des polytheismus,
zu dem sich Goethe als Dichter bekannte. Hier
kann sich der Senghorsche Schwarzafrikaner nur wohlfühlen, da er
hier das wiederfindet, was er bei seinen religiösen Kulten zu tun
pflegt. Wenn der religiöse Kult ein Moment ist,
in dem die
ständige Verbindung des Menschen zur verehrten Gottheit punktuell
und intensiv erlebt wird,
so kann er beim Schwarzafrikaner,
bei
dem die Kraft,
der Geist Gottes sich in jedem Teilchen seiner
Schöpfung manifestiert, nicht anders als polytheistisch sein.
Dieser Kult charakterisiert sich im allgemeinen durch Opfergaben
an meist im engeren Lebensraum lokalisierbare Geister oder Kräfte,
mit denen der Mensch sich stark verbunden fühlt.
Es ist
selbstverständlich, daß unter allen diesen Geistern der Begründer
der Familie, des Stammes oder der Ethnie einen bedeutenden Platz
einnimmt. Aus seinem Reich stammend,
kehren alle verstorbenen
Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft dorthin zurück; daher die
Wichtigkeit der frühesten Mitglieder der Gemeinschaft, der
Vorfahren,
eben derjenigen, die jenes Sonderverhältnis mit dem
betreffenden Geist zum ersten Male schlossen und pflegten, und die
594)"eine seiner eigenen Kraft ähnliche vitale Kraft belebt jede. mit sensiblen
Charakteren begabte Objekt,
von Gott bis zum Sandkorn.~
L.S.senghor:
L'Esthetigue negro-africaine.
In:
Libertä 1,
op.cit.,
5.204

I
225
nun durch den Tod zu ihm zurückgekehrt sind.
Ihnen wird durch
Opfergaben gehuldigt. Durch diese Opfer will der Schwarzafrikaner,
wie Senghor schreibt,
"participer ä la puissance des Esprits sup~rieurs, dont sont
les Ancetres; corr~g~~er avec eux jusqu'en une sorte
d'identification"(
)
Zwar wird im Faust kein Gott durch irgendeinen Kult verehrt; wie
aber bereits oben gezeigt worden ist,
läßt der Dichter darin die
göttliche Einheit des Universums spüren,
indem er seine
verschiedenen Bestandteile gleichsam analytisch auseinandernimmt
und deren Verflochtenheit zeigt.
Er zeigt, wie jeder Teil nur ein
individualisierter Ausdruck derselben gesamten Kraft in ihrer
lebendigen vielfältigen Realität ist.
Eben die gleiche
Weltanschauung in der Form des Animismus kann nach Senghors
Überzeugung der Beitrag der Negritude zur Weltkultur sein. Auf
diese Weise würde es möglich sein, eine bedeutende
Lebensauffassung
und dadurch eine wichtige Erkenntnisart zu
retten, nämlich:
"cette facultl de percevoir le surnaturel dans le natureI,
le
sens du transcendant et l'abandon actif qui l'accompagne,
l'abandon d'amour.,,(596)
Die "heidnische" Religiosität von Goethes Faust konnte die
Begründer der Negritude-Bewegung bei ihrem Entschluß ermutigen,
595)"Teilhabe an der Macht der Höheren Geiater,zu denen die Ahnen gehören,
Kommunikation mit ihnen bis zur Identifikation" Senghor: Ce qua l'horrme noir . . .
op.cit"

5.26,
deutsch,
op.cit.,
5.14
596}" Der Beitrag des Negers besteht in dieser Fähigkeit,
im Natürlichen das
Übernatürliche wahrzunehmen,
im Sinn für das Übersinnliche und in der tätigen
Hingabe,
die damit einhergeht:
in liebender Hingabe." Ebenda,
5.27, deutsch,
op, ci t.,
S. 15

I
226
den Gott des Okzidents "mit dem bleichen Gesicht und den
rosafarbigen Ohren,,(597)
zu verwerfen.
und dessen "I~chelnde
weisheit,,(598)
abzulehnen.
Faust ermutigte sie, Gott in ihren
Empfindungen zu suchen.
ihn nach ihrem Gemüt vorzustellen und ihm.
sollte er unbedingt eine menschliche Gestalt haben.
Negerzüge zu
geben,
wie ihr amerikanischer Bruder Countee Cullen das gewagt
hatte,
indem er schrieb:
"Auch ich form'
schwarze Götter,
Herr,
und w~iB
Selbst Dir zu geben schwarze Leidenszüge. "(
)
Die Lektüre von Goethes Faust muß Senghor auch insofern sehr
zugute gekommen sein.
als die Vertreter der christlichen Religion
in diesem Werk Habsucht.
Scheinheiligkeit und Machtgier
verkörpern.
Dies erscheint ganz klar in dem Verhalten des Pfarrers, dem
sich Gretchens Mutter anvertraut.
nachdem ihre Tochter ihr den in
ihrem zimmer von Faust und Mephisto hinterlassenen kostbaren
Schmuck gezeigt hat. Während die Mutter gemäß wahrer christlicher
Moral zu ihrer Tochter sagt:
"Mein Kind /
( ... ),
ungerechtes Gut
Befängt die Seele,
zehrt auf das Blut.,,(600).
behauptet der Pfarrer zynisch und begierig,
sich das wertvolle
Objekt anzueignen:
597)
"la dieu au visage päle et aux oreillea rases"
L.S.Senghor: La Message da
Goethe . . . ,
op.cit./
5.84
598)"la sagasae sourLanta" Ebenda
599)countee Cullen,
Zitiert nach Senghor, Ce qua l'homme noLr ...• op.cLt,
p.27.
deutsch,
op.cit.,
S.15
600)Faust I/ V.2823-24

227
"Die Kirch' allein,
meine lieben E6iuen,
Kann ungerechtes Gut verdauen."(
)
In diesem Zusammenhang spielt Mephisto auf die ReichtUrner an, die
die Kirche durch die Inquisition und durch AusplUnderung
kolonisierter Länder angehäuft hat.
"Die Kirche hat einen guten Magen,
Hat ganze Länder aufgefressen,
Und doch noch nie sich übergessen"(602)
Wie der Pfarrer sich unter dem Vorwand bereichert,
er wolle
seine Gläubigen von unrechtem Gut befreien,
beutet in Faust 11 der
Erzbischof und zugleich Erzkanzler des Reiches zugunsten der
Kirche skrupellos Kaiser und Reich aus,
obwohl er um deren
kritische finanzielle Lage genau weiß.
Nachdem er dem Kaiser ins
Gewissen geredet hat, weil dessen Sieg im Bügerkrieg nur durch
Mephistos Intervention zustande gekommen war,
läßt er sich den Bau·
und die Unterhaltungskosten eines aufwendigen
Kirchengebäudes
zusichern.
"Dann widmest du zugleich dem Werke,
wie's entsteht,
Gesamte Landsgefälle:
Zehnten,
Zinsen, Beth',
Für ewig.
Viel bedarf's zu würdiger Unterhaltung,
Und schwere Kosten macht die sorgliche Verwaltung.
Zum schnellen Aufbau selbst auf solchem wüsten Platz
Reichst du uns einiges Gold aus deinem Beuteschatz.
Daneben braucht ~an auch,
ich kann es nicht verschweigen,
Entferntes Holz und Kalk und Schiefer und dergleichen.
Die Fuhren tut das Volk,
vom Predigtstuhl belehrt,
Die Kirche segnet den,
der ihr zu Diensten fährt."(603)
601)Ebenda, V.2839-40
602)Ebenda, V.2836-38
603)Ebenda, V.l1023-32

228
wie "das Volk, vom Predigtstuhl belehrt", Fuhren zugunsten der
Kirche zu tun hat, das war auch den kolonisierten Völkern in
Schwarzafrika vertraut.
Man kann sich also vorstellen, mit welcher Zustimmung Senghor und
seine Gesinnungsgenossen,
jene rebellierenden Kolonisierten, sich
eine solche Kritik an einer Institution zu eigen machen mußten,
die in die historische Situation der Kolonisation, die sie
bekämpften, nur allzusehr verwickelt war.
In manchen seiner Aspekte redet Goethes Faust dem Negritude-
Theoretiker Senghor tatsächlich das Wort.
Die Faust-Figur redet ihm das Wort,
indern sie die
Unzulänglichkeit der exklusiv rationalen Erkenntnis verkündet und
sich zu einer Erkenntnisart bekennt, die der schwarzafrikanisch-
animistischen Weltanschauung nahesteht.
Das Faust-Drama redet ihm auch das wort,
indern es nicht nur die
Praktiken der abendländisch-christlichen Religion, deren Anteil an
der Kolonisation nicht eben gering war, kritisiert, sondern auch
indern es eine pantheistiche Religiosität vertritt, die viele Züge
mit dem Animismus der Schwarzafrlkaner gemeinsam hat.
Goethes Faust weist aber andere Aspekte auf, welche die
Identifizierung der Negritude-Bewegung mit der Faust-Figur sehr
problematisch machen.

-\\
22\\
3.2
SENGHORS EINSEITIGE DEUTUNG VON GOETHES FAUST
3 . 2 . 1
EINE PARALLAXE KULTURELLEN URSPRUNGS: DIE MIßDEUTUNG
DER MAGIE
Interpretierte man die ontologischen und religiösen Aspekte der
Faust-Figur als Einladung des Autors,
sich mit dieser vorbehaltlos
zu identifizieren,
so liefe man Gefahr,
diese Figur und Goethes
Absicht zu verkUrzen.
In der Tat bestand
besonders bei Senghor
die Gefahr der Fehldeutung der Funktion der Magie im Werke, und
sie bstand deshalb, weil die Magie,
wie gezeigt,
im Faust auf
einer Weltanschauung beruht, welche der schwarzafrikanischen
"animistischen" Weltvorstellung sehr ähnlich ist.
Faust, der
Anhänger der Magie,
scheint von der Negritude-Bewegung gegen die
Verstandskultur des Abendlandes vereinnahmt zu werden. Aber ist
der Magier Faust als vorbild zu betrachten,
zu dem er von Senghor
vorbehaltlos erklärt wurde? Hatte Goethe aus Faust dem Magier ein
Musterfigur machen wollen?
Faust selbst scheint von der Magie nicht uneingeschränkt
eingenommen zu sein.
An dem Tag,
der auf die Nacht folgt,
in der
er sich zur Magie bekannt hat (V.377-85),
erinnert er sich mit
aufrichtigem Bedauern an eine Episode aus seiner Kindheit,
als
nämlich sein vater,
als Arzt an der Pest verzweifelnd, sich
alchimistisch-magischen Verrichtungen hingab, um die Kranken zu
heilen.
Das Ergebnis war,
nach Fausts Bericht,
schlimmer als die
Pest selbst:
." "
..

,30
"Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,
Der über die Natur und ihre heil'gen Kreise
In Redlichkeit,
jedoch auf seine weise,
Mit grillenhafter Mühe sann;
Der,
in Gesellschaft von Adepten,
sich in die schwarze Küche schloß
Und,
nach unendlichen Rezepten,
Das Widrige zusammengoß.
Da war ein roter Leu,
ein kühner Freier,
Im lauen Bad der Lilie vermählt,
Und beide dann mit offnem Flammenfeuer
Aus einem Brautgemach ins andere gequält.
Erschien darauf mit bunten Farben
Die junge Königin im Glas,
Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte:
wer genas?
Und so haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Tälern,
diesen Bergen
weit schlimmer als die Pest getobt". (604)
Dieser Bericht Fausts an Wagner erinnert an die Erfahrung mit
Pansophie und Alchemie,
die der junge Goethe selbst machte.
Als
er 1768 wegen Krankheit sein Studium in Leipzig unterbrach und
sich in Behandlung bei seinen Eltern in Frankfurt am Main befand,
kam er in BerÜhrung mit einer Sekte von sehr frommen und zur
Mystik neigenden Personen,
zu der seine beiden Ärzte,
ein Chirurg
und ein Allgemeinmediziner,
seine Mutter und deren Freundin
Susanna von Klettenberg gehörten.
In Dichtung und Wahrheit heißt
es über die Grundüberzeugung dieser Ärzte,
besonders des
Allgemeinmediziners:
"Das Hei~ des Körpers war zu nahe mit dem Heil der Seele
verwandt.,,(b 5)
In dieser Überzeugung bereitete dieser Arzt selber einige seiner
Medikamente. Er behauptete,
ein Salz zu besitzen,
das alle
604)Faust r, V.1034-1052
605)J,W.Goethe,
Dichtung und Wahrheit, op.cit"
8.Buch, 5.341
-
~
:-::~'Y~~.· dUTtaGilitilJilJI[

231
Krankheiten heilen könne,
welches aber erst dann benutzt werden
sollte, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft seien.
Interessanter
war,
daß der Arzt meinte,
jeder könne dieses Heilmittel
herstellen. Dazu müsse man nur gewisse alchimistische und
mystische Schriften lesen.
Von diesen hat Goethe besonders das
Opus magico-cabbalisticum von Welling interessiert,
worauf ihn
Susanna von Klettenberg aufmerksam gemacht haben soll.Aber er
entdeckte und las auch andere Autoren wie paracelsus, Basilius
Valentinus,
Helmont und Starkey. Goethes Glaube an die Lehre des
Arztes wurde durch eine Erfahrung bestärkt,
über die er in
Dichtung und Wahrheit schreibt:
"( ... )eine gestörte und, man dürfte wohl sagen,
für gewisse
Momente vernichtete Verdauung brachte solche symptome hervor, daß
ich unter großen Beängstigungen das Leben zu verlieren glaubte und
keine angewandten Mittel weiter fruchten wollten.
In diesen
letzten Nöten zwang meine bedrängte Mutter mit dem größten
Ungestüm den verlegenen Arzt, mit seiner Universalmedizin
hervorzurücken; nach langem Widerstande eilte er in der Nacht nach
Hause und kam mit einem Gläschen kristallisierten trocknen Salzes
zurück, welches in Wasser gelöst von dem Patienten verschluckt
wurde und einen entschieden alkalischen Geschmack hatte.
Das Salz
war kaum genommen,
so zeigte sich eine Erleichterung des
Zustandes,
und von dem Augenblick an nahm die Krqn~heit eine
Wendung,
die stufenweise zur Besserung fÜhrte.,,(60
)
Sobald er genesen war,
fing Goethe an,
wie alle anderen Mitglieder
der Sekte, alchimistische Experimente zu machen:
"Nun wurden sonderbare Ingredienzien des Makrokosmus und
Mikrokosmus auf eine geheimnisvolle wunderliche Weise behandelt,
und vor allem suchte man Mittelsalze auf eine unerhörte Art
hervorzubringen. Was mich aber eine ganze weile am meisten
beschäftigte,
war der sogenannte Liquor silicum (Kieselsaft),
welcher entsteht,
wenn man reine Quarzkiesel mit einem gehörigen
Anteil Alkali schmilzt,
woraus ein durchsichtiges Glas entspringt,
welches an der Luft zerschmilzt und eine schöne klare Flüssigkeit
darstellt( ... ) Diesen Kieselsaft zu bereiten hatte ich eine
besondere Fertigkeit erlangt;
( ... ) nun ermüdete ich doch zuletzt,
indem ich bemerken mußte,
daß das Kieselhafte keineswegs mit dem
606)Ebenda,
S.342f

\\
232
Salz so innig vereint sei, wie ich philosophischerweise geglaubt
hatte ( ... )
So wunderlich und unzusammenhängend auch diese Operationen
waren, so lernte ich doch dabei mancherlei.
Ich gab genau auf alle
Kristallisationen acht, welche sich zeigen mochten,
und ward mit
den äußeren Formen mancher natürlichen Dinge bekannt( ... ),,(607)
Dieser Bericht legt großen Wert darauf, daß sein Autor eine innere
Entwicklung erfahren habe. Vom Glauben an das auf einer mystischen
Weltvorstellung beruhende Wunder geht er zur Uberzeugung über, daß
die Dinge der Natur Produkte von Gesetzen sind,
die dem Menschen
zugänglich sind,
auch wenn er sie nicht total durchschauen kann.
Von der Leichtgläubigkeit dem Wunderbaren und dem Magischen
gegenüber reift er zur wissenschaftlichen Neugier. Diese Erfahrung
in Goethes Leben liegt offenbar seiner späteren Maxime zugrunde:
"Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das
unbegreifligB~ begreiflich sei; er würde sonst nicht
forschen."(
)
Es ist nicht ohne Interesse, daß Faust sich an das Erlebnis aus·
seiner Kindheit einerseits gleich nach dem Erscheinen des
Erdgeistes erinnert,
der ihm die Grenzen seiner
Erkenntnisfähigkeit bewußt gemacht hat,
und andererseits in dem
lichten Augenblicke,
in dem er vor dem Anblick der
Osterspaziergänger in der Natur fühlt,
er sei wieder Mensch unter
anderen Menschen(609).
Daß diese Kindheitserinnerung sich
einstellt, während er zusieht, wie einfache Menschen den bloßen
Kontakt mit der Natur genießen,
ist schon eine Vorwegnahme der
607)Ebenda,
S.343f
608)J.W.Goethe:
Maximen und Reflexionen,
Maxime Nr.563
609)"rch höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier
ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch,
hier darf ich's seinl" Faust r, V.937-40

233
großen Lehre,
zu der Faust,
nachdem er mit Mephisto durch die
kleine und die große Welt (V.2052) gewandert ist, gegen Ende
seines Lebens gelangt:
"Könnt'
ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen,
stünd'
ich Natur, vor dir ein Mann allein,
Da wär's der Mühe wert,
ein Mensch zu sein.,,(6l0)
Mit anderen Worten,
es ist erst der Mühe wert,
ein Mensch zu sein,
wenn die menschliche Existenz in den Grenzen der Natur außerhalb
und innerhalb des Menschen gehalten wird.
Und wichtig und
unvermeidlich bestimmend unter den Gesetzen der Natur ist der
Faktor "Zeit",
wie der Erdgeist andeutet:
"So schaff'
ich am sausenden Webstuhl der zgB:,
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid."(
)
Die Gesetze der Verwandlung der Materie, der Lebenszyklus,
im
Großen und Kleinen,
sind mit der Dimension "Zeit"
untrennbar
verbunden.
Und die Magie, der sich Faust anfangs hingeben will, um
alle Geheimnisse des Universums zu erkennen, wird in Mephistos
Händen zu einern Mittel,
um diese wichtige Dimension des Lebens
abzuschaffen.
Um alle während seines lebenslangen Studierens verpassten
Freuden nachzuholen,
will sich Faust verjüngen.
Er möchte dies
gern ohne Magie erreichen.
"Mir widersteht das tolle Zauberwesen!
( ... )
Und schafft die Sudelköcherei
Wohl dreißig Jahre mir vorn Leibe?
610)Faust 11, V.11404-407
611)Faust I. V.SOS-S09.

234
Weh mir, wenn du nichts Bessers weißt!
Schon ist die Hoffnung mir verschwunden
Hat die Natur und hat ein edler Geist
Nicht irgendeinen Balsam ausgefunden?" (612)
Allein der natürliche Weg dazu, den Mephisto ihm weist,
ist
geeignet,
ihm jede Hoffnung zu nehmen.
"Begib dich gleich hinaus aufs Feld,
Fang an zu hacken und zu graben,
Erhalte dich und deinen Sinn
In einem ganz beschränkten Kreise,
Ernähre dich mit ungemischter Speise,
Leb mit dem Vieh als Vieh,
und acht es nicht für Raub,
Den Acker,
den du erntest, selbst zu düngen;
Das ist das beste Mittel,
glaub,
Auf achtzig Jahr dich zu verjüngen!,,(61J)
Das Rezept ist zwar gesund,
aber es kann nicht wirklich verjüngen,
es kann nur das Altern verlangsamen.
In der Natur gibt es kein
Zurück und kein Nachholen versäumten Lebens. Die Wiedergeburt, die
Erneuerung des Lebens ist erst nach seinem Ende möglich. Es
handelt sich dann nicht mehr um dasselbe,
sondern um ein anderes,
dem ersten ähnliches Leben.
Fausts Absicht,
sich zu verjüngen, und
besonders deren Verwiklichung durch die Magie,
ist ein schwerer
Verstoß gegen dieses Lebensgesetz. Hierin besteht seine
eigentliche Schuld an der Gretchen-Tragödie.
Die Gretchen-Tragödie wird erst dadurch ermöglicht, daß
Gretchen Fausts Zuneigung erwidert.
Faust vergewaltigt Gretchen
zwar nicht physisch,
aber doch moralisch.
Indern er sich magisch
anziehend,
nämlich jung und schön macht,
hintergeht er ihr Herz.
Und dies ermöglicht ihm,
ihr Gewissen ebenfalls zu hintergehen,
indern er sie dazu bringt,
seine von Mephisto herbeigezauberten
612)Fa~8t I, v.2337; 2341-46
613)Ebenda, V.2353-61
w:.'M!:i·~""'.··~ .

\\
235
reichen Geschenke anzunehmen. Gretchen glaubt sich wirklich einern
attraktiven jungen Adligen gegenüber,
einern älteren Mann hätte sie
sich -
fromm wie sie ist -
sicherlich verweigert,
so reich und
sozial hochstehend er auch gewesen wäre. Gretchen liebt einen
ihrer Liebe würdigen Mann,
und hierin liegt der grundsätzliche
Unterschied zwischen ihr und anderen Mädchen niedrigen Standes,
die in der Literatur der Goethezeit von Adligen mißbraucht werden.
sie ist eine Klärchen,
deren Egrnont unecht ist.
In dieser
Verfälschung seiner selbst durch die Magie, die Faust ermöglicht,
Gretchens Herz zu gewinnen,
besteht hauptsächlich seine Schuld. Es
kann also zwischen Faust und Gretchen keineswegs von einer
"unbedingten Liebe"
die Rede sein, wie Rudolf Eppelsheimer
meint(614).
Er liebt unter der Wirkung des Liebestranks, der ihn
die schöne Helena in jeder Frau sehen läßt(V.2603-604); sie liebt
von Herzen einen Mann, der sich nach ihrem Geschmack magisch
neugestaltet hat.
Nicht von ungefähr setzt der Autor seine ganze Kunst ein, um
Fausts Verantwortung für den dreifachen Mord zu verringern.
Er
fitellt in der Tat die situation so 'dar,
daß man annehmen muß, daß
der soziale Kontext zu diesen Verbrechen getrieben hat.
Wäre nicht
diese unerbittliche christliche Moral,
so hätten Faust und
Gretchen das tödliche Schlafmittel für die Mutter nicht gebraucht,
um sich in Gretchens Zimmer zu treffen; Gretchens Bruder Valentin
hätte die Schande nicht als so unerträglich empfunden,
daß er sich
gezwungen fühlte,
entweder selber aus dem Leben zu scheiden oder
Faust zu töten; Gretchen hätte als ledige Mutter einen Platz in
614)Rudolf Eppelsheimer: Goethes FauBt.
Das Drama im Doppelreich.
5tuttgart
1982.
Im Kapitel
"Fauat und Gretchen"
(5.128-146)
widmet er einen Abachnitt
(5.128-138) dem,
was er den "Bund der unbedingten Liebe"
zwischen Faust und
Gretchen nennt.

dieser Gesellschaft finden können und folglich ihr Kind nicht, aus
Angst vor der Gemeinschaft,
umgebracht.
Gretchens vermeintliche
Sünde ist eigentlich eine soziale Belastung,
keine seelische Last.
"Und bin nun selbst der Sünde bloß!
Doch - alles, was dazu mich trieb,
Gott! war so gut!
ach war so lieb!,,(6l5)
Es ist keine Sünde zu lieben, deutet der Autor damit an; und
Gretchen,
die echt und wirklich geliebt hat,
trägt keine Schuld
und darf vom Himmel erlöst werden(6l6). Was nun Faust betrifft, so
wäre auch er nicht schuldig geworden, wenn er in seinem Verhältnis
zu Gretchen an der Natur keine Man~pulation vorgenommen hätte.
Solange er sich aber zur Magie bekennt,
bleibt er schuldig. Seine
Erlösung wird ermöglicht, als er sich am Ende seines Lebens von
der Magie lossagen möchte(V.11404-407).
Bis dahin trägt er die
Sünde vor Gott,
als Verfehlung vor der Natur.
Die Walpurgisnacht
im ersten Teil der Tragödie ist der poetische Ausdruck seiner
Verurteilung durch den Autor.
Heinz Hamm, der in Faust eine progressive Figur seiner Zeit
sieht,
interpretiert die Walpurgisnacht als Revue.
"Goethe gestaltet in der Walpurgisnacht den Ort, wo die
Konfrontation Fausts mit den Mächten,
die auf die Vernichtung des
Menschen ausgehen,
ihren Höhepunkt erreicht( ... )Die Walpurgisnacht
ist wie eine Revue angelegt.
Faust steigt mit Mephisto den
Blocksberg hinan und kommt ~~gei mit verschiedenen Gestaltungen
des "Bösen" in Berührung."(
)
615)Faust I, V.3584-86
616)
"Ist gerettet I " Faust I, V.4611
617)Heinz Hamm:
Goethes "Faust".
Berlin 1978,
S.108

237
Die Idee einer "Revue" von "verschiedenen Gestaltungen des Bösen"
scheint mir dem Sinn dieser Episode sehr nahzukommen. Aber es ist
nicht eigentlich Faust,
dem all diese Formen des Bösen vorgeführt
werden.
Sie werden vielmehr dem Leser oder Zuschauer vorgeführt.
Weil er diese Perspektive nicht berücksichtigt hat, mißdeutet
Hamm die Gestalten des Ministers,
des Generals und des Parvenüs:
"Was hier sitzt,
ist in jeder Hinsicht "am Ende"
- am Ende der
Feuerreihe,
am Ende seiner einstigen politischen,
sozialen und
literarischen Geltung,
am Ende des Lebens,
es ist das historisch
Überlebte,
das sozial Nichtige,
das sich ygwiderruflich entlarvt
und jede Anziehungskraft verloren hat.,,(6
)
Nach dem, was sie sagen,
sind diese überlebten Gestalten
offensichtlich am Ende ihrer Karriere. Was ihre Gegenwart in der
Walpurgisnacht rechtfertigt,
ist aber nicht nur die Tatsache, daß
sie am Ende ihrer Karriere sind; es ist vielmehr die Art und
Weise, wie sie diese situation nehmen.
Sie sind alle damit
unzufrieden, daß sie überholt sind.
wegen dieser Unzufriedenheit
gehören sie in die Walpurgisnacht,
diesen Jahrmarkt des Bösen.
Ihre Haltung,
die Ablehnung von Entwicklung, von Fortschritt, gibt
Goethe dem Leser und Zuschauer zu verstehen,
ist eine Form des
Bösen.
Sie ist aber eine geringere Form des Bösen; deshalb wird
sie nicht mitten in der großen Feuerreihe,
sondern etwas am Rand
d.i.
am Ende der Hierarchie des Bösen vorgeführt.
Es handelt sich um eine mit der eben angesprochenen Mißdeutung
zusammenhängende Fehlinterpretation, wenn Heinz Hamm schreibt:
"Der Anblick der verfallenen Gestalten macht auf Mephisto
einen solch niederschmetternden Eindruck,
daß er - ~leichsam gegen
seinen Willen -
"auf einmal sehr alt erscheint". (61 )
618)Ebenda,
5.110
619)H.Hamm,
op.cit.,
5.110

I
218
Sollte dies zutreffen,
so würde das heißen,
daß Mephistopheles
kein Teufel mehr ist; denn der Teufel kann nicht vom Unglück eines
Menschen gerührt werden;
er ist ja meist selber dessen Anstifter.
Zwar spricht Mephisto selbst beim Anblick jener überlebten
Gestalten davon daß er altere:
"Zum jüngsten Tag fühl'
ich das Volk gereift,
Da ich zum letzten Mal den Hexenberg ersteige,
Und weil mein Fäßchen trübe läuft,
So ist die welt auch auf die Neige."(620)
Aber da Teufel normalerweise nicht dem Gesetz des Werdens und
Vergehens unterworfen sind,
besteht hier kein Zweifel, daß diese
Worte nicht ernst zu nehmen sind.
Selbstverständlich nicht zum
letzten Mal besteigt der Teufel Mephisto den Blocksberg, denn er
ist und bleibt unveränderlich der Teufel;
seine Existenz und
Tätigkeit sind mit der Realität der Welt verbunden.
Er altert
nicht und kann deshalb nicht von einem nahen Ende der welt
sprechen, das mit seinem eigenen zusammenhinge. Mit diesen Worten
und dem greisenhaften Aussehen ironisiert Mephisto vielmehr die
Haltung der vier Gestalten.
Genauso wie diese Personen das Ende
ihrer Karriere für dasjenige der Menschheit halten, macht er sich
alt, wozu er die Macht hat,
und folgert daraus das Ende der Welt.
weit davon entfernt, die Folge irgendeiner Rührung oder Bestürzung
zu sein,
ist die plötzliche Änderung von Mephistos Aussehen
vielmehr eine Weise,
das griesgrämige Verhalten als eine Form des
Diabolischen auf dem Jahrmarkt des Bösen sichtbar zu machen.
Die attraktivste Bude dieses Jahrmarkts ist die der Trödelhexe.
62D)Faust I, V.4D92-95

I
239
"Es steht dahier gar mancherlei.
Und doch ist nichts in meinem Laden,
Dem keiner auf der Erde gleicht,
Das nicht einmal zum tücht'genschadeg
Der Menschen und der Welt gereicht."( 21)
Daß diese Trödelhexe als Lilith, Adams erste Frau
(V.4119),
vorgestellt wird,
ist nur eine sehr geschickte Art,
eine Gestalt,
mit der das jüdisch-christliche Bewußtsein das Böse mehr oder
weniger identifiziert,
zu benutzen,
um Fausts Verbrechen zu
veranschaulichen.
Die Trödelhexe sagt nämlich von den
Ausstellungsstücken ihrer Bude:
"Kein Dolch ist hier, von dem nicht Blut geflossen,
Kein Kelch,
aus dem sich nicht,
in ganz gesunden Leib,
Verzehrend heißes Gift ergossen,
Kein schmuck, der nicht ein liebenswürdig Weib
Verführt,
kein Schwert,
das nicht den Bund gebrochen
Nicht etwa hinterrücks den Gegenmann durchstochen.,,(622)
Die Anspielungen sind sehr durchsichtig. Man hat an den kostbaren
Schmuck zu denken, der dazu gedient hat, Gretchen zu verführen,
hat sich an den Kelch mit dem Gifttrank zu erinnern,
den die
Mutter unwissentlich zu ihrem Verderb geleert hat,
hat sich das
Schwert ins Gedächtnis zu rufen,
mit dem Gretchens Bruder Valentin
von Faust mit Mephistos Hilfe getötet wurde.
In der Walpurgisnacht
ist Faust von nun an nicht mehr an einem fremden Ort; durch sein
Verhalten gehört er künftig dorthin.
Durch das Einfügen der Walpurgisnacht in die Gretchen-Tragödie
charakterisiert Goethe Fausts Verhalten Gretchen und
darüberhinaus der Natur gegenüber.
Er gibt mit poetischen Bildern
zu verstehen,
daß solch ein Verhalten nichts anderes als das Böse
621)Faust I, v.4099-4103
622)Ebenda, V.4104-4109

I
11.'
,;~.
240
~.•
:1·
ist,
jenes Böse, welches das deutsche Kollektivbewußtsein sich in
der Form der Phantasmagorie der Walpurgisnacht, der Nacht vom
Abend des 30. April auf den 1. Mai,
vorstellt,
in der man glaubt,
daß alle Hexen und Zauberer des ganzen Landes sich auf dem
Blocksberg im Harz treffen,
um ihren Sabbat zu feiern und den
Verfolgern der Hexerei und besonders deren Schutzheiliger Walpurga
zu trotzen. Diese volkstümliche Überlieferung nimmt Goethe mit den
Walpurgisnachtsszenen seines faust-Dramas auf und veranschaulicht
auf diese Weise die Quintessenz der lebendigen Natur,
die Gut und
Böse umfaßt.
Die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai ist der Übergang vom
winter zum frühling.
Es ist die Zeit,
in der die Natur nach ihrem
winterlichen Tod wiedergeboren wird; es ist der Moment,
in dem der
Mensch, wenn er dafür einen Sinn hat,
das erleben kann,
was Goethe
in seinem Gedicht Die Metamorphose der pflanzen in bezug auf die
Pflanzenwelt schildert,
nämlich den Reproduktionsprozeß der Natur,
der von ihrem Leben zeugt.
In dieser Nacht des Übergangs ist die
Natur in voller Selbstzeugungstätigkeit; sie lebt also intensiv
lInd alle wesen,
auch der Mensch, meint faust,
spüren das:
"Der frühling webt schon in den Birken,
Und selbst die Fichte fühlt ihn schon;
Sollt' er nicht auch auf unsre Glieder wirken?,,(623)
Der Anblick des Berges ist nun so,
daß das Widerspiel des
Mondscheins auf den felsen,
die Irrlichter, der alle formen
verwandelnde Dunst,
der aus den Schluchten steigt,
das Geräusch
der Bäche,
der Schrei der Nachttiere,
das Sausen des Windes durch
Büsche und Baumkronen intensiv auf die menschliche
623)Faust I, V.3845-47

\\
2.1
Einbildungskraft einwirken, wovon Mephisto in einer kleinen
Reportage eine Vorstellung vermittelt.
"Ein Nebel verdichtet die Nacht.
Höre, wie's durch die Wälder kracht!
Aufgescheucht fliegen die Eulen.
Hör', es splittern die Säulen
Ewig grüner Paläste.
Girren und Brechen der Äste!
Der Stämme mächtiges Dröhnen!
Der Wurzeln Knarren und Gähnen!
Im fürchterlich verworrenen Falle
Übereinander krachen sie alle,
Und durch die übertrümmerten Klüfte
Zischen und heulen die Lüfte.
Hörst du stimmen in der Höhe?
In der Ferne, in der Nähe?
Ja, den ganzen Berg entlang
strömt ein wUtender zaubergesang!,,(624)
So entsteht für die menschliche Einbildungskraft die Welt des
Wunderbaren, wo alle Geister,
Pflanzen-, Tier- und
Menschengeister, gut oder böse, Geister der Erde, der Luft, des
Wassers und des Feuers, sich treffen und miteinander kommunizieren
können. Nur in solch einer Welt können sich Hexen und Zauberer zu.
Hause fühlen. Ja, der Glaube an das Wunderbare, das deutet Goethe
durch diesen Teil seines Werkes an,
ist eine wahre
Naturphilosophie nach dem Kollektivbewußtsein. Deshalb kann in
Faust II die Welt der griechisch-römischen Mythologie als
"klassische"
Walpurgisnacht erscheinen.
"Romantische Gespenster kennt ihr nur allein;
Ein echt Gespenst, auch klassisch hat's zu sein.,,(625
Der Glaube an das Wunderbare ist also eine Form, die Realität der
lebendigen Natur zu bejahen. Diese Realität hat ihre Prinzipien;
und eins von diesen Prinzipien ist das Werden, das auf dem Faktor
624)Ebenda, V.3940-55
625)Fauat II, V.6946-47
_
=

Z4Z
"zeit"
beruht.
Gegen dieses Gesetz des Werdens hat Faust durch den
Gebrauch der Magie verstossen.
Indem Senghor die "neuen Neger"
als "Fausts !
visage d'~b~ne"
bezeichnet, will er u.a.
die Verwandtschaft zwischen Faust, dem
Anhänger der Magie, und dem Negro-Afrikaner unterstreichen, dessen
Religion von der Magie untrennbar ist, wie Senghor wußte und
hervorhob:
"La magie et la religion piongent aux mämes sources du
mysticisme.
Dans les civilisations traditionnelles - c'est le cas
en Afrique noire -,
la religion n'est qu'une magie elaboree; elle
reste magie. Le sacrifice en est l'illustration la plus typique.
Comme dans la magie et selon la loi de l'interaction des forces,
une force vitale superieure y influe, dans son ätre,
sur une force
inferieure. Mais
( ... ) la magie ne sous-tend pas seulement les
activit~s religieuses; prenant ses racines dans l'animi~~~, elle
anime toutes les activites sociales negro-africaines."(
)
Die Magie ist fUr den Dichter des Faust, wie gezeigt,
indessen
nicht der beste Modus, mit der Natur umzugehen.
In dem Magier
Faust hat Senghor also ein Vorbild gesehen, wo Goethe Faust nicht
als ein solches gestaltet hat.
626)"Magia und Religion sind in dieselben Quellen der Mystik getaucht.
In den
traditionalen Zivilieationen,
also in Schwarzafrika,
iet die Religion nur eine
entfaltete Magie;
sie bleibt Magie. Die Opfergabe iat die typischste
Illustration dafür. Wie in der Magie und nach dem Gesetz der gegenseitigen
Wirkung der Kräfte,
beeinflußt hier eine höhere Lebenskraft eine niedrigere in
deren Wesen.
Die Magie liegt aber( . . . )nicht nur den religiösen Praktiken
zugrunde;
im Animismus verwurzelt, beseelt sie alle BChwarzafrikanische Boziale
Praxis." L.S.Senghor:
Elements cor.stitutif9 d'~ne civiliBation d'inepiration
negro-africaine.
In:
Liberta 1,
op.cit.,
5.268

I
243
3.2.2
FAUSTS BEDENKLICHE ROLLE IN POLITIK UND WIRTSCHAFT
Auch im Bereich von Politik und Ökonomie kann Faust nicht als
Vorbild betrachtet werden.
Als Senghor 1949 Le Message de Goethe aux Negres nouveaux
verfaßte, war er schon als Abgeordneter von Senegal im
französischen Parlament, also bereits in der Politik. Damals
stellte er sich die Zukunft der französischen Kolonien politisch
und wirtschaftlich nicht als von der Metropole Frankreich getrennt
vor. Sein damaliger Kampf galt vor allem der kulturellen Identität
jener überseeischen Völker innerhalb eines großen französischen
Kolonialreiches. Politische und wirtschaftliche Probleme
verdienten aber schon damals Senghors Aufmerksamkeit, und dies
besonders in bezug auf die Kolonien und ihre
Entwicklungsperspektiven. Diese Probleme hätten seine
AUfmerksamkeit auf Fausts Rolle in Politik und Wirtschaft lenken
können.
3.2.2.1
FAUST, VERBÜNPETER EINER UNGERECHTEN SACHE
Im ersten Akt vorn Faust 11 fUhrt Mephisto,
immer im Bestreben
Faust ZUfrieden zu stellen und damit seine Wette zu gewinnen,
Faust am kaiserlichen Hof ein. Im Verlauf einer Sitzung des
Staatsrates, in die Mephisto sich in der Rolle des Narren hat
einschleichen können, stellt dieser fest, daß Hof und ReiCh sich
in einer schweren Finanzkrise befinden. Mephisto lenkt den Kaiser

\\
244
und die staatsratsmitglieder zunächst auf den Wert des Bodens als
Quelle des Reichtums.
Im weiteren Verlauf des Aktes kommt es dann
aber zu einer anderen Lösung.
Goethe läßt Faust als Erfinder des
papiergeldes auftreten,
der mitten im alten Reich einen
kapitalistischen Aufschwung entfesselt.
Der Schatzmeister staunt:
"Seht eure Stadt,
sonst halb im Tod verschimmelt,
wie alles lebt und lustgenießend wimmelt!
Obschon dein Name längst die Welt beglückt,
Man hat ihn nie so freundlich angeblickt.
Das Alphabet ist nun erst überzählig,
In diesem zeichen wird nun jeder selig.,,(627)
Und der Marschalk konkretisiert:
"Mit Blitzeswink zerstreute sich's im Lauf.
Die Wechslerbänke stehen sperrig auf:
Man honoriert daselbst ein jedes Blatt
Durch Gold und silber,
freilich mit Rabatt.
Nun geht's von da zum Fleischer,
Bäcker,
Schenken;
Die halbe Welt scheint nur an Schmaus zu denken,
Wenn sich die andre neu in Kleidern bläht.
Der Krämer schneidet aus,
der Schneider näht.
Bei "Hoch dem Kaiser!"
sprudelt's in den Kellern,
Dort kocht's und brät's und klappert mit den Tellern.,,(628)
Diese durch Einführung der kapitalistischen Papiergeldwirtschaft
hervorgerufene Blüte hat aber im IV.Akt zu einer neuen, noch
schwereren Krise geführt.
In dieser Situation "zerfiel das Reich
in Anarchie"
(V.I0261).
Ein Ausweg daraus ist,
daß ein Regimewechsel stattfindet, und
eben dies wird im Reiche angestrebt, wie Mephisto Faust
informiert.
"Die Tüchtigen,
sie standen auf mit Kraft
Und sagten:
Herr ist,
der uns Ruhe schafft.
627) Faust II, V.6077-6082
628)Ebenda, V.6088-6096

Der Kaiser kann's nicht, will's nicht -
laßt uns wählen,
Den neuen Kaiser,
neu das Reich beseelen,
Indern er jeden sicher stellt,
In einer frisch geschaffnen Welt
Fried'
und Gerechtigkeit vermählen. 11 (629)
Auch wenn der Aufruhr, wie Mephisto verachtungsvoll sagt,
besonders von den Pfaffen mit den wohlgenährten Bäuchen (V.10286)
hervorgerufen wurde,
ist er deshalb nicht weniger gerechtfertigt.
Der staatsstreich aber scheitert; und dabei spielt Faust eine
sehr bedenkliche Rolle.
Nachdem ein neuer Kaiser gewählt worden
ist,
bricht zwischen den Anhängern beider Parteien ein Bürgerkrieg
aus.
Faust hilft nit unterstützung Mephistos dem alten Kaiser
gegen den neuen.
Diese Hilfe besteht zunächst in der
Bereitstellung von Söldnern, den von Mephisto herbeigezauberten
drei Gewaltigen.
Als der alte Kaiser aber trotzdem dabei ist, den
Krieg zu verlieren, setzen seine Verbündeten Faust und Mephisto
die radikalsten Mittel ein. Heutezutage würde dies sicherlich in
der Form atomarer oder chemischer Waffen erfolgen.
Anstelle
solcher Mittel, die seinerzeit noch nicht zur Verfügung standen,
benutzt Fausts Diener Mephisto gegen die Truppen des neuen Kaisers
eine Naturkatastrophe.
Er läßt dessen ganze Armee in durch Zauber
entfesselten Fluten ertrinken.
Faust hat Gründe,
den alten Kaiser zu unterstützen.
Er hat
nämlich ein Kolonisierungsprojekt, wofür er ein Stück Meeresufer
braucht. Da er den alten Kaiser in großer Gefahr weiß, hilft er
ihm mit dem Hintergedanken,
der Kaiser werde ihm dafür unendlich
dankbar sein.
Selbstverständlich hat ihn dabei Mephistopheles
beraten:
"Befestige dich bei großen Sinnen,
629)Ebenda, V.10278-83

I
246
Indem du deinen Z~eck bedenkst.
Erhalten ~ir dem Kaiser Thron und Lande,
So kniest du nieder und empfängst
Die Lehn von grenzenlosem strande.,,(630)
Faust hilft also dem alten Kaiser aus Ehrgeiz und Habgier(631}. Er
~ill dem Meer durch Deichbau ein unter seiner Herrschaft stehendes
be~ohnbares Land abge~innen. Er handelt angetrieben von dem, ~as
man heutzutage mit dem schönen Wort "unternehmungsgeist"
bezeichnet.
Seinen zielen zuliebe trägt Faust zur Niederlage der Partei im
Bürgerkrieg bei, die im Reich Frieden und Gerechtigkeit
~iederherstellen ~ill. Im V.Akt geht Faust dann selbst über
Leichen, ~ie das Schicksal des alten Paares Philemon und Baucis in
seiner neuen Kolonie zeigt.
3.2.2.2
FAUST,
DER PROBLEMATISCHE MODERNISIERER
Wenn Goethe, ~ie Harro Segeberg zeigt(632}, durch seinen Faust
nicht gegen jede Modernisierung Stellung nehmen ~ollte, so hat er
630)Ebenda, V,10302-10306
631)
"Her-rechaft gewinn' ich,
Eigentum!
Die Tat iet allee,
nichte der Ruhm." Ebenda,
V .10187-10188
632)"Der Fauet-Dichtung :äßt eich keine "grüne" Aktualieierung unterlegen I
Philemon ist es/
der noch vor Faust den Anblick der bearbeiteten Natur als ein
"paradiesisch Sild" empfindet,
weil "Wog auf Woge",
nunmehr diszipliniert,
niemanden mehr mißhandelt.
Darin also ist dem Autor zuzustimmen: ein beruhigtes Sozialleben iet nur
inmitten einer befriedeten Natur möglich,
die
"liebe Natur'" müsse,
"zur Vernunft
gekonunen",
auf ihre verrückten,
fieberhaften Erschütterungen tür immer
verzichten." Harro Segeberg:
Technik und Naturbeherrechung im Konflikt.
Johann
Wolfgang Goethee
"Fauet.
Zweiter Teil". V.Akt
118321
und die Modernität
vormoderner Technik.
I~: Derselbe, Literarische Technik-Bilder, Tübingen 1987,
5.53.
Segeberg bezieht eich hier auf Goethee Brief vom l8.Dezember 1831 an J.G.
von
Quandt,
in dem er von den Vorzügen der Zähmung der Naturkräfte spricht .


247
mit dem zweiten Teil des Dramas doch das Problem ihrer Ambivalenz
aufgeworfen.
Weder der für Berg- und Straßenbau zuständige Minister im
Herzogtum sachsen-Weimar-Eisenach, noch der Naturforscher und
Dichter Goethe fand es tadelnswert,
daß der Mensch versucht, seine
Lebensbedingungen durch Eingriffe in die Natur zu verbessern.
Goethe läßt selbst den alten Philemon Bewunderung vor Fausts
gewaltiger Modernisierungsarbeit ausdrücken.
"Das Euch grimmig mißgehandelt,
Wog'
auf Woge,
schäumend wild,
Seht als Garten Ihr behandelt,
Seht ein paradiesisch Bild.
( ... )
:.'
Kluger Herren kühne Knechte
Gruben Gräben,
dämmten ein,
Schmälerten des Meeres Rechte,
Herrn an seiner Statt zu sein.
Schaue grünend Wies'
an Wiese,
Anger, Garten,
Dorf und Wald.-
Komm nun aber und genieße,
Denn die Sonne scheidet bald.~
Dort im Fernsten ziehen segel,
Suchen nächtlich sichern Port.
Kennen doch ihr Nest die Vögel;
Denn jetzt ist der Hafen dort.
So erblickst du in der weite
Erst des Meeres blauen Saum,
Rechts und links,
in aller Breite.
Dichtgedrängt bewohnten Raum.,,(6Jj)
Fausts Eindeichungswerk ist eine hervorragende Illustration
dessen, wozu menschliche Geistes- und Tatkraft fähig ist.
Es
zeigt, wie der Mensch sich die Natur zu seinem Nutzen unterwerfen
kann.
Und wenn man sich an Mephisto hält,
zählt dabei allein der
Erfolg.
633)FauBt II, v.11083-86,
11091-106
L& Hk
i.!L
: ,

I
248
"Man fragt ums Was, und nicht ums W i e.,,(634)
Fausts Vorgehen bei diesem großen und schönen Werk legt indessen
auch die Frage "ums Wie" nahe. Als Relikt aus "vorkolonialer" Zeit
steht in der Nähe seines Palastes, .auf einern Hügel am ehemaligen
strande die Hütte eines alten Paares, philemon und Baucis, daneben
eine kleine Kapelle:
im Schatten von ehrwlirdigen alten Linden
ein
,
herrlicher Anblick, nach dem sich der Türmer Lynkeus mit folgenden
,:
\\~
,
,
Worten zurücksehnen wird:
;
".
"Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei wie es wolle,
Es war doch so schön!,,(635)
Diesem Sinn für die Schönheit eines herkömmlichen Miteinanders von
Mensch und Natur stellt sich Fausts Begeisterung für Baustellen
und künstliche Landschaften entgegen.
~;
~,
,.
i'"
"Dort wollt' ich, weit umherzuschauen,
,
Von Ast zu Ast Gerüste bauen,
Dem Blick eröffnen weite Bahn,
Zu sehn, was alles ich getan,
Zu überschaun mit einem Blick
Des Menschengeistes Meisterstück,
Betätigend mit klugem Sinn
Der Völker breiten Wohngewinn.,,(636)
Fausts Widerwille gegen nutzlose Naturschönheit verbindet sich mit
einern grenzenlosen Egoismus und einer bodenlosen Unersättlichkeit.
Die Hütte des alten Paares, die kleine Kapelle, dieser ganze von
seinem Modernisierungsprojekt überholte Lebensraum, stören Faust.
634)Ebenda, V.11185.
sperrung im Original
63S)Ebenda, V.11300-303
636)Ebenda, V.11243-2S0
1
Lc241
Q

24
"(
)Das verfluchte Hier!
(
)
Mir ist's u~möglich zu ertragen!
( ... )
Die Alten droben sollten weichen,
Die Linden wünscht'
ich mir zum Sitz,
Die wenig Bäume,
nicht mein eigen,
Verderben mir den Weltbesitz.
( ... )
So sind am härtsten wir gequält,
Im Reichtum fühlend,
was uns fehlt.
Des Glöckchens Klang,
der Linden Duft,
Umfängt mich wie in Kirch' und Gruft.
Des allgewaltigen Willens Kür
Bricht sich an diesem Sande hier.
wie schaff'
ich mir es vom Gemüte!
Das Glöcklein läutet, und ich wüte." (637)
Für einen aber, der den Teufel zum Verbündeten hat,
ist dies kein
Problem. Mephisto wählt die radikalste Lösung und steckt die Hütte
samt Bewohnern in Brand. Lynkeus in seiner Trauer sagt, was
eigentlich dadurch verloren geht, nämlich die Anschauung einer in
Jahrhunderten gewachsenen Lebensform.
"Was sich sonst dem Blick emPt~~len,
Mit Jahrhunderten ist hin."(
)
Hans Christoph Binswanger hat in seiner Faust-Deutung die
Aktualität dieser Szenen aus dem letzten Akt des Dramas
unterstrichen:
"Das Resultat der "allgewaltigen Willkür" können wir heute
ringsum beobachten:
es ist die ungeheuerliche,
im Verlauf der
Menschheitsgeschichte bisher noch nie dagewesene und immer rascher
voranschreitende verunstaltung der Welt,
die schließlich auch vor
der letzten Denkmalschut~~~tte und der letzten Naturschutzlinde
nicht haltmachen wird."(
)
637)Ebenda, V.11233; 11237;
11239-242; 11251-258
638 jE benda, V.11336-337
639)HanS Chriatoph Binswanger: Geld und Magie.
Deutung und Kritik der modernen
Wirtschaft anhand von Goethes Faust,
5tuttgart 1985,
5.68
:$ 2t
ibM

25
Selbstverständlich konnte Senghor die Gefährdung der Umwelt durch
eine bedenkenlose Modernisierung noch nicht so wahrnehmen wie wir
heutzutage.
Sonst wäre er sich bewußt gewesen, wie bedenklich es
dem afrikanischen Kontinent gegenüber war,
die N~gritude-Bewegung
vorbehaltlos mit Faust zu identifizieren.
3. 2 • 3
DER "FAUSTISCHE MENSCH" VON OSWALD SPENGLER UND SEflGHORS
"FAUST A VISAGE D'EBENE"
zur Warnung aber,
Faust für die N~gritude-Bewegung zu
vereinnahmen,
hätte Senghor Oswald Spenglers 1918 erschienenes und
bereits 1921 ins Französische übersetztes Werk Der untergang des
Abendlandes gereichen können,
jenes berühmte Buch,
das in der
Bibliothek des Senghor der dreißiger Jahre zu vermuten man gute
Gründe hätte
(640).
In seiner KUlturtypologie nennt Spengler "faustisch"
den
abendländischen Menschen,
dessen Seele den grenzenlosen Raum als
Ursymbol habe.
Er ließ sich dabei von einer gewissen
Interpretation von Goethes Faust inspirieren, welche Hans Schwerte
folgendermaßen zusammenfaßt:
"( ... )in dem Jahrhundert zwischen 1840 und 1940 hat sich
( ... )
im großen und ganzen ein interpretatorischer Prozeß vollzogen,
den
man umschreiben könnte als:
die Enttragisierung der Tragödie
Goethes,
( ... ) das Löschen der Schuld Fausts, das Umdeuten seiner
640)Martin Steins vermutet auch O.Spengler unter unter unter den Autoren,
die
auf die Begründung der Negr~tude-Bewe9ung Einfluß gehabt hätten. Siehe M.
Ste~ns:
L.S.Senghor und Deutschland, op.cit.,
S.228

251
Schuld und seines wiederholten "Irrtums"
qeradezu in ein humanes,
in ein prometheisches Verdienst. Oder zumindest:
das Bejahen, das
auszeichnende Bejahen der Tragödie und der tragischen Schuld
Fausts als eines germanisch-deutschen
amor fati,
das "faustische
Dennoch und Trotz-Alldem",
das Annehmen also des Titanischen, des
Tragisch-Vermessenen, auch des schuldhaften und rücksichtlosen
Durchsetzens des "großen"
Individuums als eines wahrhaft
Menschlichen,
als des eigentlich Humanen, des Deutsch-Humanen,
eben:
als des eigentlich "Faustis~~!n" mit dem Weltausgriff über
jede abgesteckte Grenze hinaus."(
)
Diese Interpretation habe zu einer ideologischen Perversion der
Faust-Figur geführt, deren Genese und Resultat Schwerte
folgendermaßen schildert:
"Das Phänomen jedenfalls liegt vor( ... ), daß ein ursprünglich
rein literarischer Begriff,
"faustisch",
abgeleitet von eindeutig
fixierbaren Literaturdenkmalen - der Historia von 1587, den
Schauspielen und Puppenspielen, der Dichtung Goethes -,
sich
weltanschaulich und weltdeutend ausweitet,
ins Feld politischer
Auseinandersetzung gerät und hier zu einem ideologischen stich-
und Kampfwort wird, das schließlich zur Konstituierung eines
"Faustischen Menschen" mit einer "Faustischen Kultur",
"Faustischer Religion",
"Faustischer Mission" u.s.w. dient.,,(642)
Spengler ist eben, wenn nicht einer der Urheber jener
Perversion,
so doch einer ihrer wirkungsvollsten Verbreiter. Er
definiert den "faustischen Menschen",
den Abendländer,
als einen,
der sich hauptsächlich durch den Willen zur Macht kennzeichne,
welcher sich durch Egozentrismus und die Leidenschaft, sich ins
Unendliche zu erheben(643),
manifestiere.
Es ergebe sich daraus,
daß die ganze "faustische Ethik" ein Streben danach sei, immer
64l)Hana 5chwe<te:
"Das Faustische". Eine deutsche Ideologie.
In: We<ner Keller
(H<sg):
Aufsätze zu Goethes "Faust I",
Oa<mstadt 1974, 5.89
642)Ebenda,
5.87
643)"Oieses "Ich" steigt in der gotischen A<chitektur empo", die Tu<mspitzen und
5t<ebepfeile< sind "Ich"
( ... )" Oswald 5pengle<:
Der Unte<gang des Abendlandes.
Um<isse eine< Mo<phologie de< Weltgeschichte
11918), MUnchen 1973, 1.8d., 5.394

25
höher zu steigen(644).
Für den "faustischen Menschen", heiße leben
"kämpfen,
überwinden,
sich durchsetzen,,(645).
"Der Wille zur Macht auch im Ethischen,
die Leidenschaft,
seine Moral zur allgemeinen Wahrheit zu erheben,
sie der
Menschheit aufzuzwingen;
alle Andersgearteten umdeuten,
überwinden,
4grnichten zu wollen,
ist unser eigenstes
Eigentum."(6
)
Auf dieser Basis psychologischer Disposition habe der Abendländer
eine Kultur hervorgebracht,
die Spengler wie folgt
charakterisiert:
"Die faustische Kultur war deshalb im stärksten Maße auf
Ausdehnung gerichtet, sei sie politischer, wirtschaftlicher oder
geistiger Natur; sie überwand alle geographisch-stofflichen
Schranken; sie suchte ohne jeden praktischen Zweck,
nur um des
Symbols willen, Nord- und Südpol zu erreichen; sie hat zuletzt die
Erdoberfläche 19 ein einziges Kolonialgebiet und Wirtschaftssystem
verwandelt. ,,(6
)
Spengler hat den Untergang des Abendlandes,
in seinem
Verständnis der faustischen KUltur,
offensichtlich zu früh
prophezeit. Von seiner Charakterisierung der abendländischen
Kultur her gesehen, hat aber Senghor sich selbst und die
Negritude-Bewegung mit dem Inbegriff jener zivilisation
identifiziert, deren Opfer sie waren und welcher sie entschieden
den Kampf angesagt hatten.
644)"( ... )und deBhalb iBt die geBamte fauBtiBche Ethik ein "Empor",
Vervollkommenung deB Ich,
Bittliche ~rbeit am Ich,
Rechtfertigung des Ich durch
Glauben und gute Werke, Achtung des Du im Nächsten und des eigenen Ich um seiner
Seligkeit willen, von Thomas von Aquino bis Kant,
und unendlich das Höchste:
Unsterblichkeit deB Ich." Ebenda,
5.394
645)Ebenda,
5.436
646)Ebenda,
5.438
647)Ebenda,
5.432
I
1
1
I~l,\\l'A:~@atid;'Ii.ii··W!Ili~~iil·it~i~rPii··~~~,al~IE1.rill?illlilr.la.i••i....
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253
Diese Überlegung vermag zu verdeutlichen,
in welchem Maße
Senghor solche Züge in der Faust-Figur übersah,
auf welche
andererseits Spengler sie bei seiner Konstruktion eines
"faustischen Menschen" und einer "faustischen Kultur" reduzierte.
In völligem Gegensatz zum willen zur Macht des Spenglersehen
"faustischen Menschen",
also des Abendländers, steht in
Wirklichkeit das, was Senghor "l'lmotion nlgre"
nennt,
eben jene
Haltung "der Hingabe",
die zu "einer Notwendigkeit,
zur aktiven
Haltung der Kommunion,
ja zur Identikation" wird(648).
Einer
"faustischen" Tendenz,
sich immer höher zu erheben, steht die
schwarzafrikanische Ethik entgegen, welche Senghor folgendermaßen
charakterisiert:
"L'lthique nlgro-africaine consiste,
po ur l'homme vivant, a
reconnaitre l'unitl du monde et a travailler pour son ordination.
Son devoir est donc de renforcer,
bien sOr,
sa vie personnelle,
mais aussi de rlaliser l'etre chez les autres( ... ) Ce qui explique
la culture de certaines vertus,
comme le tr~4~il, l'honneur,
la
pietl filiale,
la charite,
l'hospitalitl."(
)
Das Ideal besteht, wie man sieht, darin,
daß man sich in die
Einheit der Welt einfügt,
anstatt sich darüber erheben zu wollen.
Die schwarzafrikanische Ethik beruht auf dem Prinzip des
Gleichgewichtes: Gleichgewicht des Individuums durch das
Gleichgewicht der Familien-, stammes-, Volks- und
Weltgemeinschaft, und dies nicht nur unter Menschen, sondern auch
in bezug auf den gesamten Lebensraum. Dieser Kult des
648) Vgl.
dazu L.5.5enghor: Ce que l'homme no ir apporte.
In: Libert6 1, op.cit.,
5.24.
Deutsch,
op.cit.,
5.12
649)"Die schwarzafrikanische Ethik besteht für den lebendigen Menschen darin,
die Einheit der Welt anzuerk~nnen und daran zu arbeiten, sie zu ordnen.
Seine
Pflicht besteht also gewiß darin,
sein eigenes Leben zu stärken,
aber auch die
Existenz der Anderen zu fördern( ... }oiea erklärt die Pflege gewisser Tugenden
wie die Arbeit,
die Ehre,
die Kindesliebe,
die Wohltätigkeit,
die
Gastfreundschaft." L.S.Senghor: Elements constitutifs ... op.cit.,
5.277

254
Gleichgewichtes drückt sich im sozialen Bereich durch die
Bedeutung der Gerechtigkeit aus.
Hierzu schreibt Senghor:
"La justice est( ... )placee au centre mlime da l'ethique negro-
africaine. C'est elle qui etablit - ou retablit -
la Paix, si
chere au coeur du Negro-Africain,
cette ordination equilibree, qui
fait l'unite de la personne,
de la communaute, de la societe.
C'est faire oeuvre de justice que de secourir son prochain; de lui
assurer le gite et le couvert comme l'assistance morale.,,(,,50)
Es ist selbstverständlich, daß eine solche Ethik,
im Gegensatz zu
der des "faustischen Menschen" von Spengler, den Eroberungsgeist
nicht begünstigt.
Zwar beruht die Auffassung der Natur bei dem Senghorschen
Schwarzafrikaner sowie bei dem Spenglerschen "faustischen
Menschen" auf dem Prinzip der Kraft(651). Während aber dieses
Prinzip beim "faustischen Menschen" sich auf den rein mechanischen
Bereich beschränkt,
erhebt es sich beim Schwarzafrikaner über die
bloße physische Realität hinaus zu einer metaphysischen Dimension,
was hier die Identifizierung zwischen Mensch und Natur
ermöglicht(652). Während diese Kraft beim ersteren nichts Heiliges
650)"Oie Gerechtigkeit Bteht( . . . )im Mittelpunkt der Bchwarzafrikanischen Ethik.
Sie ist es,
die den dem Schwarzafrikaner 80 sehr am Herzen liegenden Frieden,
jene ausgeglichene Ordnung, welche die Einheit der Person,
der Gemeinschaft und
der Gesellschaft ausmacht,
stiftet oder wiederherstellt.
Es heißt im Sinne der
Gerechtigkeit handeln,
wenn man geinem Nächsten hilft,
ihm Obdach und
Verpflegung Bowie
moralische Hilfe sichert."
Ebenda,
5.278
651)"MaiB l'homme n'est pas 1e seu1 ätre au monde.
Une force vitale semblab1e A
1a sienne anime chaque obiet( . . . )depuis Oieu jusqu 'au grain de Bab1e."
(Der
Mensch ist aber nicht allein in der Welt.
Eine seiner eigenen ähnliche
Lebenskraft belebt jedeB Objekt(.,.)
von Gott bis zum Sandkorn)
Senghor:
L'esthetique negro-africaine.
In:
Libertä 1,
op.cit.,
5.204
-"Die Kraft
ist
im mechanischen Naturbilde des abendländischen Henschen,
was
der Wille in Beinern seelenbilde und die unendliche Gottheit in seinem Weltbilde
ist." O.Speng1er,
op.cit.,
S.501
652)"Ainsi,
toute 1a nature est anim~e d'une pr~sence humaine( ... ) Non seu1ement
leB animaux et lee ph~nomäneB de la nature( ... ), mais encore l'arbre et 1e
caillou se font hommes."
(SO ist die ganze Natur von einer menschlichen Präsenz
be1ebt( ... ) Nicht nur die Tiere und die Naturphänomene{ ... ),
sondern auch der
Baum und der Stein werden Henschen.)
Senghor,
Ce que l'homme noir .•. , op.cit.,
S.24f

255
sondern nur die zu meisternde Energie zur Beherrschung der Natur
darstellt, ist sie beim letzteren das heilige Lebensprinzip, dem
man sich fügen soll, um dadurch ontisch ernährt zu werden(653).
Der von Senghor verherrlichte Schwarzafrikaner hat also nichts
mit dem Spenglersehen "faustischen Menschen"
gemeinsam. Das
verdeutlicht, daß Senghors Metapher "Fausts A visage d'~blne"
nicht widerspruchs frei ist. sie ist jedenfalls verwirrend, wenn
man sie im Namen der schwarzafrikanischen Kultur gegen das
Abendland wenden zu können meint.
Vielleicht hat der Senghor der dreißiger Jahre, dessen Begriff
vom Okzident in Anlehnung an Leo Frobenius dem Spenglersehen nicht
entsprach, den "faustischen Menschen" von Spengler absichtlich
ignoriert, um sich an einen Faust halten zu können, der den
deutschen Romantiker(654) , den Angehörigen einer "äthiopischen"
Zivilisation im sinne Frobenius' zu verkörpern schien. Die
"äthiopische"
Zivilisation war ja für Senghor diejenige, die in
ihrer unverbrauchten schwarzafrikanischen Form noch vieles
enthielt, was in der modernen "westlichen" Welt verloren gegangen
war, Ursache der von vielen Philosophen und Schriftstellern -
- Vgl.
dagegen "Die Kraft ist eine mystische Größe, die nicht aus
wissenschaftlicher Erfahrung stammt,
sondern 1m Gegenteil deren Struktur im
voraus bestimmt. Nur in der NaturauffasBung faustischer Menschen gibt es statt
einee Magneten einen Magnetismus ... " O.Spengler:

Der Untergang des Abendlandes,
op.cit.,
2.Bd., S.
53lf
653)"Mais qu'est-ce qua la Vie? Pour les N~gro-Africains, c'eet une force, une
matiere vivante,
c'est-a-dire capable d'accroitre Bon änergie ou da la perdre,
da e8 ren-forcer ou da 8e d~-forcer. L'Etre-Force-Vitale est, aiosi, en liaison
n~ceB8aire avec d'autres forces,
si du moins 11 veut croitre et non d~-p~rir."
(Was ist aber das Leben? Für die Schwarzafrikaner iet es eine Kraft,
ein
lebendiger Stoff,
d.i.
fähig,
seine Energie zu vermehren oder zu verlieren,
sich
zu stärken oder zu schwächen.
Die Lebenskraft ist BO in notwendiger Verbindung
mit anderen Kräften,
zumindest wenn sie zu- und nicht abnehmen will.)
Senghor,
El~mente constitutifs . . . . op.cit.,
S.264
654)"Faustiech" wurde zu einem der
(romantischen) oppoeitionellen Sinnzeichen
gegen die übrige,
sogenannte "westliche" Welt gemacht." Hans Schwerte,
op.cit.,
5.30
.. J
EiJ..UAS
O'N
'; • •

256
besonders den Expressionisten - seit dem Ende des vergangenen
Jahrhunderts mit Nachdruck verkündeten Zivilisationskrise(655).
\\
,
3.3
DIE UNBEGRIFFENE MAHNUNG
1
I
"Gu~ri, je ne le veux point l'etrel Mon eSRs~t est puissant,
Je serai alors abject cornme les autres."(
)
Diese Verse aus dem zweiten Teil des Dramas, mit denen Faust
seine Fixierung auf Helena zum Ausdruck bringt, werden von Senghor
zur Bekundung seiner Ablehnung der abendländischen
Verstandeskultur vereinnahmt. Mit diesem Faust-Zitat meint
Senghor: Er und alle damaligen Anhänger der N~gritude-Bewegung,
also die "Fausts ä visage d'~b~ne", wollen nicht von ihrem "neuen
sturm und Drang" gegen die Kulturwerte des Okzidents, insbesondere
gegen seine Vernunft geheilt werden. Sich von jenem
antikolonialistischen Elan abringen zu lassen, also darauf zu
655)"ce que le monde moderne a oubli6, qui est une des causes de la criee
actuelle da civilisation,
est qua l'epanouissement ~e la personne exiga une
direction extra-individualiste.
r1 n'a lieu qua Bur la terra des morts, dans 18
climat de la famille,
du groupe.
Ce besoin de communion fraternelle est plus
profondement humain qua celui du repliement Bur soi, autant qua celui du
Burnaturei."
(Was die moderne Welt vergessen hat und waa daher eine der Ursachen
der augenblicklichen ZivilisationsKris8 ausmacht:
eie hat vergessen, daß die
Entfaltung der Persönlichkeit ihr Ziel außerhalb des Individuums finden muß.
Dieses findet der Neger auf der Erde dsr Toten,
in der Atmosphäre der Familie,
der Gruppe.
Dieses Bedürfnis nach brüderlicher Bindung ist unendlich viel
menschlicher als die Zurückwendung auf das Ich oder die Hinwendung zum
Übernatürlichen.)
Senghor,
Ce que l'homme noir ... op.cit.,
5.32. Deutsch,
op.cit.
S.2lf
656)"Geheilt will ich nicht sein, mein Sinn iet mächtig;
Da wär'
ich ja wie andre niederträchtig."
(Faust II, V.7459-60)
Von Senghor in eigener Ubersetzung zitiert.
In: Le Message de Goethe aux
Negres nouveaux,
op.cit.,
5.84

\\
25i
verzichten, sich zu emanzipieren, wäre niederträchtig, so
niederträchtig wie jene Völker, die sich irgendeiner Art der
Kolonisierung gefügt haben.
Der Senghor der dreißiger Jahre hat, wie gezeigt, sich selbst
und die Anhänger der Negritude-Bewegung mit Goethes Faust-Figur
explizit identifiziert. So darf angenommen werden, daß der
Gebrauch, den Senghor von den oben .zitierten Versen macht, sein
Verständnis einer Übereinstimmung zwischen den Zielen der
Negritude der dreißiger Jahre und dem Zusammenhang impliziert, in
dem Faust diesen Satz ausspricht. In dieser Hinsicht ruft das
zitat aus Faust 11 aber manche interpretatorische Bedenken hervor.
Es weckt in mir jedenfalls das Bedürfnis, die von Senghor
zitierten Verse in ihrem handlungsmäßigen zusammenhang zu
situieren und in bezug auf Senghors Anliegen als Vorkämpfer der
Negritude-Bewegung eine neue Interpretation des ganzen Helena-
Aktes vorzunehmen.
3.3 . 1
SENGHOR UND FAUST AUF DEM WEG NACH GRIECHENLAND
c)
Mit Mephistos Hilfe ist es Faust gelungen, am kaiserlichen Hof
die sagenhaft schöne Helena und deren Geliebten Paris magisch auf
einer Bühne erscheinen zu lassen. Von Helenas unwiderstehlicher
Schönheit hingerissen (V.6467-6500), versucht er sie in die Arme
zu nehmen, wobei er Paris mit dem von Mephisto erhaltenen
magischen Schlüssel berührt (V.6562-64). Daraufhin ereignet sich
eine Explosion, die magische Erscheinung verschwindet, und Faust
fällt in Ohnmacht. Wie Homunculus offenbart (V.6903-20), träumt
-

258
Faust während seines todes ähnlichen Schlafs nur von der schönen
Helena. Als er in der klassischen Walpurgisnacht, im alten
Griechenland, wohin er von Homunculus und Mephisto getragen worden
ist, wieder zu sich kommt, hat er nur ein Verlangen: die schBne
Helena zu treffen.
"Wo ist sie? - Frage jetzt nicht weiter nach ..•
Wär's nicht die Scholle, die sie trug,
Die Welle nicht, die ihr entgegenschlug,
So ist's die Luft, die ihre Sprache sprach.
Hier! durch ein Wunder, hier in Griechenlandl,,(657 j
sich bei den Sphinxen erkundigend, erfährt Faust, daß der Weg zu
Helena nur von Chiron, jenem Zentaur, der die Eigenschaften aller
Pflanzen und Wurzeln kennt und die meisten Helden der griechischen
, ~,
Mythologie eingeweiht hat, zu erfahren sei:
"Von Chiron könntest du's erfragen;
Der sprengt herum in dieser Geisternacht;
Wenn er dir steht, so hast du's weit gebracht.,,(658)
tf
Von da an kann ihn selbst das schöne Schauspiel, bei dem die
I
Nymphen zu seiner Unterhaltung und Zerstreuung sich an Anmut und
(
Reiz übertreffen, nicht ablenken.
"Begnügen sollt' ich mich an diesen,
Mein Auge sollte hier genießen,
Doch immer weiter strebt mein Sinn.
Der Blick dringt scharf nach jener Hülle,
Das reiche Laub der grünen F~~~e
Verbirgt die hohe Königin."l
)
657)raust 11, V.7070-7074
658)Ebenda, V.7199-7201
659)Ebenda, V.7289-7294
I
. ..
'
IIliÜÜ""'IIÜi rE i
ca

259
Es gelingt Faust, sich auf Chirons Rücken über den Fluß Peneios
tragen zu lassen, wie es mehreren Helden und Helena selbst einst
geschah. Als er während der Überfahrt von Chiron erfährt, er sitze
da, wo die schöne Helena einmal gesessen habe, wird er fast
verrückt vor Freude und besonders vor Ungeduld, sie zu sehen.
11
o ganz und gar
Verlier' ich mich! Erzähle, wie?
Sie ist mein einziges Begehrenl
Woher, wohin, ach, trugst du sie?
( ... )
Nun ist mein Sinn, mein Wesen streng umfangen;
Ich lebe nicht, kann ich sie nicht erlangen. 11 (660)
Vor diesem Besessensein hat Chiron den Eindruck, Faust sei nicht
bei Vernunft (V.7446-7447). Und da Chiron meint, er habe seine
ganze Heilkunst den wurzelweibern und den Pfaffen (V.7351-7352)
gelassen, schlägt er Faust vor, ihn zu der Hellseherin Manto, die
im Werk zur Tochter Äskulaps gemacht worden ist, zu führen, die
ihn heilen könne.
"Mein fremder Mann! als Mensch bist du entzückt;
Doch unter Geistern scheinst du wohl verrückt.
Nun trifft sich's hier zu deinem Glücke;
Denn alle Jahr, nur wenig Augenblicke,
Pfleg ich bei Manto vorzutreten,
Der Tochter Äskulaps( ... )
Ihr glückt es wohl, bei einigem Verweilen,
Mit wurzelkräften dich von Grund zu heilen. II (661)
Und an dieser Stelle sagt Faust:
"Geheilt will ich nicht sein, mein Sinn iSi !ächtig;
Da wär ich ja wie andre niederträchtig."( 6 )
660lFaust 11, V.7410-7413,
7444-7445
661)Ebenda, V.7446-7451; 7457-7458
662)Siehe Anmerkunq (1)
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I
260
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Faust lehnt es also ab, seinen unbezwinglichen Wunsch, die schöne
Helena zu sehen, als Krankheit anzuerkennen, von der er geheilt
werden müßte.
Herkömmlich wird die Begegnung zwischen Faust und Helena als
die von Goethe erdachte poetische Lösung des Konfliktes zwischen
Klassik und Romantik interpretiert; So ist z.B. bei Karl-Heinz
Hahn zu lesen:
"Den streit zwischen Klassikern und Romantikern zu schlichten,
das war( ... ) die Absicht des Dichters, die ihn bei der Gestaltung
des Helena-Aktes leitete.,,(663)
Rudolf Eppelsheimer zeigt, wie es Goethe gelungen sei, durch den
stil und eine geschickte verwendung hitorischer Begebenheiten,
insbesondere kultureller Charakteristika, die Vermählung zwischen
Faust und Helena dichterisch zu verwirklichen. Diese Ehe wird von
Eppelsheimer interpretiert als diejenige zwischen dem vertreter
der von der deutschen Romantik verherrlichten christlich-
germanischen mittelalterlichen Tradition, mit ihrem Kult der sich
direkt zu Gott erhebenden individuellen Innerlichkeit, welche sich
in der gotischen Architektur ausdrücke, und der schönen Helena,
Vertreter in der antiken Schönheit, des Audrucks der Harmonie
zwischen Mensch und Natur(664). Aus dieser Ehe wird ein sohn,
Euphorion, geboren. Der symbolisiere die neue Ästhetik, die weder
klassisch noch romantisch, sondern die Synthese aus beiden sei. Da
der charakteristischste Vertreter einer solchen Kunst für Goethe
663}Karl-Heinz Hahn:
Faust und Helena oder die Ayfhebung dee Zwiespaltes
zwischen Klassikern und' Romantikern.
In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft. Nr.32
(1970),
5.119
664)RUdolf Eppelsheimer: Goethes Faust. Das Drama im Doppelreich.
5tuttqart
1982, 5.330-340
2

der englische Dichter Lord Byron gewesen sei, sei die Euphorion-
Figur zugleich ein poetisches Denkmal, das Goethe zu Ehren dieses
1824 zu früh gestorbenen Dichters habe errichten wollen.
Bezieht man sich auf diese Interpretation, könnte man bereits
sagen, daß Senghor die von ihm zitierten Verse aus der klassischen
Walpurgisnacht für seine ziele zu Unrecht in Anspruch nimmt. Zwar
konnte er als Apostel der Negritude sich aufgrund seiner
besonderen Sympathie fUr die deutsche Romantik mit dem nach
Eppelsheimers Ausdeutung "deutschen Romantiker Faust" sehr wohl
identifizieren. Dieser Deutsche aber steht diesmal nicht, wie
Senghor es von dem Ethnologen Frobenius gelernt hatte, im
Gegensatz zum Okzident; er ist vielmehr von ihm entzückt. Faust
ist hier von der griechischen Schönheit,
jenem Produkt der Küste
des Mittelmeeres, besessen, verzaubert. Wie Goethe selbst, nach
Senghors eigenen worten, "vom höchsten Norden auf der Suche nach
der Sonne hergeschritten war,,(665), so befindet sich Faust auf dem
weg zu einer hochzeitlichen Eroberung. Er empfindet wie Goethe bis
zur Besessenheit das, was Senghor als Vertreter einer Negritude
der Öffnung nach dem Zweiten weltkrieg bezeichnet als
"le vieil appel de la Mlditerranee et des terres de sol~~~ aux
"barbares du Nord", le viei I appel de la raison au coeur. 11 (
)
Faust auf dem Weg zu Helena ist dabei, eben das zu verwirklichen,
was dem Senghor der Nachkriegszeit, also nach seiner von Frobenius
beeinflußten sturm-und-Drang-periode der dreißiger Jahre, so sehr
665)"11 avait march6, depuiB l'Extr4me-Nord,
l
la recherche du Boleil."
L.S.Senghor. Le Message de Goethe ... op.cit., S.86
666)"den alten Ruf des Mittelmeeres, des Landes der Sonne,
an die "Barbaren des
Nordens", den alten Ruf der Vernunft an das Herz." Ebenda,
5.86

arn Herzen lag(667): Faust ist unterwegs, um eine kulturelle
Mischung (mätissage culturel) zu vollziehen. Das zitat aus der
klassischen Walpurgisnacht wäre deshalb zutreffender, wenn Senghor
es zur Illustration seiner Vorstellung von Goethes gelungener
Entwicklung zur Klassizität angeführt hätte,
jener Klassizität,
deren Ausdruck Senghor doch in Faust 11 gespürt zu haben
meinte(668).
Eine vom Herkömmlichen abweichende Interpretation der
Euphorion-Figur wird Übereinstimmungen des Helena-Aktes mit dem
kulturellen Projekt des Negritude-Theoretikers Senghor der
Nachkriegszeit nachweisen können.
3.3.2
GOETHES GROßE MAHNUNG: EUPHORION
Euphorion ist weder als Denkmal für Goethes Sohn AUgust(669) zu
interpretieren noch nur als Symbol der vom späten Goethe
667)vgl. dazu Einleitung 5.6
-In den Kapiteln 4.1 und 4.2 wird die Position Senghors eeit dem Zweiten
Weltkrieg ausführlicher behandelt und zu seiner Vorstellung von Goethes
Klassizität in Beziehung gesetzt werden.
66B)"ce qu'il Y a da grec ou da romain dans ses oeuvres nouvelles, elast moine
les personnages et la mati~re plastique que le dessin et le rythme, que le
style,
qui leur don ne le sceau de la n~cessit~, de l'~ternel. C'est Iphig~nie,
les ~16gieB romaines, e'est ausei et Burtout le second Faust.~ (Griechisch und
römisch in seinen neuen werken sind weniger die Gestalten und die Plastizität
des stoffes als die Gestaltung und der Rhythmus;
also der Stil, der ihnen das
Gepräge des Notwendigen und des Ewigen verleiht.
Das sind Iphigenie, die
römischen Elegien, das ist auch und besonders Faust, der Tragödie zweiter Teil.)
Senghor: Le Message de Goethe ... op.cit., 5.85
669)
"Als Denkmal für seinen Sohn hat Goethe die Gestalt des Euphorion jeden
Fall geschaffen,
auch wenn sich das Schicksal Augustss erst nach dem des Vaters
erfüllt hätte." Wilhelm Resenhöfft: Goethes Euphorion: August von Goethe.
In:
Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion,
Zeitschrift für
Literaturgeschichte,
Nr.21
(1941),
5.86
I diE
3
s

263
gewünschten neuen Dichtung,
die eine Synthese aus Klassik und
Romantik sein sollte und deren begabtesten Vertreter er in dem als
Freiwilliger im griechisch-türkischen Krieg umgekommenen
englischen Dichter Lord Byron sah
(670). Rudolf Eppelsheimer sieht
mit Recht in Fausts Griechenland,
in seinem Arkadien, die Heimat
des Geistes.
"In Fausts arkadischer Hymne dehnt sich der Horizont über den
ganzen Erdkreis aus, der Helena "angehöret", wie die Verse
sibyllinisch verkünden. Von der personalen "Mitte" über das
"Vaterland" zu "Europa" und zur Erde als kosmische Größe,
als
einer Pflanzenschule für eine Welt von Geistern -
das sind die
Stufen, die an die globale Dimension des neuen "Arkadien in
Spartas Nachbarschaft"(~11569) heranführen, als welches der
Peloponnes erscheint."(
)
tr
,,
Die Gefährdung Griechenlands könne keinem Genie gleichgültig sein.
Dies sei Byrons Fall gewesen. Bei Euphorion, dem echten
Eingeborenen dieses Landes, könne ein solcher Patriotismus nicht
anders als selbstverständlich sein. ,"
"Auch vor Euphorion tut sich das Bedrohliche auf.
Er sieht von
seiner Felsenhöhe aus die Feinde des freien Geistes und der
"heiligen" Poesie um den Peloponnes heranbranden, wie Byron die
Feinde seines Griechenlandes vor Missolunghi; womit sich die
Vision einer von griechischer Spiritualität erweckten europäischen
Geistigkeit verbindet,
die sg~~n ein Hölderlin durch seinen
Hyperion verteidigen läßt."(
)
570) Vql.dazu besonders Karl-Heinz Hahn: Faust und Helena oder die AUfhebung des
Zwiespaltes zwischen Klassikern und Romantikern.
In: Jahrbuch der Goethe-
Gesellschaft.
Nr.32(1970);
-Dorothea Lohmeyer: Faust und die Welt. München 1975. Dort 5.350ff;
-Heinz Hamm,
op.cit., 5.205f;
-Rudolf Eppelsheimer:Goethes Faust. Das Drama im Doppelreich. 5tuttqart 1982,
dort 5.330f!.
571)R. Eppe1sheimer,
op.cit., 5.333
672)Ebenda, 5.349

2610
So stürben Euphorion und Lord Byron für ihre gemeinsame Heimat,
für Arkadien, für Griechenland, das Land der heiligen Poesie. Dort
gibt es nicht nur eine schöne Landschaft, sondern auch Nahrung im
tlberfluß.
"Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife speis~
Und Honig trieft vom ausgehöhlten stamm."( "3)
In solch einem reichen Land sind alle Bedingungen erfüllt, damit
der Mensch,
in bester Gesundheit, den Gipfel seiner physischen,
geistigen und psychischen Entwicklung erreicht. In dieser höchsten
Entfaltung seines Wesens befindet sich der Mensch in einem
Zustand, die an Göttlichkeit grenzt,
ja in dem Menschenwelt und
Göttersphäre nicht mehr unterschieden werden können.
"Hier ist das Wohlbehagen erblich,
Die Wange heitert wie der Mund,
Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich;
Sie sind zufrieden und gesund.
Und so entwickelt sich am reinen Tage
Zu Vaterkraft das holde Kind.
Wir staunen drob; noch immer bleibt die Frage:
Ob's Götter, ob es Menschen sind?
So war Apoll den Hirten zugestaltet,
Daß ihm der schönsten einer glich;
Denn wo Natur im reinen Kreis~ ~altet
Ergreifen alle Welten sich."( 7 )
In diesem Lande, das dem Menschen ermöglicht, seine höchste
Entfaltung zu erreichen, kommt Euphorion zur Welt. Er ist also das
personifizierte Genie, die menschliche Geisteskraft in ihrer
letzten Perfektion. Goethe, dem die Kunst - und besonders die
673}Faust II, V.9546-9549
674iFaust II, V.9550-9561
h-
"
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=
_. ,...... _ ..

1
265
Poesie - als der vollkommenste, höchste und edelste Ausdruck
menschlicher Geisteskraft galt, konnte die Euphorion-Figur nicht
anders denn als einen Dichter gestalten. Euphorion ist die
Verkörperung des vollkon~enen europäischen Geistes, entstanden in
Griechenland am Mittelmeer, befruchtet im christlichen Mittelalter
durch die Mischung von Völkern des Nordens und des Südens, und

seit der Neuzeit sich durch die heutige Form der abendländischen
Kultur ausdrückend. Die Euphorion-Figur ist sicherlich als etwas
Universelles gedacht; der Autor stützt sich auf die Realität der
abendländischen, d.i. seiner eigenen Kultur, um ein allgemein-
menschliches Phänomen zu schildern und der ganzen Menschheit eine
Botschaft zu vermitteln. Diese Botschaft drückt sich in Goethes
Gestaltung von Euphorions Verhalten und Schicksal aus.
Bei der Vorstellung Euphorions als des vo~lkommenen Künstlers
wird die Aufmerksamkeit des Lesers oder Zuschauers auf dessen
Aureole gelenkt:
"Denn wie leuchtet's ihm zu Raupten? Was erglänzt, ist schwer
zu sagen,
Ist es Goldschmuck, ist es Flamme übermächtiger
Geisteskraft?"(675)
Damit wird zu verstehen gegeben, Euphorions künstlerische Begabung
sei nur der Ausdruck jener "Übermächtigen Geisteskraft" . Und se,ine
Neigung, zu hUpfen und sich zu erheben, ist nichts Anderes als die

'ci.
Illustration dessen, was nach Goethes besonders im Gedicht Grenzen
der Menschheit formulierter Ansicht den Menschen auszeichnet: sich
über seine anfänglichen Lebensbedingungen zu erheben, sich vom
Boden zu reißen.
"Ich will nicht länger
675)Ebanda, V.9623-9624
,
,
I ' "
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266
Am Boden stocken,,(676)
Euphorion trägt in sich etwas Prometheisches, diesen Trieb zur
Selbständigkeit. Daher sagt er zu seinen Eltern:
"Laßt meine Hände,
Laßt meine Locken,
Laßt meine Kleider!
Sie sind ja mein. I, (677)
Doch trägt er auch das in sich, was den Menschen gefährdet: die
Grenzenlosigkeit beim Steigen.
"Zu allen Lüften
Hinaufzudringen,
Ist mir Begierde,
Sie faßt mich schon.,,(678)
Maß im Gebrauch der Geisteskraft zu halten, heißt, Grenzen zu
erkennen, indem man die objektiven Möglichkeiten und seine eigenen
Kräfte einschätzt und den für das gemeinschaftliche Leben
erforderlichen Normen Respekt erweist. Solange Euphorion sich nach
diesem unentbehrlichen Lebensgesetz richtet, wozu seine Eltern ihn
nachdrücklich mahnen, ist seine Mitwelt mit ihm zufrieden. Das
schöne Ballett, das Euphorion zusammen mit den Chormädchen tanzt,
symbolisiert diese Gruppenharmonie(679).
676)Faust 11, V.9723-9724
)
677)Ebenda, V.9725-9728
'.
678)Ebenda, V.9713-9716
679)Zwar sagt Faust,
"Wäre das doch vorbei I
Mich kann die Gaukelei
Gar nicht erfreun."(V.9752-9754)1
Doch bedeutet dies nicht, daß das Ballett ihm nicht gefällt. Er sagt das, weil
er weiß, daß Euphorion das Ballett ungern tanzt, wie dieser selbst behauptet,
bevor er zu tanzen anfängt:
"Nur euch zu Willen
Halt'
ich mich an,"
(V.9743-9744)

••
Z'IlP.

267
Aber bald wird das Bedenkliche in seinem Wesen offenbar. Schon
läßt er seine Maßlosigkeit durch die Behauptung spüren, er finde
seine Freude nur, wenn er sich selbst bediene und nicht bedient
werde, wenn er etwas erringe oder erobere und es nicht von anderen
bekomme, wenn er sozusagen seinen Willen zur Macht äußern könne.
"Das leicht Errungene,
Das widert mir,
Nur das Erzwungene
Ergetzt mich schier.,,(680)
Eine solche Mentalität ist die Negation des gemeinschaftlichen
Lebens, im Großen und im Kleinen. Eben dies zeigt sich, wenn
Euphorion zu seinem größten Vergnügen eins der Chormädchen
vergewaltigt.
"Schlepp' ich her die derbe Kleine
Zu erzwungenem Genusse;
Mir zur Wonne, mir zur Lust
Drück' ich widerspenstige Brust,
Küss' ich widerwärtigen Mund
Tue Kraft und Willen kund.,,(~81)
Der Faust-Dichter läßt sehr geschickt diese Form von Maßlosigkeit
in eine andere übergehen, indem er Euphorions Opfer in Flammen
aufgehen und mit der AUfforderung an Euphorion in die Höhe lodern
läßt, er solle ihr "in leichte Lüfte" (V.9808) folgen. In
Euphorions Reaktion auf diese Herausforderung drückt sich sein
Wesen aus.
"Immer höher muß ich steigen,
Immer weiter muß ich schaun.,,(682)
680)Faust 11, V.9781-9784
681)Ebenda, V.9794-9799
682)Ebenda, V.9821-9822
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.IktJ..!ta.;;
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.....
,,_ • ..,

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i.t» las
i4UU:

268
Um das Verrückte an diesem Verhalten zu unterstreichen, setzt ihm
der Autor den Gesang des Chors entgegen, der Euphorion mahnt, das
glückliche ländliche Leben friedlich zu genießen, das seine Heimat
reichlich bietet. Darin liegt der Vorwurf, das von seinem
Lebensmilieu natürlich gegebene Glück beiseite zu lassen und weit,
immer weiter zu suchen.
"Magst nicht in Berg und Wald
Friedlich verweilen?
Suchen wir alsobald
Reben in Zeilen,
Reben am Hügelrand,
Feigen und Apfelgold.
Ach in dem holden Land
Bleibe du hOldl 'I (683)
Auf Euphorions Verherrlichung des Krieges:
"Träumt ihr den Friedenstag?
Träume, wer träumen mag.
Krieg! ist das Losungswort.
Sieg! und so klingt es fort.
gibt der Chor eine bedenkenswerte:
"Wer im Frieden
Wünschet sich Krieg zurück,
Der ist geschieden
Vom Hoffnungsglück."(684)
Diese Verse der Chormädchen sind ein Hinweis auf einen Aspekt von
Euphorions Schicksal, welchem die Faust-Deutung bisher nicht genug
Aufmerksamkeit gewidmet hat. Zunächst ist hier festzustellen, wie
die Angehörigen ein und desselben Landes entgegengesetzte
683)Ebenda, V.9827-9834
684)Ebenda, V.9835-9842
a SI
us.s
sau

269
Lebensansprüche haben. Euphorion wünscht sich Krieg, wo die
Chormädchen den Frieden feiern. Die Einstellung des Chors ist hier
sehr lehrreich. Wer im Friedenszustande mit solch verderblichen
Gedanken spielt, "der ist geschieden I Vom Hoffnungsglück". Aber
nicht nur die Chormädchen fühlen sieh durch Euphorions
kriegerisches Naturell beunruhigt. Auch seine Eltern sind darüber
entsetzt.
"Welch Entsetzen! welches GraueR'
Ist der Tod denn dir Gebot?,,(6 S,
Es ist bekannt, daß Lord Byron sich nach Griechenland begeben
hatte, um diesem Land gegen die Türken beizustehen, und daß er in
Missolunghi starb. Durch seine Unerschrockenheit, seine
Maßlosigkeit und seinen Ehrgeiz eignete sich Byron als Vorbild für
die Gestalt des Euphorion, die Goethe zu schaffen vorhatte.
"Auch paßte er übrigens ganz wegEm seines unbefriedigten
Naturells und seiner krieger~~~hen Tendenz, woran er in
Missolunghi zugrunde ging." (
I
Diese Aussage Goethes betont eine "kriegerische Tendenz" überhaupt
in Byrons Charakter und nicht seine Solidarität mit dem
gefährdeten Griechenland. Goethe ging es um das kriegerische und
unbefriedigte Naturell bei hoher dichterischer Begabung. Da Byron
nach Goethes Ansicht all dies in sich vereinigte, konnte er diesem
als Verkörperung der Idee erscheinen, die er durch die Euphorion-
Figur veranschaulichen wollte. Ein poetisches Denkmal zu Ehren des
Dichters Byron konnte daraus deshalb nicht werden, weil Goethe bei
685)FSust rr, V.9891-9892
686)Johann Pater Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines
Lebens.
Hrsg.
von H.H.Houben, Wiesbaden 1959, 5.194
(Gespräch vom 5.Ju1i 1827)

270
all seiner Bewunderung für dessen schöpferische Kraft ihm sein
kriegerisches und zügelloses Naturell vorwarf.
Zu Eckermann sagte
er einige Monate nach Byrons Tod z.B.:
"Seinem stets ins Unbegrenzte strebenden Naturell( ... )steht
jedoch die Einschränkung, die er sich durch die Beobachtung der
drei Einheiten auflegte,
sehr wohl. Hätte er sich doch auch im
sittlichen so zu begrenzen gewußt!
Daß er dies nicht konnte, war
sein Verderben,
und es läßt sich sehr wohl sagen,
daß er an seiner
Zügellosigkeit zugrunde gegangen ist.
( ... ) sich selber alles erlaubend und an andern nichts billigend,
mußte er mit sich selbst verderben und die Welt gegen sich
aufregen.
( ... ) Sein Gehen nach Griechenland war kein freiwi~s~ger
Entschluß,
sein Mißverhältnis mit der Welt trieb ihn dazu."(
)
Mir scheint, daß Goethe mit der Euphorion-Figur mehr im Sinne
hatte als eine Deutung der neueren Dichtung als Synthese von
Klassik und Romantik. Diese Figur ist auch und besonders eine
Warnung vor den Gefahren,
die bei einem maßlosen Gebrauch der
Geisteskraft auf den Menschen lauern.
"Ikarusl Ikarus!
Jammer genug."(688)
So ruft der Chor aus,
als Euphorion sich von der Felsenhöhe ins
Leere wirft.
Indem Goethe auf Ikarus'
Experiment anspielt, will er
auf die Ambivalenz im Gebrauch der Geisteskraft aufmerksam machen.
Es sei zwar lobenswert,
daß Ikarus auf die kühne Idee kam zu
fliegen,
denn auf diese Weise machte er Gebrauch von dem Feuer,
das Prometheus den Menschen brachte; und jeder Mensch habe ihm
687)J.P.Eckermann,
op.cit., 5.113
(das Gespräch vom 24.Februar 1825)
-Es ginge jedoch zu weit,
mit Georg Luk~cs' zu behaupten:
"Es iat ( ... )
jede
Erklärung falsch,
die hier eine Versöhnung zwischen Klassik und Romantik
sucht( . . . ) Er
(Goethe)
sieht
( . . . ) in ihm (Euphorion) den größten Vertreter
eines liberal-anarchistischen Individualismus,
den ideologischen Repräsentanten
des entstehenden kapitalistischen zeitalters,
das die letzte RenaisBance der
Antike,
die Periode Goethee und Napoleons ablöst," Georg LukäcBJ
FauBt und
Faustus, Hamburg 1967.
S.155f
688)FauBt 11, V.9901-9902
w"""Wy'
l
co
dU
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E
a

darin nachzusteben, wenn er sich von den anderen Lebewesen
unterscheiden wolle.
Allein er müsse dabei seine Grenzen kennen
und die Bedingungen seines HandeIns genau erwägen,
sonst arbeite
er an seinem eigenen Verderb.
"Hebt er sich aufwärts
Und berührt
Mit dem Scheitel die sterne,
Nirgends haften dann
Die unsichern Sohlen,
Und mit ihm spielen
wolken und Winde.,,(689)
Die Menschheit,
insbesondere das Abendland,
an das die durch
die Euphorion-Figur vermittelte Mahnung Goethes zunächst gerichtet
war, hat ihr bislang kein Gehör geschenkt. Wie Euphorion steigt
der Abendländer - heutzutage die Industriegesellschaft -
immer
höher.
Auch Senghor greift in seinem Goethe-Essay von 1949 diese
Mahnung nicht auf, obwohl sie ihm bei der Auseinandersetzung mit
der okzidentalen Vernunft und dem europäischen KUlturimperialismus
sehr wohl Argumentationshilfe hätte leisten können.
Stattdessen
nimmt er für diese Auseinandersetzung die Verse in Anspruch, mit
denen Faust in der klassischen Walpurgisnacht die Deutung seiner
Fixierung auf die schöne Helena als Krankheit zurückweist und mit
denen er auf einer Begegnung mit dieser besteht.
Senghors Vereinnahmung dieser Verse für die frühe N~gritude­
Bewegung steht indessen in Widerspruch zu dem Zusammenhang,
in dem
Faust sie ausspricht; denn Fausts Suche nach Helena und seine
Vereinigung mit ihr kann nicht in das Konzept der kulturell sich
abgrenzenden N~gritude-Bewegung der dreiBiger Jahre passen.
689)J.W,Goethe, Grenzen der Menechheit In, GoetheB WerKe,
op.cit.
Bd.l 5.146-14/
__ ._II••S!IIIlil!ill!._IIUlIlIlSIIZI!'lIIIiZIlO...tt_:i.JSII2_lIIRIll!lrllllll....IlIlIIII!~~~"""""'.......IIlIII!II~................~

senghor hätte die Ehe zwischen Faust und Helena dagegen sehr wohl
für die Öffnung der Negritude-Bewegung seit dem zweiten Weltkrieg
in Anspruch nehmen können,
nach ihrer Öffnung für den Gedanken
einer Mischkultur,
von der es in Negritude et Germanite 1 heißt:
"Die Zukunft
( ... ) gehört der Mischkultur:
einer, die mit der
eigenen schöpferischen Kraft jene andere vereint, d~~ in der
griechisch-römischen ordnung ihren Ausdruck fand."(
0)
Die Mischkultur würde einen neuen Euphorion hervorbringen, der aus
der kulturellen Ehe zwischen der Senghorschen NegritUde und der
abendländichen Verstandeskultur geboren würde,
einen Euphorion,
der noch begabter als der Sohn von Faust und Helena sein würde,
dabei aber in der Lage wäre,
sich in das große, von allen Chören
der Welt realisierte Universalballett einzureihen,
zu dem Goethes
Iphigenie einlädt.
4
MODELLE DER REIFE:
SENGHOR UND DER KLASSIKER GOETHE
In seinen Essays zur deutschen Kultur und Literatur ist Senghor
wiederholt darauf eingegangen, wie der Zweite Weltkrieg sich auf
sein Denken ausgewirkt habe.
Dieser Krieg habe seine Einstellung
zur abendländischen Rationalität verändert und ihn auch für die
Werke des Klassikers Goethe empfänglich gemacht. Von nun an zeigt
sich eine offensichtliche Entwicklung in der senghorschen
Auffassung der NegritUde.
In diesem Teil der Arbeit soll
untersucht werden,
inwiefern die Lektüre klassischer Werke Goethes
690)L.S.Senghor: N~gritude et Germanit~ 1. Deutsche Ubersetung von Günther
Birkenfeld,
op.cit.,
5.19
",.
-,"-"
. ... .
. -"----"--- ---.- -
,-

I
27
zur Neuformulierung der Senghorschen Negritude-Theorie beigetragen
hat. Geht es vielleicht gar um einen völligen Widerruf, wenn im
Rahmen der Negritude, die sich nach Senghor durch die Empfindung
charakterisiert, künftig von Klassizität die Rede ist?
4.1
GOETHES KLASSIZITÄT UND DIE NEGRITUDE
4.1. 1
DIE ROLLE GIDES UND VALERYS IN SENGHORS UMGANG MIT DEM
KLASSIKER GOETHE
Die Passagen von Senghors Essays, in denen von Goethes
Klassizität die Rede ist, lassen auf den ersten Blick an einen
Einfluß Andre Gides und Paul Valerys auf ihn denken. Welche Rolle
diese französischen Autoren in Senghors Umgang mit dem Begriff der
Klassik im allgemeinen und insbesondere mit dem Klassiker Goethe
spielen, soll zunächst erörtert werden.
"Romantisme domine", beherrschte Romantik, mit dieser Formel
Gides bezeichnet Senghor das Werk und die Persönlichkeit des
Klassikers Goethe(69l). Er scheint somit anzudeuten, daß er sich
von Gide habe inspirieren lassen, um die klassischen Werke Goethes
als die eines Romantikers zu verstehen, der sich zur Klassik
diszipliniert habe. Aber Senghor verweist auch auf Paul Valery,
wenn er meint, daß Goethe, um zum klassischen Autor zu werden, die
Bedingung erfüllt habe, die Valery für jede Klassik formulierte,
indem er schrieb:
691)L.s.senghor: La Messaga da Goetha aux N~gres nouveaux, op.cit"
5.86
Ftidl»
LalLG, ,2
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,nT
274
"Tout classicisme suppose un romantisme ant~rieur.,,(692)
Und doch haben Gide und Val~ry, große Bewunderer Goethes,
dessen Klassizität sehr oft mit einem gewissen Vorbehalt
behauptet.
Sie wußten, daß das Werk und die Persönlichkeit des
Klassikers Goethe sehr schlecht zu dem passen, was in
französischem Sinne Klassizismus heißt und worüber Gide schrieb:
"A vrai dire je ne connais depuis l'antiquit~ d'autres
classiques que ceux de France (si toutefois j'excepte Goethe - et
encore il ne devenait classique que par imitation des anciens). Le
classicisme me paralt ä ce point une invention franyaise,
que pour
peu je ferais synonymes ces deux mots:
classique et fran~ais( ... )
C'est dans son art classique que le genie de la France s est le
plus pleinement realise( ... ) C'est aussi qU'en France, et dans la
France seule,
l'intelligenc~ tend toujours ä l'emporter sur le
sentiment et l'instinct."(o 3)
Einige Jahre später,
1930, erklärte Paul Val~ry, warum der
französische Geist diese Eigenheit aufweise,
indem er schrieb:
692)"Jede Klassik setzt eine vorhergehende Romantik voraus." Zitiert nach
Senghor: L'Accord conciliBnt, op.cit.,

5.48.
Dort heißt es auch:nSi donc Goethe est classique,
c'est parce qu'll a
participä au mouvement du Sturm und Drang,
qu'il a commencä par ätre romantique
et qu'il l'est reBt~, dans 80n Bubconscient,
jusqu'A 8a mort."
(Wenn also Goethe
ein Klassiker iet,
dann deswegen, weil er ~uvor an der Bewegung des Sturm und
Drang teilnahm,
weil er zunächst Romantiker war und es in seinem Unterbewußtsein
bis zu seinem Tode geblieben ist.)
Deutsche Übersetzung, Ebenda,
5.65
693)"Wahrhaftiq kenne ich seit dem Altertum keine anderen Klassiker als die
fran~öei8chen (wenn ich Goethe ausnehme - und er ~rde Klassiker nur durch
Nachahmunq der Alten).
Der Klassizismus scheint mir in dem Maße eine
französische Erfindung,
daß ich aus diesen beiden Wörtern beinahe Synonyme
machen würde:
klassisch und französisch( ... )
In seiner klassischen Kunst hat
sich der französische Geist am vollkommensten verwirklicht( ... ) Es ist auch 80,
daß in Frankreich und nur in Frankreich der Intellekt dazu tendiert,
die
Oberhand Uber das Gefühl und den Instinkt zu haben." AndrA Gide:
Claasiciame.
In:
Incidences. Gallimard,
Paris 1924,
S.39f
-Goethe iet also ein Sonderfall von klassischem Autor außerhalb Frankreichs,
"der Heimat und der letzten Zuflucht der Klassik'
(la patrie et le dernier
refuge du classicisme).
I;1cidences,
op.cit.
5.211)
I_ 8., :. • • "-_"o<'~' • ,,~"",~••-~ • , - .-

213
"Un art est classique s ' i l est adapt~ nOH tant aux individus
qu'ä une societ~ organis~e et bien definie"( 9 )
Auch Valery spricht hier offenkundig von der französischen
Gesellschaft.
Der Zentralismus des französischen staates hatte in
der Tat früh zu einer Formierung der Gesellschaft sowohl im
politischen als auch im kulturellen Bereich geführt.
Aber wenn Gide Goethe,
und ihn allein,
neben dem französischen
Klassizismus gelten lassen wollte,
so wußte er doch genau, daß das
Muster des französischen Klassizismus nicht Goethes ganzen Wert zu
enthalten vermochte. Und er war ihm sicherlich in seiner vom
französischen Klassizismus so verschiedenen Klassizität lieber.
Allein er konnte dies im Frankreich der zwanziger und dreißiger
Jahre nicht offen sagen(695) .
694)"Eine KunBt iBt klaBBiBch,
wenn Bie weniger den Individuen alB einer
GeBellBchaft in ihrer wohlorganiBierten und -definierten GeBamtheit angepaBBt
iBt." Paul Val~ry: Litt~rature. In: OeuvreB, ~d. ~tablie et annot&e par Jean
Hyther,
PariB 1960,
tome 2, 5.564
695)
1932 mußte A. Gide Beine Bewunderung für Goethe offenbar noch in etwaB
einkleiden,
was man "Entdeutschung~
GoethBs im damaligen Frankreich nennen
könnte.
Er mußte sich damals noch über ihn folgendermaßen äußern:
"S'11 neua
paralt ,
a neua Fran,ais, moins allemand que les autrss auteurs d'Outre-Rhin,
c'est qu'll ast 1e plus g~n~ralement et unlversellement humain, et e'est par lui
que se rat ta ehe ä l'humanit~ 1e plus largement taute Ba race."
(Wenn er uns
Franzosen weniger deutsch als die anderen Autoren jenseits des Rheins zu sein
scheint,
so deswegen, weil er am allgemeinsten und universellsten human ist, und
weil durch ihn seine ganze Rasse sich am meisten mlt der Menschheit verbindet,)
A. Gide: Goethe.
In:
La Nouvel1e Revue FrancaiBe,
tome 38 (marB 1932) 5.368-377,
Zitat dort 5.368f
-BereitB 1919 hatte Gide geBchrieben:
"Goethe ~tait 1e moinB allemand deB
Allemands 1'
(Goethe war der am wenigsten deutsche aller Deutschen) A. Gide:
R~flexion. sur l'Allemagne (1919). In: IncidenceB, Ga11imard, PariB 1924, 5.20
-Erst 1946 hat eide seine Distanz zum französischen Klassizismus offen bekundet:
"Ces sages prt!ceptes de Boileau,

que l'on noua faisait apprendre par coeur, ou
venait ee cristalliser en alexandrin la tradition cl4ssique,
il oe eerait pas
eans intt!r~t de lee reprendre l'un apree l'autre,
les saieissant par la peau du
cou,
pour les faire passer en justice."
(Es wäre nicht ohne Interesse,
sich jene
weisen Vorschriften Boileaus,
die man uns auswendig lernen ließ,
wo die
klassische Tradition sich in Alexandrinern kristallisiertet
nacheinander
vorzuknöpfen,
sie bei der Nackenhaut zu nehmen}
um sie vor Gericht zu
schleppen.) A.
Gide: Journal 1939-49, Ga11imard,
PariB 1954,
24 janvier 1946,
5.290
:~~ldBNlijfii'lt!i dkSbiliLidAil2t4# ;j S 1424 j, ;;;;;;;U: Ui
i!ILJ
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IR

276
So erging es auch Paul Val~ry. 1932, ein Jahr vor Hitlers
Machtergreifung,
schrieb er, der seine Abneigung gegen den
französischen Klassizismus doch nicht verheimlichte(696) , über
Goethe:
"C'est un classique et un romantique alternatifs.·,(697)
Er meinte damit jene Eigenschaft bei Goethe, welche für ihn
weitaus vorteilhafter als der bloße französische Klassizismus war,
und die er folgendermaßen schilderte:
"Fort de sa puissance vitale,
fort de sa puissance po~tique,
maltre de ses moyens,
libre,
comme un strat~ge, de ses manoeuvres
interieures,
-
libre contre l'amour,
libre contre les doctrines,
libre contre la tragedie,
iibre contre la pens~e pure et contre la
pensee de la pensee,
libre contre Hegel,
libre contre Fichte,
iibre contre Newton,
- Goethe occupe sans effort, sans ~~lal, sa
place unique et souveraine dans ie monde de i'esprit."(
)
696) "on augmenta cruellement 1e nombre des 'entraves des muses. On ~dicta une
restrlctlon
tr~s redoutable du nomhre de leurs pas et de leurs mouvements
natureIs. On chargea 1e po~te de chaines. On l'accabla de däfenses bi~arres et
on lui decima Bon vocabulaire. On fut atroce dans les commandements de la
prosodie."

(Man vermehrte grausam die Anzahl der Hindernisse für die Musen. Man
erließ eine bedenkliche Beschränkung der Anzahl
ihrer natürlichen
Schritte und
Bewegungen. Man legte dem Dichter Fesseln an. Man belastete ihn mit seltsamen
Verboten und man minderte ihm den Wortschatz.
Man kam mit entsetzlichen Geboten
der Prosodie.)
Paul Valery:
Fragment du discours de reception A l'Academie
Francaise (1927).
In:
Horceaux choisis, Gallimard,
PariB 1930, 5.159
697)"ES iBt mal ein Klassiker und mal ein Romantiker." Paul Valery: DiscourB en
l'honneur de Goethe
(30 Avril 1932).
In: Variete IV,
Gallimard, Paris 1938,
5.96-126.
Unter dem Titel Fragment sur Goethe als Einführung des 8uchs Poesies
de Goethe, Ed. Albin Kichel,
Paris 1949,
5.19
698)"5iCh Beiner vitalen Kraft bewußt,
im Vollbesitl Beiner dichterischen Kraft,
Herr seiner Mittel,
frei wie ein Stratege im Verhältnis zu seinen inneren
Antrieben -
frei gegenüber der Liebe,
frei gegenüber den Doktrinen,
frei
gegenüber der Tragödie,
frei gegenüber dem reinen Denken und gegenüber dem
Denken des Denkens,
frei gegenüber Hegel,
frei gegenüber Fichte,
frei gegenüber
Newton,
-
nimmt Goethe ohne Mühe,
ohne Nebenbuhler,
seinen einzigartigen und
souveränen Platz in der Welt des Geistes ein." p,
Val~ry, op.cit., 5.21
;Si2T"
!U$.!iJkiX.i..imta&
JL


Was Val~ry bei Goethe bewunderte, das war seine große
Anpassungsfähigkeit bei all seiner unverwechselbaren Originalität,
jene Freiheit vor allen Situationen, allen Veränderungen, worin
Val~ry den Ausdruck einer ungeheuren Vitalität sah.
"Dans le po~te ou dans la plante, c'est le m~me principe
natureI:
tous les ~tres ont une aptitude ä s'accommoder et cette
aptitude variable me sure leur aptitude ä vivre, c'est-ä-dire ä
demeurer ce qU'~ls sont, en possedant plus d'une mani~re d'~tre ce
qu'ils sont."(6 9)
Val~ry scheint Goethe als jemanden zu sehen, dessen Leben und Werk
zu reich sind,
um ein Klassiker im französischen Sinne zu sein.
Indem Gide und Val~ry Goethe den für sie fragwürdigen Titel
eine Klassikers absprachen, gesellten sie sich geschickt zu den
Franzosen, die in ihm eine reichere Klassizität bewunderten(700).
Daß senghor in seinem Umgang mit dem Klassiker Goethe sich
innerhalb der ganzen französischen literarischen Welt nur auf Gide
699)"Im Dichter wie in der Pflanze gilt dasselbe natürliche Prinzip:
alle Wesen
sind anpassungsfähig und diese Fähigkeit zur Veränderung bestimmt ihre Fähigkeit
zum Leben,
d.h.
ihre Fähigkeit,
das zu bleiben, was aie sind,
indem sie über
mehr als eine Art verfügen, das zu sein,
was eie sind." Ibidem, S.lO
700)Hierzu schrieb A.Gide einmal:
"Je ne pense pas que les quest ions que vous me
poeez au sujet du classicieme puiseent Atre comprieee ailleure qu'en France,
la
patrie et 1e dernier refuge du classicisme.
Et pourtant,
en France m~me, y eut-
il jamais plus grands repr~eentante du classicieme qua Raphael, Goethe ou
Hozart?
Le vrai claseicieme n'est pas 1e r~Bultat d'une contrainte ext~rieure; celle-
ci demeure artificielle et ne produit que des oeuvres acad~miques. Il me semble
que les qualit~s que nous nous plaisons ä appeler classiques sont surtout des
qualitäs morales,
et volontiere je considere 1e classicisme comme un harmonieux
faisceau de vertus,
dont la premiere est la modestie."
(Ich glaube nicht, daß
die Fragen, die Sie mir bezüglich des Klassizismus stellen,
irgendwo anders als
in Frankreich,
in der Heimat und letzten Zuflucht des Klassizismus,
verstanden
werden können.
Und dennoch,
hat es in Frankreich selbst größere Vertreter der
Klassik als Raphael, Goethe oder Hozart gegeben?
Die wahre Klassik ist nicht dae Ergebnis eines äußeren Zwangs; dieser bleibt
oberflächlich und erzeugt nur akademische Werke.
Mir scheint, daß die
Eigenschaften,
welche wir gern klassisch nennen/
vor allem moralischer Art Bind,
und ich betrachte die Klassik gern als eine harmonische Verbindung von Tugenden,
deren vornehmste die Bescheidenheit ist.)

A.Gide:
R~ponBe ä une enqu~te de la
Renaissance sur le classLcisme.
In:
Incidences,
op.cit.,
5.211

278
und Valery bezieht, kommt nicht von ungefähr. Die Vorbehalte von
Gide und Valery gegen den französischen Klassizismus kommen
Senghors Abneigung gegen den einseitigen französischen
Rationalismus entgegen. In ihren Ansichten über Goethe erkannte
sich der Negritude-Theoretiker wieder. Dies kommt 1968 in seiner
Rede anlä81ich der Verleihung des Friedenpreises des deutschen
Buchhandels zum Ausdruck.
4.1. 2
DIE WEIMARER KLASSIK UND DIE NEGRITUDE
Während des Zweiten Weltkriegs beginnt Senghor, anstelle
der
aggressiven Negritude der drei8iger Jahre eine Negritude der
Öffnung zu vertreten.
"A la Negritude du ghetto et du ressentiment, nous voulions
substituer celle de l'enracinement dans l'Ur-Afrika et d'ouverture
ä la Mediterrgnye, qui est, aussi bien,
le chemin de l'Asie que de
l' Amer ique. " (10 )
Was Senghor nunmehr vorschwebt, ist eine unmittelbare Begegnung
zwischen Schwarzafrika und allen Völkern Amerikas, Asiens und
Europas .. Absehend von der französischen Perspektive und von seiner
schwarzafrikanischen Welt ausgehend,will er nun künftig die
deutsche Kultur beurteilen. Das wirkt sich in seiner Definition
der Klassik aus.
701)"An de~ Stelle eine~ N~g~itude des Ghettos und des Ressentiments wollten wi~
ein Negertum setzen, das in jenem >Ur-Afrika< verwurzelt 1st und zugleich zum
MLttelrneer hin offen bleibt,

zum Hittelmeer,
das ebensowohl Brücke nach Asien
wie nach Ame~ika iBt." L.S.Sengho~: L'Acco~d concLliant ( dtsche Obe~setzung)
op. ci t., S. 71
-.rJn 'IZI_I• •liSISlillllltIJI!IL_LIJII.(I.iUUi!llX!!llZi!I:.a•.J%!III!IJ!II.ilJll.__IIiII.:• •i2• •rrIll!Jliildlilli&!!Ii.li!111lill.XXMa.",

279
"( ... ) tout classicisme est l'expression d'une paix au sens
negro-africain du mot,
c'est-ä-dire un accord conciliant entre
elements differents sinon contradictoires.
Comrne le pr9B~erent les
classiques de Weimar,
et Goethe plus que tout autre."(
)
Da der Krieg Senghor dazu geführt habe,
sich von den Ideen
Frobenius'
zu distanzieren,
bezieht er sich nun lieber auf das
griechische Altertum, das er deshalb als das Ideal betrachtet,
weil es das Ergebnis einer kulturellen Mischung sei, an der
Schwarzafrika merklich beteiligt gewesen sei.
"On le sait maintenant,
lorsque les Grecs aborderent les rives
de la Mediterranee,
( ... ),
ils ne trouverent pas un vide culturel,
mais une civilisation tres brillante, qu'ils assimilerent apces
l'avoir vaincue et qui fut l'un des elements de leur miracle.
L'Homo mediterraneus, qui avait cree cette civilisation, etait un
metis de toutes les races - d'Europe, d'Asie,
d'Afrique - qui
avait occupe,
successivement,
les rivages et lee lIes de la
Mediterranee, dont les Negroides du capsien.,,(I03)
Und was war nun das Hauptcharakteristikum jener griechischen
Kultur, die in Senghors Augen als das Ideal gilt? Seine Antwort
lautet:
"Le miracle, c'est que les Grecs n'ont pas mutile l'homrne
comme l'ont fait les homrnes de la Renaissance et des temps
modernes( ... ) e'est que les Grecs ont voulu faire,
de l'homrne, un
etre integral dans l'equilibre de ses vertus et 1 'harmonie de ses
702)"( ... ) jede Klassik
(stellt)
einen Frieden im schwarzafrikanischen Sinn des
Wortes
(dar),
d.h.
einen versöhnlichen Zusammenklang
(accord conciliant)
zwischen verschiedenen,
wenn nicht gar gegensätzlichen Elementen.
Was eben die
Weimarer Klassiker - und Goethe besser ale jeder andere - bewiesen haben.~
Ebenda,
S.64f
70J)"Wir wissen heute, daß die Griechen,
als 8ie( ..• )die Küstec des Mittelmeere8
erreichten,
nicht eine kulturelle Leere,
sondern eine schon glanzvolle Kultur
vorfanden,
die eie nach ihrem Sieg in eLch aufnahmen und die eine der
Komponenten des griechischen Wunders war.
Der >homo mediterraneus<,
der dieBe
Kultur geschaffen hatte,
war ein MischLing aus den verschiedensten ~
europäischen,
asiatischen und afrikanischen - Rasse~, die nacheinander die
Küsten und Inseln des Mittelmeeres bevölkert hatten und ~u denen auch die
negroiden Träger des Capsien gehörten." Ebenda, S.69f

~'-.

280
realisations:
corps et äme,
passion et volonte, des~g et amour;
par-dessus tout,
raison-regard et raison-toucher."(
4)
Diese AusfUhrungen machen verständlich,
warum Senghor mit
großer Zustimmung Goethes Maxime zitiert:
"Chacun doit ~tre grec ä sa faion, mais doit l'~tre.,,(705)
Senghors Vorstellung von Klassik und Griechentum entspricht
weitgehend Goethes Bestimmung des Klassischen in Abgrenzung zum
Romantischen.
In Moderne Guelfen und Ghibellinen (1826)
unterscheidet Goethe zwei Arten dichterischen Schaffens. Die eine
bestehe darin,
der Einbildungskraft Inhalt und Form zu geben, die
andere,
ihr freien Lauf zu lassen. Die Vertreter der ersten Art
seien die Klassiker; die der zweiten seien die Romantiker.
Diese
lösen in ihren Lesern die freie Bewegung der Einbildungskraft aus,
"( ... )welche mit bestimmten und unbestimmten Gestalten aller
Art nach freiern willen gebahren, sowohl ein gebildetes
als ein
ungebildetes Geschlecht befriedigen,
besonders aber dem, was der
Deutsche GemUth nennt,
dem innern Gefühl,
worin alle gutartigen
Menschen libereink9~~en, d.h.
also der Humanität ganz eigentlich
zusagen sOllen."(
)
704) "Das W\\lnder besteht darin, dall die Griechen nicht den Menschen vsrstümmelten
wie die Renaissance \\lnd die Ne\\lzeit( ... ) Oall die Grischen den Menschen als
Ganzes sahen,
im Gleichgewicht seiner Anlagen und im Einklang seiner
Lebeosäußerungen:
von Leib und Seele,
Ergriffenheit und eigenem Zugriff,
selbstsüchtiger Begierde und selbstloser Liebe sowie vor allem von dem am Auge
und am Aussehen orientierten begrifflichen Vorstellen
(raison-regard) und dem am
Greifbaren orientierten mitfühlenden Vernehmen
(raison-toucher)" Ebenda,
8.68
70S) "Jeder Bei auf seine Art Griechel Aber er sei'e." J.W.Goethe: Antik und
Modern. In: Goethes Werke, op.cit., Bd.XII, 5.176.
Zitiert von 5enghor in: Le
Message da Goethe,
op.cit.,
S.85
-L'Accord conciliant, op.cit., 5.50
(französieche.Fass\\lng); 5.67 (dteche
Obersetzungl
706)Johann Wolfgang Goethe: Moderne Guelfen und Ghibellinen. In: Goethee Werke,
hrsg.im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen,
Weimar 1903,
Bd.41,
zweite
Abteilung, 5.276
I
I
l."lilll,u.lIiiilillll!:• • • • • • •"-jj:iilzIÜi4I111ZI!I,UI!I!i$IJIIi:IiI
. • • • • .,,:• •llisiIllSRIll:"5l111idIl1S1IIII1i!l$i$tIIII5ll1'i,.::IIlPlili;IIIU."lIJIiti!lL• • • •lIlItli7i1ll:ilJ:iI-._IIIIiIIIIIIIII_ _

281
Seine Argumentation fortsetzend meint er:
"Eigentlich darf hier kein streit sein: denn die Alten haben
ja auch unter bestimmten Formen das eigentlich Menschliche
dargebracht, welches imme, ,Uletzt, wenn auch im höchsten Sinne,
das Gemüthliche bleibt."( 0 )
Bei dieser vermittelnden Haltung zwischen Klassischem und
Romantischem handelt es sich keineswegs nur um Altersweisheit.
Johann Heinrich Voß berichtete, daß Goethe bei einer Unterhaltung
mit ihm am 26.
Januar 1804 schon folgende Ansicht vertrat:
"Alles, was vortrefflich sei,
sei eo ipso klassisch,
zu
welcher Gestaltung es auch gehöre." (108)
Am 27.September 1827 äußert Goethe gegenüber K.J.L.Iken:
"Es ist Zeit, daß der leidenschaftliche zwiespalt zwischen
Klassikern und Romantikern sich endlich versöhne.
Daß wir uns
bilden,
ist die Hauptforderung: woher wir uns bilden,
wäre
gleichgültig, wenn wir uns nicht an falschen Mustern zu verbilden
fürchten müßten.
Ist es doch eine weitere und reinere Umsicht in
und über die griechische und römische Literatur,
der wir die
Befreiung aus mönchischer Barbarei zwischen dem fünfzehnten und
sechzehnten Jahrhundert verdanken!
Lernen wir nicht auf dieser
hohen Stelle alles in seinem wahren,
eth~ö~h-ästhetischen Werte
schätzen, das Älteste wie das Neueste!"(
)
Ähnliche Äußerungen Goethes über das Klassische und das
Romantische finden sich in mehreren Gesprächen mit Eckermann(710).
707)Ebenda
708lGoethes Gespräche. Gesamtausgabe.
Neu hreg.
von Flodoard Frhr.
von
Biedermann,
Leipzig 1909,
5.342
709)Goethes Werke,
Weimarer Ausgabe,
Bd.43,
IV. Abteilung,
S.81!
710 lS iehe z.B. Gespräche:
-vom 17.0ktober 1828
-vom 2.Apri1 1829
-vom 20.Dezember 1829
7 5
Ud1&!iliill
14. ßt dl 2; "J&2 . . ,,; uMP, AC

282
Das, worum es ihm ging, war weniger die literarische Form als die
Lebensweisheit.
In diesem Sinne ist auch Goethes umstrittene
Äußerung zu Eckermann zu verstehen:
"Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das
Kranke( ... ) Das meist neue re ist nicht romantisch, weil es neu
ist,
sondern weil es schwach,
kränklich und krank ist,
und das
Alte ist nicht klassisch, weil r~ alt, sondern weil es stark,
frisch,
froh und gesund ist.,·(7
)
Den besten Kommentar zu der These von der Gesundheit der Alten
und der Krankheit der Modernen geben die philosophischen und
ästhetischen Schriften Friedrich Schillers,
und unter ihnen vor
allem seine Briefe über die ästhetische Erziehung des
Menschen(1795).
Im sechsten Brief zeigt Schiller, wie der Fortschritt der
Zivilisation in der Neuzeit die ursprüngliche Harmonie zwischen
Mensch und Natur gesprengt und die natürliche Einheit der
Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit des Individuums zerstört
habe(712).
Die Vorzüge der Griechen gegenüber dem modernen
Menschen schildert er so:
"Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine simplizität,
die unserm Zeitalter fremd isti sie sind zugleich unsere
Nebenbuhler,
ja oft unsre Muster in den nämlichen Vorzügen, mit
denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten
pflegen.
Zugleich voll Form und Fülle,
zugleich philosophierend
und bildend,
zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend
der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer
herrlichen Menschheit vereinigen.
Damals,
bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte, hatten
die Sinne und der Geist noch kein streng geschiedenes Eigentum;
I 711)Johann PeterEckermann, op.cit., 5.286. Geapräch vom2. April 1829.
I
712)"Die Kultur selbst war ee, welche den neue rn Menschen diese Wunde schlug."
Friedrich Schiller:
Uber die ästhetische Erziehung des Henschen(1795).
5tuttgart
1984, 5.19.
Dieser Satz drückt die Hauptidee des ganzen sechsten Briefes
(5.17-
26)
aus.

263
denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, mit einand,r
feindselig abzuteilen und ihre Markung zu bestimmen." ( 13)
Diese zeit aber ist längst vergangen, und Schiller will auch nicht
eine falsche Hoffnung darauf verbreiten, man könne sie noch einmal
zurückholen. Er begreift vollkommen, daß der unharmonische Zustand
des neuzeitlichen Individuums der Preis ist, den der Fortschritt
der Zivilisation, den gesellschaftliche Entwicklung vom Menschen
fordert. In dieser Hinsicht schreibt er:
"Gerne will ich Ihnen eingestehen. daß. so wenig es auch den
Individuen bei dieser Zerstücklung ihres Wesens wohl werden kann,
doch die 9f4tung auf keine andere Art hätte Fortschritte machen
können."{
)
Dennoch ist er davon überzeugt, daß, ohne den Fortschritt
abzubrechen, es dem Menschen möglich sei. die zerstörte Einheit
seines Wesens wieder herzustellen.
713}Obar die ästhetische Erziehung das Manschen.
op.cit.,
5.18
-Vgl. dazu auch Ober Anmut und Würde:
"Nie darf sich ihm (dem Griechen)
die
Sinnlichkeit ohne Seele zeigen,
und Beinern humanen Gefühle iet es gleich
unmöglich,
die rohe Tierheit und die Intelligenz zu vereinzeln.
Wie er jeder
Idee sogleich einen Leib anbildet und das Geietigate zu verkörpern strebt,
80
fordert er von jeder Handlung des Instinkts an dem Menschen zugleich einen
Ausdruck seiner sittlichen Bestimmung.
Dem Griechen
ist die Natur nie bloß
Natur: darum darf er auch nie erröten,
sie zu ehren;
ihm ist die Vernunft
niemals bloß Vern~nft: darum darf er auch nie zittern,
unter ihren Maß9tab zu
treten.
Natur und Sittlichkeit. Materie und Geist,
Erde und Himmel fließen
wunderbar schön in sei~en Dichtungen ZU9ammen.
Er führte die Freiheit,
die nur
im Olympus zu Hause iet,
auch in die Geschäfte der Sinnlichkeit ein,
und dafür
wird man ihm hingehen lassen,
daß er die Sinnlichkeit in den Olympue versetzte.
Dieser zärtliche Sinn der Griechen nun,
der das Materielle immer nur unter der
Begleitung des Geistigen duldet,
weiß von keiner willkürlichen Bewegung am
Menschen,
die nur der Sinnlichkeit allein angehörte,
ohne zugleich ein Ausdruck
des moralisch empfindenden Geistes zu sein.
Daher ist ihm auch die Anmut nichts
anders als ein solcher schöner Ausdruck der Seele in willkürlichen Bewegungen.
Wo also Anmut stattfinde~,
da ist die Seele das bewegende Prinzip, und in ihr
ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten.
Und so löst sich denn
jene mystische Vorstellung in folgenden Gedanken auf;
"Anmut ist eine Schönheit,
die nicht von der Natur gegeben,
sondern von dem Subjekt hervorgebracht wird. l'
Friedrich Schiller:
Übe" Anmut und Würde
(1793). Hrsg. von Klaus u.6ergham.
Stuttgart 1984. S.73f
714)
Briefe über die äs~hetische Erziehung des Menschen, op.cit., 5.23

L : ..1
L.
sE.aU.Sil
Jt .s
a

I
284
"Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen
Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn das
Gesetz der Natur so sehr dahin strebte,
s6 muß es bei uns stehen,
diese Totalität in unsrer Natur, welche die KU9I~ zerstört hat,
durch eine höhere Kunst wieder herzustellen."(
)
Das, woran es der Neuzeit am meisten gebreche, meint Schiller
im achten Brief, das sei die "Ausbildung des
Empfingungsvermögens"; und der Weg dahin ist die Pflege der
schönen Künste(716) .
Die Kunst ist für Schiller die einzige menschliche Tätigkeit,
welche die beiden widerstrebenden Prinzipien und Anlagen im
Menschen versöhnen könne.
Sie versöhne die Sinne mit dem Geist,
denn beim Schaffen und/oder Genießen eines Kunstwerks sind die
Sinne und der Geist gleichermaßen beschäftigt.
Dies drückt
Schiller wie folgt aus:
"Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und
zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Men,r9
zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wieder gegeben. "I
)
In diesem Zustande erleidet der Mensch weder die Tyrannei seiner
Sinne noch die seines Geistes. Sein innerer Zwiespalt ist
aufgehoben,
und er ist im Gleichgewicht,
also frei.
In diesem
Sinne schreibt Schiller:
"In dem ästhetischen Zustande ist der Mensch also nUll.,,(718)
715)Ebenda, 5.26
716)"OieBeB Werkzeug iBt die Bchbne KunBt( .•• )" Ebenda,
5.32
717)Ebenda, 5.71
718)Ebenda, 5.85
.'
&;;;&41$ : . ::::
4 1(2 JES

285
Ein solcher Mensch, das heißt,
"( ... )der ästhetisch gestimmte Mensch wird allgemein gültig
urteilen und allgemein gültig handeln,
sobald er es wollen
wird." (719)
Nur mit einem ästhetisch erzogenen Menschen kann der humane staat
gegründet werden, den Schiller im vierten Brief schildert.
Für Senghor sind die Weimarer Klassiker,
sind also Goethe und
Schiller Klassiker,
weil sie nach dem Ideal strebten,
welches bei
den alten Griechen seine Vollendung erreicht hatte,
eine
Vollendung,
die aus jener kulturellen Mischung entstanden war, an
der neben Europa und Asien auch Afrika einen beträchtlichen Anteil
gehabt hatte.
Die Weimarer Klassik strebte für den Senghor der
zeit nach dem zweiten Weltkrieg -
insbesondere der sechziger Jahre
- nach dem gleichen Ideal wie die schwarzafrikanische Weisheit,
die Senghor folgendermaßen darstellt:
"( ... )pour le NAgro-Africain,
la paix n'est pas seulement une
negation:
"1 'absence de guerre".
C'est surtout une situation
positive: un jeude rapports equilibres,
aussi bien
intrapersonnels qu'interpersonnels.
Paix est synonyme d'ordre et
d' harmonie ( ... )
Pour le Negro-Africain donc,
l'homme, dans sa vie individuelle
et dans sa vie sociale,
a pour vocation de reparer 1e mal, qui
provient du desordre originel,
en recreant l'ordre primordial de
1a creation ä l'exemple et image deDieu:
cet ordre qui est
harmonie parce que justes proportions et participation de tous les
elements qui eonstituent la personne,
la societe,
le monde,
l'univers.
La societA est en "paix",
c'est-a-dire harrnonieuse
parce que juste, quand ehaque personne et chaque groupe socio-
culturel a sa part,
joue son role dans celle-ci
( ... )
Rien ne doit etre dAtruit ou seulement inernploye parmi les
Alements qui constituent une personne,
une societe, un monde parce
que la vie spirituelle,
je veux dire la culture,
comme la vie
physique,
est faite,
precisAment,
du libre jeu de ees elements,
de
ces forees,
dont la nature est de toujours tendre a un equilibre,
ä une harmonie,
a une beaute,
qui est l'expression parfaite de la
vie spirituelle." (720) .
719)Ebend4, 5.95
720)"( ... )für den Schwarzafrikaner ist Friede jedoch nicht nur eine Negation,
eine bloße >Abwesenheit von Krieg<. Friede ist zunächst und vor allem ein
~:Xl$i
a 32iK.L_WUdi...s.;; hZ MtO.XCN#lAGarQa,4
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•.;;;;14 •. ~~"""'1;4""1M_1A''''1}:''''"",'';''' i_ _'~"
'
_

I
286
Nach senghors Ansicht entfernt die Weimarer Klassik den
Schwarzafrikaner nicht von seiner ursprünglichen Ontologie. Aber
während der stürmer und Dränger Goethe ihn in den dreißiger Jahren
in der Haltung aggressiver Exklusivität bestärkt hatte,
ist der
Klassiker Goethe tür den Senghor der Nachkriegszeit Leitfigur bei
der Öffnung hin zu anderen Kulturen.
Dabei spielt für Senghor eine
von Leo Frobenius verkündete Wesensverwandtschaft zwischen
deutscher und schwarzafrikanischer Kultur keine entscheidende
Rolle mehr.
Dem
Klassiker Goethe folgen,
das heißt nach Senghors
Vorstellung,
daß die "neuen Neger" Griechen auf
schwarzafrikanische Art werden,
daß sie sie selbst bleiben, ohne
sich den anderen Völkern und Kulturen zu verschließen.
In diesem
sinne erklärt Senghor Goethe zum Modell einer Negritude der
Öffnung. Senghor verweist zur Konkretisierung seines
Verständnisses des Klassikers Goethe auf Iphigenie auf Tauris und
Hermann und Dorothea.
Im Folgenden wird erörtert,
inwieweit diese
Werke Senghors Vorstellung entsprechen.
po.itiver Zu.tand: die freie Entfaltung au.gewogener Be.iehungen und
ausgeglichener Verhältnisse,
sowohl im Innern des e~nzelnen Menschen wie
zwischen den verachtedenen Menschen. Friede ist gleichbedeutend mit Ordnung und
Harmonie ( •.. )
Für den Schwarzafrikaner ist eB somit der Beruf des Menschen,
sowohl in
seinem Eigenleben als auch in seinem Zusammenleben mit den anderen Menschen das
Erbübel wieder gutzumachen, das aus der mit seinem Ursprung als Henachen
zusammenhängenden Verwirrung der Ordnung entstanden ist,
indem er nach dem
Beispiel und dem Vorbild Gottes d~e anfängliche Ordnung der Schöpfung neu
schafft,
eine Ordnur.g,
die Harmonie ist,
weil an ihr alle Elemente der Person,
der Gesellschaft
der Erde und des Weltalls im rechten Verhältnis teilhaben.
Die
l
Gesellschaft
lebt >im Frieden<, d.h.
in einem auf der rechten Fügung ruhenden
Einklang,
wenn alle Einzelpersonen und alle gesellschaftlichen und kulturellen
Gruppen ihren gerechten Anteil an ihr haben und ihre wahre Rolle in ihr spielen
können ( ... )
Unter den Elementen,
die eine Person,
eine Gesellschaft,
eine Welt
Konetttuieren,
darf kei~es zerstört werden oder auch nur brachliegen I
denn das
geistige Leben -
und das heißt die Kultur -
besteht wie das physische Leben eben
aus dem freien Spiel dieger Elemente und Kräfte,
die ihrem Wesen nach stets nach
Gleichgewicht,
Harmonie und Schönheit streben
in welcher das Leben des Geistes
l
seinen vollkommensten Ausdruck findet." L'Accord conciliant
(deutsche
Über.et.ung) op.cit., S.58f
ZZJ5K;;;;<j,iJiA.49kUtZi22 ,2 .. it.
::
&

r

287
4 .2
MODELLE KLASSISCHER REIFE
4.2.1
GLEICHGEWICHT ZWISCHEN HERZ UND VERNUNFT:"IPHIGENIE
,',
AUF TAURIS"
Für Senghor beruht die Weimarer Klassik im allgemeinen und
Goethes Klassizität im besonderen auf den mit der
schwarzafrikanischen Weisheit verwandten Werten des griechischen
Altertums.
So wirkt auf den ersten Blick überraschend, wenn er
I
I:
1949 die Iphigenie,
das "klassischste"
aller klassischen Werke
Goethes,
noch allein wegen ihres Stils rühmt,
der ja nur die
äußere Erscheinung jener Werte ist.
"Ce qu'il y a de grec ou de romain dans ces oeuvres nouvelles,
c'est moins les personnages et la mati~re plastique que le dessin
et le rythmei que le style, qui leur donne le s9~iu de la
n~cessit~, de l'~ternel. C'est IphigAnie( ... )"(
)
Es muß befremden, daß Senghor in der Situation des
Kolonisierten im Kampf um seine menschliche Würde in seinem ersten
Goethe-Essay in Iphigenie auf Tauris nur den klassischen Stil
wahrzunehmen scheint. vielleicht wollte er, der kein'Goethe-
Spezialist war,
sich nicht zu einer in der Fachwelt geltenden
Auffassung in Widerspruch setzen, gegen welche sich Theodor W.
Adorno 1967 folgendermaßen aussprach:
72l)"Griechisch oder römisch in seinen neuen Werken sind weniger die Gestalten
und die Plastizität des Stoffes als die Gestaltung und der Rhythmus;
also der
Stil, der ihnen das Gepräge des Notwendigen,
des Ewigen verleiht.
Das iet
Iphigenie( ... )" L.5.5enghor:
Le Hessage de Goethe ... op.cit., 5.86
~r~:'..r&ijibY4a'·i-··~)Ü
-äii::z. "aMi, ;.:.au s;; ;!O.
I . MhlS:U 2 n;a:aa;wa

r
I
288
!'
"Wider die geltende Auffassung und wider den unbedachten
Gebrauch des Wortes Form wäre der Goethesche Klassizismus aus dem
Inhalt abzuleiten.
Man pflegt diesen,
unter Berufung auf Goethes
eigene Worte und gleichzeitige Schillers, Humanität oder das
Humane zu nennen,
gemäß der unverkennbaren Intention,
die Achtung
vor menschlicher Freiheit,
vor der Selbstbestimmung eines
jeglichen Einzelnen Uber partikulare sitte ~2g nationale
Beschränktheit ins Allgemeine zu erheben." (
)
Es ist,
als habe Senghor diese Stellungnahme Adornos gekannt,
als er 1968 in seiner Rede anläßlich der Verleihung des
Friedenspreises des deutschen Buchhandels die Weimarer Klassik und
Goethes Klassizität eher durch ontologische Werte charakterisiert
sah. Auf diese Weise verdeutlichte er das,
was er schon 1949 mit
folgenden Worten meinte:
"si j'ai entendu son message,
il ne nous d6tourne pas tant des
sources jaillissantes du folklore,
de la r6alit6 contingente du
terroir qu'il ne nous met en garde contre les bulbutiements du
coeurs,
les paroies qui ne sont pas verbe."(723)
Nach ihrem Inhalt scheint Goethes Iphigenie-Dichtung eine
vollkommene Illustration dessen zu sein, was Senghor mit diesen
Worten meinte.
Das Drama ist mehr als was Hans Friederici darin sehen möchte,
mehr als die Illustration der gesellschaftlichen WidersprUche zu
Goethes Zeit. Auch wenn Goethe in der Periode,
da er dieses Drama
verfaßte,
als Bürger mit den Schikanen der Feudalordnung am
Weimarer Hof besonders zu tun hatte(724),
scheint es etwas
vereinfachend zu schreiben:
722JTheodor w. Adorno: ,Zum KlaBsczcBmuB von GoetheB Iphcgenie (1967). In: DerB:
Noten zur Literatur,
Frankfurt a.
Hain 1979
5.13. Hervorhebung von mir.
1
723)"wenn ich seine Botschaft verstanden habe,
lenkt sie uns nicht so sehr von
den Springquellen der Folklore,
von der kontingenten Wirklichkeit der Heimat ab,
als daß sie une vor dem Stammeln des Herzens,
vor den Wörtern warnt,
die nicht
Wort sind." Senghor: Le Message de Goethe . . . op.cit"
S.85
724)vgl. GoetheB Tagebuch:
die Auf.eichnungen vom l6.Januar,
l2.Februar und
9.Dezember 1778 über die Atmosphäre innerhalb des Geheimen Conciliums des
,
c,
~led't~jjba:L aiT:! q;g:;;:&LA ,!
2( XL c.cZ;:
aaJ .;;;41 JiU. . . . .- $

r
289
"Der zentrale Gegensatz Iphigenie/Thoas bildet schließlic9
nichts anders ab als den Widerspruch Bürgertum/Feudalismus."l 25)
Obwohl Iphigenie als Gefangene auf Tauris ist,
lebt sie dort nicht
mit dem status einer solchen.
Im Gegenteil: sie ist die Priesterin
der Göttin,
welcher Fremde wie sie zu opfern in diesem Land sitte
ist, und ohne ihre Abstammung zu kennen, will der König Thoas sie
zu seiner Gattin machen.
In dieser Gestalt ist mehr angelegt als
die Vertretung der bürgerlichen Klasse in ihrer Konfrontation mit
dem Adel. Und auf der anderen Seite sind Thoas' Haltung dieser
Gefangenen "dunkler Herkunft"
gegenüber,
und vor allem sein
Entschluß,
sie als seine Frau zu königlicher Würde zu erheben,
weit davon entfernt, den Normen der Feudalgesellschaft zu Goethes
Zeit zu entsprechen.
Der Konflikt zwischen Iphigenie und Thoas
spielt sich also jenseits von Klassengegensätzen ab.
Es handelt
sich zunächst um einen Konflikt indiYidueller Interessen. Und als
der sich zu einer Konfrontation zwischen Griechen und Tauriern
erweitert,
bestehen zwischen den handelnden Personen längst
keine
sozialen Schranken mehr( 726 ).
Der Konflikt in Goethes Iphigenie-
Herzogtume Sacheen-Weimar-Eisenach,
in das Goethe trotz seiner bügerlichen
Herkunft vom Herzog berufen wurde.
-siehe auch Goethes Briefe vom 17.
und 19.Mai 1779 an Frau von Stein, wo es
heißt.
"( . . . )ie größer die Welt desto gsrstiger die Farce und ich schwöre, keine
Zote und Eseley der Hanswurstiaden ist BO eckelhaft als das Wesen der Großen,
Mittleren und Kleinen durch einander."
-Schon sm 14.Hai 1779 hatte er ihr Folgendes geschrieben:
"Hit den Henschen hab
ich,
wie ich spüre weit weniger Verkehr als Bonst.
Ich scheine dem Ziele
dramatischen Wesens immer näher zu kommen,
da michs nun immer mehr angeht, wie
die Großen mit den Menschen,
und die Götter mit den Großen spielen."
725)Hans Friederici: Die Konflikte in Goethes "1phigenie" als J>.bbildungen
gesellschaftlicher Widersprüche.
In: Weimarer Beiträge,
Sonderheft über das
Kollo~"ium über Probleme der Goetheforachung vom 31.0kt. bis 4.Nov. 1960, 5.1058
726)schon im ersten J>.ufzug
(1,3)
erfährt Thoas,
daß 1phigenie aus einer
königlichen Familie stammt.
Bie zum fünften Aufzug weiß zwar keiner,
welcher
Herkunft Oreet und Pyladee sind; aber kurz vor dem Zusammenstoß zwischen Thoas
und Orest

(V,4 und 6) wird der König über die Abstammung seines Gegners
informiert
(V,3).
, ~
"
,,-,.', ."""
."'-
: Li. ! j
J2 .5..4 .. .$&
fiT ;:

-
I.
290
.

Dichtung ist nicht Ausdruck und Illustration sozialer Diskrepanzen
'
der Entstehungszeit des Dramas, er entsteht vielmehr aus der
Bindung der HeIdin an ihre Herkunft.
4.2.1.1
DIE SUCHE NACH INNEREM GLEICHGEWICHT
In ihrer Heimat dazu bestimmt, von ihrem eigenen Vater auf dem
Altar der Göttin Diane (Arthemis) geopfert zu werden, wird
Iphigenie von der Göttin selbst gerettet,
indem diese sie in eine
Wolke einwickelt und nach Tauris, ins Land der Skythen versetzt,
bei denen es sitte ist, ihr jeden Fremden zu opfern. Doch aufgrund
der seltsamen Umstände, unter denen sie auf Tauris ankommt, und
vor allem wegen der besonderen Zuneigung des dortigen Königs für
sie, wird sie nicht nur am Leben erhalten, sondern sie wird
Priesterin der Diane(V.97-105) i und es hängt nur von ihr selbst
ab, ob sie die Gattin des Königs wird. Grund genug, ihrer
göttlichen wohltäterin und ihrem Retter, dem König Thoas,
unendliche Dankbarkeit zu zollen. Stattdessen wird sie von
Sehnsucht nach ihrer Heimat verzehrt.
"So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
Ein hoher Wille dem ich mich ergebei
Doch immer bin iCh, wie im ersten, fremd.
Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten
Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend( ... ),,(727)
727IJ.w.coethe:
Iphtgenle auf Taurts.
In: Werke, Hamburger Ausgabe, München
1982/ Bd.5, V.7-12
r'~_~~lllll.IIilii••iii.iiiilllilljj-li1jD"'E2.eillll.".!lIIl_11I.=_goilSlJIi_.:11I:......""";'"'I""".:I!'C..LIilI...SlISi
_

29\\
sie setzt ihr Leben in der Fremde mit dem Tode gleich (V.52-53),
da es sich nur darauf beschränke,
frei zu atmen, während sie der
Ansicht ist:
"Frei atmen macht das Leben nicht allein."(728)
Natürlich übertreibt Iphigenie ihre Situation,
indem sie sie so
darstellt.
Über die priesterliche Funktion hinaus genießt sie bei
den Skythen hohes Ansehen, worauf Arkas sie mit Recht aufmerksam
macht:
"Du hast hier nichts getan seit deiner Ankunft?
Wer hat des Königs trüben Sinn erheitert?
Wer hat den alten grausaumen Gebrauch,
Daß am Altar Dianens jeder Fremde
Sein Leben blutend läßt, von Jahr zu Jahr
Mit sanfter Überredung aufgehalten,
Und die Gefangnen vom gewissen Tod
Ins Vaterland so oft zurück geschickt?
( ... )
Und fühlt nicht jeglicher ein besser Los
seitdem der König,
der uns weis und tapfer
So lang gefUhret,
nun sich auch der Milde
In deiner Gegenwart erfreut und uns
Des schweigenden Gehorsams Pflicht erleichtert"(729)
All dies ist sicherlich mehr als das bloße Atmen; solange es sich
aber in der Fremde abspielt, kann und will Iphigenie es nicht
anders empfinden.
Selbst der rettenden Göttin will sie sich erst
nach ihrer Befreiung aus dieser Gefangenschaft dankbar erweisen.
"0 wie beschämt gesteh ich daß ich dir
Mit stillem Widerwillen diene,
Göttin
Dir meiner Retterin! mein Leben sollte
Zu freiem Dienste dir gewidmet sein.,,(730)
728)Ebenda, V.106
729)Ebenda,
V.120-127/ 133-137
730)Ebenda, V.3S-38

\\
292
Iphigenies Bindung an ihre Heimat beraubt Thoas jeder Chance, sie
als Gattin zu gewinnen.
Im Gegensatz zu dem, was Arkas ihr
vorwirft(731) ,
ist Iphigenie voller Dankbarkeit gegenüber dem
König,
und diese würde sie ihm sicherlich durch ihre Einwilligung
in die Ehe erweisen können, wenn das nicht ihren endgUltigen
Verzicht auf die Heimat bedeutete. Als der König,
nachdem er
seinen einzigen Sohn verloren hat, noch einmal von ihr
zurückgewiesen wird,
stellt er aus Verdruß den inzwischen unter
dem Einfluß der jungen Priesterin suspendierten grausamen
Dianenkult der Skythen wieder her.
,
"So bleibe denn mein Wort: Sei Priesterin
Der Göttin wie sie dich erkoren hat,
Doch mir verzeih Diane daß ich ihr
i
Bisher mit Unrecht und mit innerm Vorwurf
I
Die alten Opfer vorenthalten habe.
Kein Fremder nahet glücklich unserrn Ufe,'
Von alters her ist ihm der Tod gewiß."( j2)
So verschärft sich der erste Gegensatz zwischen Iphigenies
Herzen, das sie an ihre Heimat bindet, und ihrer Vernunft, die ihr
die moralische Forderung stellt, dem König dankbar zu sein.
Zur
Dankbarkeitspflicht Thoas gegenüber fügt sich nun eine andere,
nämlich die, Menschenleben zu schonen, genauso wie ihr eigenes
Leben von der Göttin selbst einst gerettet wurde.
Dieser innere Konflikt erreicht seinen Gipfel, als sie
entdeCkt, daß es sich bei den ersten gefährdeten Fremden um ihren
eigenen Bruder Orest und dessen Freund pylades handelt, und daß
die beiden sich mit dem Auftrag auf Tauris befinden, das Bild der
73l)"wenn du dich so unglücklich nennen willst,
So darf ich dich auch wohl undankbar nennen." Ebenda, V.9l-92
732)Ebenda, V.504-5l0
I
~~tv-J.tAAtmB 2 ., ..... 7 -. r

293
Göttin Diane zu rauben und nach Griechenland mitzunehmen, damit
Orest von der Schuld des Muttermords befreit werde. Die moralische
Forderung nach Schonung unschuldiger Leben und die Bindung an ihre
Herkunft fließen nun zum Teil zusammen; denn es handelt sich
darum,
ihrem eigenen Bruder und dessen Freund das Leben zu retten
und dadurch die Befreiung ihrer Familie von dem bösen Fluch zu
ermöglichen, der seit Generationen auf ihr lastet.
Dazu fUhren
zwei Wege.
Der eine besteht darin,
daß sie sich doch entschließt,
Thoas zu heiraten, wie es ihr Arkas noch einmal rät:
"Ich sage dir,
es liegt in deiner Hand.
Des Königs aufgebrachter sinn allein
Bereitet diesen Fremden bittern TOd.,,(733)
Auf diese Weise würde sie nicht nur ihrem Bruder und dessen
Freund, sondern auch jedem Fremden auf Tauris das Leben retten;
sie würde damit auch die Armee und das ganze Volk der Skythen von
einer grausamen Sitte befreien:
"Das Heer entwöhnte längst vom harten Opfer
Und von dem blutgen Dienste sein Gemüt.
Ja mancher den ein widriges Geschick
An fremdes Ufer trug,
empfand es selbst
Wie göttergleich dem armen Irrenden,
Umhergetriebnen,
an der fremden Grenze,
Ein freundlich Menschenangesicht begegnet.
o wende nicht von uns was du vermagst!
Du endest leicht was du begonnen hast( ... )"(734)
Arkas weiß, wenn er das sagt,
noch nichts vom Vorhaben der beiden
Griechen, das Bild der Göttin nach Griechenland zu entfUhren.
Sollte Iphigenie Arkas' Rat folgen,
mUsste sie auch ihrem Bruder
und seinem Freund den Raub der Dianenstatue ermöglichen.
Und sie
733)Ebenda, V.1465-1467
734)Ebenda, V.146B-1476

294
wUrde dadurch nun nicht nur gegen ihr eigenes Herz handeln,
sondern auch das Vertrauen mißbrauchen, das der König Thoas in sie
gesetzt hat,
indem er sie zur Priesterin, d.h. auch zur HUterin
der Göttin ernannte.
Der andere Wege wäre, daß Iphigenie nach ihrem Herzen handelte,
indem sie auf Pylades hörte und mit ihm und ihrem Bruder samt
Dianenbild nach Griechenland flöhe. In beiden Fällen ist Iphigenie
dazu verurteilt, Thoas' Vertrauen zu mißbrauchen. Vor dieser
Situation erlebt sie einen scheinbar ausweglosen innerlichen
Widerstreit.
'~o legt die taube Not ein doppelt Laster
Mit ehrner Hand mir auf: das heilige,
Mir anvertraute viel verehrte Bild
Zu rauben und den Mann zu hintergehn
Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke. I ,(735)
Ganz zutreffend also schreibt pierre Grappin:
"Der tiefsinnige Begriff des Vertrauens gehört zu den
Schlüsseln einer Interpretation dieses Schauspiels( ... )Das Wort
Vertrauen begleite; ~nd erklärt ihre (Iphigeniens) Handlungs- und
Verhaltensweise."( 3 )
Es geht hier darum, eine moralische Forderung zu erfUllen, ohne
sein eigenes Herz zu unterdrücken. Hätte Iphigenie dieselbe
Einstellung wie Pylades, wäre sie innerlich nicht so zerrissen.
Sie hörte dann einfach auf ihr Herz und opferte ihre moralische
Integrität, um sich selbst,
ihrem Bruder und dessen Freund das
Leben zu retten, wie Pylades ihr anrät:
735)Ebenda, V.1707-1711
736)Pierre Grappin:
Die Idee der Entwicklung im Spiegel des Goetheschen
Schauspiels "lphigenie auf Tauris".
In: Goethe.
Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft
Nr.99
(1982),
5.35

295
"Den Bruder, dich und einen Freund zu retten
Ist nur e i n Weg, fragt sich's ob wir ihn gehn?,,(737)
Wenn Pylades so spricht, so deswegen, weil seine Moral darin
besteht, sieh stets aus der Verlegenheit zu ziehen, indem er je
nach den Umständen entweder die Forderung des Herzens oder die der
Vernunft opfert. Und so wirft er Iphigenie vor, nicht genauso wie
er handeln zu können:
"Man sieht du bist nicht an Verlust gewohnt
Da du dem großen Übel zu entgehen,
Ein falsches Wort nicht einmal opfern willst.,,(738)
Für Iphigenie aber gilt folgende Maxime:
"Ganz unbefleckt genießt sich nur das Herz.,,(739)
Hierzu schreibt Adelf Beck:
"Die 'Iphigenie' ist ein Seelendrama, weil eine Seele in dem
Versuch, gewisse äußere Schwierigkeiten zu beheben, in der
Notwendigkeit, dem Leben und seinen Forderungen gerecht zu werden,
ihr innerstes Besitztum, ihr tiefstes Wesen: siCh selbst gefährdet
sehen muß und nun um des~28 Rettung und Bewahrung, um die Treue zu
sich selbst( ... )ringt."!
)
Diese Treue zu sich selbst, die Geethe "reine Selbstigkeit"
nannte, nach A. Beck eine Synthese von Pietismus und
737)Iphigenie auf TauriB, V.1667-1668.
Sperrung im Original.
738 jEbenda, V.1674-l676
739)Ebenda, V.1652
740)Adolf Beck;
Der "Geist der Reinheit" und die "Idee des Reinen".
Deutsches
und Frühgriechisches in Goethes Humanitätsideal.
In:
Forschung und Deutung,
hrBg.
von Ulrich Fü,leborn,
Frankfurt a. Hain und Sonn 1966, S.97f
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296 \\
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pythagoreischer Lehre von Seelenhygiene(74l), ist von zentraler
Bedeutung für das, was Pet er Pfaff Goethes Versuch zu einer
Genealogie der Moral genannt hat(742). Den goethischen Begriff
einer "reinen Selbstigkeit", der nichts mit Egoismus oder
Egozentrismus zu tun hat, definiert Adolf Beck folgendermaßen:
"Der Ausdruck( ... )bezeichnet( ... )die schlackenlose, organische
Ausprägung der Individualität und das sichere Ruhen der
Persönlichkeit in sich selbst, den ausgeglichenen Zustand des
Menschen, der seiner 'geprägten Form', die lebend sich entwickelt,
gewiB ist, das Fremde von dieser Form ausscheidet oder ihr
unverwandelt und in allem G,4siebe des Lebens unverlierbar ein
Insichselbstsein bewahrt."(
)
Iphigenie kämpft eben, um ihr individuelles Selbst zu bewahren.
Das Beiwort 'individuell' muß hier unterstrichen werden, denn es
handelt sich um Iphigenie als Individuum und nicht um die
Griechin.
Um Iphigenie zu der gemeinsamen Flucht mit ihnen zu überreden,
stützt Pylades seine Argumentation auf die Verwandtschaft, das
gemeinsame Blut und die Freundschaft. Was er aber nicht weiB, ist,
daß für Iphigenie auch Thoas all dies bedeutet. Er ist für sie
jedenfalls mehr als ein bloBer Freund.
741 ,vq1 .A. Beck, op.cit., S.69ff
742)Peter Pfaff: Oie Stimme des Gewissens. Über Goethes Versuch zu einer
Genealogie der Moral. vor allem in der Iphigenie. In: Euphorion, Nr.72 (1978),
5.20-42
I 743jA. Beck, op.cit., S.70f
~•.
B!_ _..Do_Rii
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- - - - - - - - - -

297
4.2.1.2
NATIONALE BINDUNG UND DAS ZUSAMMENLEBEN DER VÖLKER
Pylades'
Einstellung zu Thoas ist zunächst die Haltung des
Griechen dem Barbaren gegenüber,
der weder Wert noch Rechte hat,
und dem gegenüber der Zivilisierte keine moralischen Pflichten
hat. Vielleicht hätte er Skrupel, das Bild der Göttin zu rauben,
wenn es hier nicht darum ginge,
es den Skythen,
"dem rauh
unwürdigen Volk"
(V.160J)
wegzunehmen. Als ob die Götter nur die
Griechen, die Zivilisierten,
beschützten,
hofft pylades auf die
Hilfe Apollons bei der Aktion gegen die Skythen.
"Die besten Zeichen sendet uns Apoll
Und eh wir die Bedingung fromm erfüllen,
Erfüllt er göttlich sein Versprechen sChon.,,(744)
Diese Verachtung der zivilisierten Griechen den unzivilisierten,
nicht-griechischen Völkern gegenüber wird von König Thoas noch
einmal mit folgenden Worten unterstrichen:
"Der Grieche wendet oft sein lUstern Auge
Den fernen Schätzen der Barbaren zu,
Dem goldnen Felle,
Pferden, schönen Töchtern."(745)
Natürlich kann Thoas als König die geplante Missetat gegen sein
Volk und sein Reich nicht tatenlos hinnehmen.
"( ... )Friede seh ich nicht.
Sie sind gekommen,
du bekennest selbst,
Das heilge Bild der Göttin mir zu rauben
Glaubt ihr,
ich sehe dies gelassen an?,,("46)
744)Iphigenie auf Taurie,
V.1604-160S
74S)Ebenda,
V.2102-2104
746)Ebenda, V.2098-2101

298
Er beruhigt sich erst, als Orest, nachdem er sich des
unvermeidlichen Blutbades bewußt wird, auf das Bild der Göttin
verzichtet, indem er das Orakel folgendermaßen neu interpretiert:
"Das Bild 0 König soll uns nicht entzweien I
( ... )
Um Rat und um Befreiung bat ich ihn
Von dem Geleit der Furien, er sprach:
"Bringst du die Schwester die an Tauris' Ufer
Im Heiligtume wider willen bleibt,
Nach Griechenland; so löset sich der Fluch."
Wir legten's von Apoliens schwes1~~ aus
Und er gedachte d i c h ! ( ... )"(
)
Im Gegensatz zu Hans-Georg Werners Auffassung, der hier einen
etwas groben Kunstgriff sieht, wodurch Goethe eine Antinomie in
der Humanitätskonzeption seiner Iphigenie-Dichtung habe aufheben
wollen(74B), ist orests Reaktion einfach die Wahrnehmung seiner
menschlichen Pflicht auf Iphigenies Anregung. Nicht zufällig
beendet er seine Rede,
indem er eines der wichtigsten Argumente
Iphigenies mit anderen Worten wiederholt:
"Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm,
Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele
Beschämt und reines kindliches vertr~u~n
Zu einern edeln Manne wird belohnt."( 4 )
Diese Worte Orests formulieren die Bedingungen eines friedlichen
Zusammenlebens unter den Menschen und Völkern. Sie fordern dazu
auf, auf Gewalt und List zu verzichten und die menschlichen
747)Ebenda, V.2l07;
2111-2117. Sperrung im Original.
748) "Die Menechlichkeit dee einzelr.en vermag fundamentale Intereeeer.konflikte
geeellechaftlichen Charaktere nicht aufzuheben.
Darüber hilft eich Goethe durch
einen Kunetgriff,
durch e,nen genialen Einfall.
Völlig unvermittelt erklärt
Orest und durchhaut eomit den gordischen Knoten der Verwicklun9(.")~ Hans-Georg
Werner: Antinomien der HumanitätsKonzeptLon

in Goethes "Iphigenie".
In:
Weimarer
Beiträge,
14.
Jg.,
2.Heft 1968,
5.379
749)Iphigenie auf Taurie, V.2l42-2l45
a J

Eil.

299
Beziehungen auf Wahrheit und Vertrauen zueinander zu gründen.
Gleichzeitig aber identifizieren sie als Urheber aller Übel in den
Verhältnissen der Menschen zueinander die Männer ..
4.2.1.3
DIE FRAU ALS TRÄGERIN DES HUMANITÄTSIDEALS
Im ganzen Werk werden Vergleiche zwischen Mann und Frau
angestellt. Gleich am Anfang klagt Iphigenie über "der Frauen
Zustand", der sich im Vergleich zu dem des Mannes ohne Macht und
Ruhm zu Hause "eng gebunden" verzehre.
"Der Fr~uen Zustand ist beklagenswert.
Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann
Und in der Fremde weiß er sich zu helfen.
Ihn freuet der Besitz, ihn krönt der sieg,
Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet.
Wie eng gebunden ist des Weibes Glück!,,(750)
So geschildert scheint das weibliche Los tatsächlich sehr
beklagenswert. Aber was ist die Frau in Wirklichkeit, also in den
Augen der Männer? Zuerst ein Wesen, dem sich die Männer überlegen
fühlen, weil es angeblich seinen Trieben folgt. So meint Thoas,
Iphigenie vorhalten zu dürfen:
"( ... )Tu was dein Herz dich heißt!
Und höre nicht die stimme guten Rats
Und der Vernunft. Sei ganz ein Weib und gib
Dich hin dem Triebe der dich zügellos
Ergreift und dahin oder dorthin reißt.,,(751)
750jEbenda, V.24-29
751)Ebenda, V.463-467

. ,r,c
300
Pylades,
ein anderer Mann,
unterstreicht eher die VorzUge des
von ihm der Frau zugeschriebenen Naturells.
"Wohl uns daß es ein Weib istt denn ein Mann,
Der beste selbst, gewöhnet seinen Geist
An Grausamkeit und macht sich auch zuletzt
Aus dem was er verabscheut ein Gesetz,
Wird aus Gewohnheit hart und fast unkenntlich.
Allein ein Weib bleibt stet auf einem Sinn,
Den sie gefaßt.
Du rechnest sicherer
Auf sie im Guten wie im BöSen( ... ),,(752)
Beständigkeit scheint jedoch nicht der weiblichen Natur allein
anzugehören.
Es gibt Situationen,
in denen der Mann die Frau an
Beständigkeit überbietet.
Etwa wenn er, wie Iphigenie Pylades
vorwirft,
eine kühne Tat vorhat.
"0 trüg ich doch ein männlich Herz
in mir
Das, wenn es einen kühnen Vorsatz hegt,
Vor jeder andern stimme sich verschließt.,,(753)
Während es sich aber beim Mann eher um Starrsinn,
Besessensein
durch einen Vorsatz handelt,
erweist sich die Frau eher ihrem
eigenen Charakter,
sich selbst treu. Während der Mann von einem
Projekt mitgerissen wird,
bleibt die Frau an ihren Charakter
gebunden.
Somit kann sie sich nicht, wie der Mann,
an die Bosheit
gewöhnen (V.786-790), wenn sie nicht schon so veranlagt ist. Sie
ist das geeignetste Wesen, um die Eigenschaft aufzuweisen, die
Goethe "reine Selbstigkeit"
nannte.
Dies bestätigt sich besonders durch die Entwicklung Thoas',
des
guten Barbarenkönigs.
Er ist in der Tat der Stifter eines
Vertrauensverhältnisses zwischen den Griechen, den zivilisierten,
752)Ebenda, V.785-793
753)Ebenda, V.1577-1579
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2&

301
und den Skythen, den Barbaren. Er war es, der,
im Widerspruch zu
dem alten Brauch, Iphigenie menschlich aUfgenommen,
ihr väterliche
Liebe entgegengebracht und sie in die Funktion der Priesterin der
Göttin eingesetzt hat, welcher sie herkömmlicherweise gleich nach
ihrer Ankunft hätte geopfert werden sollen. Es hat sich aber
erwiesen, daß er all dies mit der Absicht getan hatte, sie später
zur Frau zu nehmen. Als er merkt, daß er dies nicht erreichen
kann, entschließt er sich, den alten grausamen Brauch wieder in
Geltung zu setzen. Aber bei dieser Entscheidung bleibt es nicht.
Als Iphigenie,
indem sie ihm die ganze Wahrheit entdeckt, wie ihr
Bruder Orest und dessen Freund pylades den Raub des Dianenbildes
planten und sie mit ihnen nach Griechenland fliehen sollte,
ihr
eigenes Leben und das der anderen in seine Hände legt und ihn
damit moralisch aufs äußerste herausfordert (754) , reagiert er
zunächst mit Sarkasmus:
"( ... )Du glaubst es höre
Der rohe Skythe, der Barbar die stimme
Der Wahrheit und der Menschl~5~keit die Atreus
Der Grieche nicht vernahm."(
)
Aber dann zeigt sich, daß der Barbar zu etwas fähig ist, was auch
im zivilisierten Griechenland nicht jeder kann. Thoas erweist sich
als einer derjenigen, die unter jedem Himmel der stimme der
Wahrheit und der Menschlichkeit Gehör zu schenken wissen, und die
Iphigenie mit den Versen feiert:
"( ... )Es hört sie jeder
Geboren unter jedem Himmel, dem
754)"Una baida hab ich nun die Uberbliebnen
Von Tantala Haua in deine Hand gelegt,
Verdirb una wenn du darfat."
Ebenda, V.1934-l936
755)Ebanda, V.1937-l940
f,

\\
302
Des Lebens Quelle durch den B~5~n rein
Und ungehindert fließt( ... )"(
)
Bei einem Gespräch mit Eckermann über Antigone von Sophokles
erklärt Goethe die Entstehung der Moral wie folgt:
" Es ist kein Produkt menschlich~r Reflexion, sondern es ist
angeschaffene und angeborene schöne Natur.
Es ist mehr oder
weniger den Menschen im allgemeinen angeschaffen,
im hohen Grade
aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemütern.
Diese haben
durch große Taten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbart,
welches sodann durch die Schönheit sein~r Erscheinung die Liebe
der Menschen ergriff und zur Verehrung und Nacheiferung gewaltig
fortzog.
Der Wert des Sittlich-Schönen und Guten aber konnte durch
Erfahrung und Weisheit zum Bewußtsein gelangen,
indern das
Schlechte sich in seinen Folgen als solches erwies,
welches das
Glück des Einzelnen wie des Ganzen zerstörte, dagegen das Edle und
Rechte als ein solches, welches das besondere und allgemeine Glück
herbeiführte und befestigte.
So konnte das sittlich-Schöne zur
Lehre werden und sich als ein Ausgesprochenes über ganze
Völkerschaften verbreiten."(757)
Iphigenie und Thoas gehören zu jenen einzelnen für das sittlich-
Schöne "ganz vorzüglich begabten Gemütern". Aufgrund des
Geschlechtsunterschieds aber drückt sich diese Gabe im Werk
unterschiedlich aus. Wegen seiner männlichen Natur kann Thoas
seinem Charakter nicht beständig treu sein, während Iphigenie, die
Frau,
dazu sehr wohl in der Lage ist. Daher erscheint die
Titelfigur des Dramas auch als einzige Trägerin des in ihm
verherrlichten Humanitätsideals. Goethe verherrlicht in Iphigenie
die weibliche Natur,
das "ewig Weibliche",
wie es im Faust heißt,
als allein geeignet,
das Sittlich-Schöne ohne Schwäche zu
verkörpern. Aber es muß die Veranlagung dazu bestehen, d.h., die
756)Ebenda, V.1939-1942
757)JOhann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, op.cit., 5.528, Gespräch vom
l.l\\pril 1927

)0)
Natur oder Gott muß es zuerst so gewollt haben, wie dies der oben
zitierten Aussage Goethes zu entnehmen ist.
I 4.2.1.4 HUMANITÄT, EINE GÖTTLICH-MENSCHLICHE PFLICHT
Das Sittlich-Schöne als göttliche oder natürliche Gabe im
Menschen,
nach Goethescher Auffassung der Moral,
ist der
eigentliche Gehalt von Goethes Iphigenie auf Tauris, was der Autor
durch einen offensichtlichen Einklang zwischen moralischer Pflicht
und göttlichem Willen im Drama veranschaulicht.
Diese Auffassung
des Verhältnisses zwischen Mensch und Göttern oder zwischen
Mensch und Natur ist dem so nahe, was Senghor zum Nachweis der
Analogie zwischen der Weimarer Klassik und der Negritude als
ontologische Aufgabe des Schwarzafrikaners darstellt(758), daß ihm
Goethes Iphigenie-Dichtung als klassisches Werk über ihren stil
hinaus von Bedeutung gewesen sein muß.
Verschiedene Interpretationen haben dieses Werk als das Drama
der Autonomie erscheinen lassen wollen,
indem sie die
Selbständigkeit,
ja gar eine Revolte der handelnden Personen,
insbesondere der Iphigenie und ihres Bruders Orest, den Göttern
gegenüber nachzuweisen suchen(759).
758)"Für den Schwarzafrikaner ist es somit der Beruf des Menschen,
( ... ) das
ErbUbel wieder gutzumachen,
( 0 " )
indem er nach dem Beispiel und dem Vorbild
Gottes die anfängliche Ordnung der Schöpfung neu schafft,
eine Ordnung,
die
Harmonie ist
( ... )" L.S.Senghor: L'Accord conciliant
(deutsche Ubersetzung) op.
cit.,
5.58
759)Vgl. dazu u.a.
besonders Wol!dietrich Rasch. Goethes "Iphigenie auf Tauris"
als Drama der ~utonomie. München 1979
-Dieter Borchmeyer: Die Weimarer Klassik, Königstein 1980,
1.Bd,
S.113ff
-Wolfgang Wittkowski:
"Bei Ehren bleiben die Orakel und gerettet sind die
Götter"? GoetheB "Iphigenie":
Autonome Humanität und Autorität der Religion im
Al.
,a tu.:

304
Die Existenz der Götter und ihre Macht über die Menschen machen
den Hintergrund dieses Dramas aus. Sicher hat sich Goethe von der
Fabel der griechischen Mythologie in der AUffassung seines Werkes
einigermaßen distanziert, was Hans-Georg Werner ganz zutreffend
zeigt(760); er hat aber deren Hauptthema nicht aufgehoben: der
Mensch der Macht der Götter gegenüber.
Um die völlige Autonomie Iphigenies den Göttern gegenüber
behaupten zu können, muß zuerst angenommen werden, daß die Göttin
Diane,
indem sie dieses Mädchen auf Tauris,
in jenes Land
versetzte, wo es sitte war,
jeden Fremden unweigerlich zu opfern,
sie eigentlich nicht retten,
sondern ihren Tod nur verzögern
I wollte(761).
Allein der Autor folgt hier durchaus der mythologischen Fabel,
indem er Iphigenies Versetzung auf Tauris als eine Etappe ihres
I
Rettungsprozesses darstellt.
Daß seine Iphigenie schon als Kind
II
dem König des Landes der Skythen gefällt,
läßt auf eine
Intervention der Götter schließen.
Zwar erweckt Iphigenie, aufgrund ihrer großen Sehnsucht nach
ihrer Heimat,
den Eindruck,
ihrer göttlichen Retterin Diane mit
Undank zu begegnen (V.35-53). Aber andererseits erhofft sie die
Befreiung aus ihrem Exil allein von dieser Göttin.
"Auch hab ich stets auf dich gehofft und hoffe
Noch jetzt auf dich Diana, die du mich
( ... )
In deinen heilgen,
sanften Arm genommen.
( ... )
aufgeklärten Absolut'smus.
In, Gosthe. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Nr.10l
(1984),
5.250-268
760)HanS-Georq Werner,
op.c't.,
5.368f
761)vql. dazu Wolfd,etrich Rasch, op.c't.,
5.127
...
=214,1.112. k _2M!

305
So gib auch mich den Meinen endlich wieder,
Und rette mich die du vorn Tod errettet,
Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode."(762)
Von Diane erfleht Iphigenie auch Hilfe
(V.538-560), als Thoas, von
seinem Mißerfolg bei ihr überzeugt,
aus Verdruß das alte
Menschenopfer wieder herstellt,
und sie als Priesterin von nun an
sich dazu genötigt sieht,
solche grausamen Opfer zu vollziehen.
"0 enthalte vom Blut meine Hände!,,(763)
Vor dem demoralisierenden Wahnsinn ihres Bruders Orest findet
Iphigenie nirgends Hilfe als in folgendem Gebet an Diane:
"Du liebst Diane deinen holden Bruder
Vor allem was dir Erd und Himmel bietet,
Und wendest dein jungfräunlich Angesicht
Nach seinem ewgen Lichte sehnend still.
o laß den einzgen spätgefundnen mir
Nicht in der Finternis des Wahnsinns rasen!
Und ist dein Wille da du hier mich bargst,
Nunmehr vollendet, willst du mir durch ihn
Und ihm durch mich die seige Hülfe geben;
So lös ihn von den Banden jenes Fluchs
Daß nicht die teure zeit der Rettung schwinde.,,(764)
Ebenfalls von den Göttern erfleht Iphigenie Hilfe,
als sie sich
vor dem scheinbar unlösbaren Dilemma befindet,
ihre Wünsche durch
einen Treubruch zu realisieren.
"( ... )Rettet mich
Und rettet euer Bild in meiner Seele"(765)
762)Iphigenie auf Tauris, V.39-401 42/
51-53
763)Ebenda, V.549
764)Ebenda, v.1321-1331
765)Ebenda, V.1716-1717

306
Fast dasselbe Gebet wiederholt sie, bevor sie gegenüber Thoas die
für sie selbst und die Ihrigen höchst gefährliche Offenbarung der
Pläne ihres Bruders wagt.
"Allein euch leg ich's auf die Kniee! Wenn
Ihr wahrhaft seid wie ihr gepriesen werdet;
So zeigt's durch euern Beistan9 gnd verherrlicht
Durch mich die Wahrheit ( ... ) "( 6 )
Weit davon entfernt, ein ultimatum von Iphigenie an die Götter zu
sein, wie einige Interpreten in Anlehnung an W. Rasch(767) meinen,
ist dieses Gebet ein wahres Glaubensbekenntnis.
Iphigenie kämpft
nämlich für ein Ideal: das Vertrauen unter den Menschen auf der
Basis von Gerechtigkeit und Wahrheit. Wenn die Götter sie retten,
verhelfen sie diesen Tugenden, durch welche der Mensch sich von
ihnen ein Bild macht und durch deren Pflege Iphigenie ihnen zu
dienen glaubt,
zum Triumph.
Denn durch das Glück, das daraus
entstehen würde,
würden die Götter dazu beigetragen haben,
aus
diesen Tugenden leitende moralische Maximen zu machen. Man erkennt
hier den Entstehungsprozeß der Moral, wie ihn Goethe bei jenem
oben zitierten Gespräch mit Eckermann darstellte.
So stellte sich
Goethe,
nach dem Autor von Nathan der Weise (1779)
und dem von
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
(1793), die
Entstehung von Gottes Reich auf Erden vor(768),
ohne jedoch
766)Ebenda, V.19l6-l9l9
767)"Oas sind nicht Worte des Vertrauens - wie gemeinhin interpretiert -,
sondern das ist ein Hilfe88chrei und zugleich ein Ultimatum:
nur wenn die Götter
Rettung ermöglichen,
sind aie eB wert, alB Götter verehrt zu werden~. Hans-Georg
Werner,
op.cit.,
5.378
768)"Man kann aber mit 9rund eagen:~daß das Reich Gottes zu uns gekommen sei~,
wenn auch nur das Prinzip des allmählichen Oberganges des Kirchenglaubens zur
allgemeinen Vernunftreligion,
und so zu einem (göttlichen) ethischen staat auf
Erden,
allgemein,
und irgendwo auch öffentlich Wurzel ge faßt hat:
obgleich die
wirkliche Errichtung desselben noch in unendlicher Weite entfernt liegt."
Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
(1793),
reprint Stuttgart 1981,
5.161

)07
daraus, wie die AUfklärer Lessing und Kant,
das alleinige
Verdienst der Vernunft zu machen.
In diesem Gebet besteht der
ganze Unterschied zwischen Iphigenie und den anderen Griechen des
Werkes in deren Verhältnis zu den Göttern.
Die einzige Hauptgestalt des Werks, deren Verhalten unabhängig
von dem Willen der Götter zu sein scheint,
ist der König Thoas.
Aus persönlicher Zuneigung zu Iphigenie schafft er das
Menschenopfer an Diane ab.
Aus persönlichem Verdruß stellt er es
wieder her. Dennoch ist er auf dem moralischen Gebiet das
männliche Gegenstück von Iphigenie, welcher er nur wegen seines
männlichen Naturells nicht ganz gleichen kann. Die Tatsache, daß
er trotz seiner Autonomie den Göttern gegenüber durch seine bloße
sittliche Haltung sich in den Rettungsprozeß so gut integriert,
ist Beweis dafür,
daß das Humanitätsideal in den Grenzen der
bloßen Vernunft der Absicht der Götter völlig entspricht.
Selten sind in der Tat Gebete so erhört worden wie die der
goethischen Iphigenie.
Durch das Gebet vermeidet sie,
ihre Hände
mit menschlichem Blut zu besudeln, erlangt sie die Heilung ihres
Bruders,
faßt sie Mut,
sich für Redlichkeit dem König gegenüber zu
entscheiden; durch Gebet ist sie nicht gefährdet,
als sie dem
König die ganze Verschwörung offenbart; durch Gebet erhält sie die
Erlaubnis, mit ihrem Bruder und dessen Freund das Land der Skythen
unversehrt zu verlassen.
Selten hat auch das sittlich-Schöne
soviel Erfolg gehabt wie in Goethes Iphigenie-Dichtung. Das Werk,
wie auch Hans-Georg Werner hat anerkennen müssen(769) ,
verherrlicht ein Ideal: die Verbrüderung aller Menschen und Völker
der Welt.
Dieses Ideal, wie Goethe selbst bei jenem oben zitierten
769)HanS-Georq Werner,
op.cit.,
5.382
~.~....'fA0Ir.• ·S.&
...QJ,fh ......

)08
Gespräch mit Eckermann andeutete,
ist nicht das Werk der Menschen
allein.
Es ist eine den Menschen von Gott selbst auferlegte
Pflicht. Man kann mit Werner Keller sagen:
"Iphigenie fordert,
was die AUfklärung erwartete: eine
prästabilie,;Ö Übereinstimmung der Götter mit dem sittlichen im
Menschen. 11 (
)
Und die Verbindung zwischen dem göttlichen Willen und dem Prinzip
des Guten im Menschen erfolgt hier durch den Eros in seiner sowohl
platonischen als auch nachplatonischen Auffassung,
nach welcher
Goethe ihn am Ende der klassischen Walpurgisnacht in Faust 11
beschwört(771). Nichts wäre in der Tat hier möglich ohne jene
spontane Zuneigung Thoas'
für Iphigenie,
sobald sie auf Tauris
versetzt wurde,
da sie noch ein Kind war. Durch diese Zuneigung
ist jenes Vertrauen zwischen ihr und Thoas entstanden, das
Iphigenie nicht hat mißbrauchen wollen,
das sie durch die Pflege
ihrer eigenen reinen Selbstigkeit und ihre sittliche Integrität
gestärkt hat,
so daß sie alle damit hat anstecken können. Goethes
Iphigenie-Dichtung ist die Dramatisierung seines Gedichtes Das
Göttliche
(1783),
in dessen letzter Strophe es lautet:
"Der edle Mensch
sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff' er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein vorbild
Jener geahneten Wesenl 1l (772)
770)Werner Keller: Das Drama Goethes.
In: Handbuch des deutschen Dramas, hrsg.
von Walter Hinck, Düsseldorf 1980, s.140
771)"SO herrsche denn Eros, der alles begonnenl" J.W.Goether Faust. Der Tragödie
zweiter Teil, V.8479
772)J.W.Goethe: Das Göttliche. In: Goethes Werke, München 1982, 1.Bd. S.149
. ~ _

3.
a 14!$

309
Über den stil hinaus stellt Iphigenie auf Tauris alles
vollkommen dar, was senghor sich unter Goethes Klassizität
vorstellt, und zwar:
"equilibre parf9~J entre deux valeurs complementaires, le
coeur et la t e t e . " ( )
.
Iphigenies Herz hat ihre Vernunft, ihre sittlichkeit nicht
unterdrückt, indem sie das Vertrauen des Königs Thoas, ihres
Wohltäters, nicht mißbraucht hat. Verzichtet hat sie auch nicht
auf die Forderung ihres Herzens, auf die Rückkehr nach
Griechenland. Sie hat im sinne des Ausgleiches dieser beiden
Forderungen gehandelt. Dabei hat sie auch die Erfüllung des
Wunsches vorweggenommen, der der Öffnung der Negritude senghors
nach dem Zweiten weltkrieg zugrunde lag: sie hat die Begegnung der
Griechen, der "zivilisierten Völker", mit den anderen, den
"Barbaren", den "Wilden", vollzogen, und sie hat sie eben dort
vollzogen, wo Senghor Goethe begegnet zu sein meint:
"( ... )sur les bordS de la Mer mediane, nombril du monde.,,(774)
Goethes Iphigenie auf Tauris verherrlicht eine menschliche
Haltung, die, nach der von senghor postulierten
schwarzafrikanischen Ontologie, die AUfgabe des Menschen in der
welt ist, und die in Goethescher Sicht den Menschen den Göttern
gleichmacht.
773) "vollkommener Ausgleich zwischen zwei kornplement~ren Werten, dem Herzen und
dem Kopf." L.5.5enghor; Le Message de Goethe ... op.cit., 5.86
774)"( ..• ) an der Küste des Mittelmeeres, Nabel der Welt." L.5.5enghor: Le
Message de Goethe ... , op.cit., 5.86
&
JM
aaS1

In diesem Sinne kann Goethes Iphigenie-Dichtung dieselbe
Vorbildlichkeit zugeschrieben werden,
die Senghor Hermann und
Dorothea
(1796)
in bezug auf die künftige schwarzafrikanische
Literatur verlieh.
4 • 2 • 2
DAS MODELL EINER KÜNFTIGEN SCtlWARZAFRIKANISCHEN LITERATUR:
"HERMANN UND DOROTHEA"
Als Senghor in seinem Goethe-Essay von 1949 die Rolle entwirft,
die nach seiner Vorstellung eine schwarzafrikanische Literatur
spielen werde,
da sieht er diese in einer künftigen Weltliteratur
als "Schwester"
von Hermann und Dorothea.
In dieser Metapher
drückt sich die besondere Nähe aus, die Senghor zu diesem
goethischen Epos empfand sowie zu Goethes Konzept der
Weltliteratur.
"C'est ainsi que( ... )notre voix la plus incarnee, que nos
oeuvres les plus negres seront,
en meme temps,
les plus humaines,
qu'elles seront ,95urs d'Hermann et Dorothee dans la
weltliteratur."(
)
775)"50 wird( . . . )unsere persönlichste Stimme,
so werden unsere authentischsten
Werke zugleich die menschlichsten sein,
in der Weltliteratur mit Hermann und
Dorothea ver8chwi8tert.~ L.S.Senghor: La Message da Goethe aux N~gre8 nouveaux,
op.cit., 5.86
::2.2Wf1!fii&keAif.,.
t.t3!lLJ .. Ll#§ISLIJ.Ul Ja
..

311
4.2.2.1
GOETHES BEGRIFF "WELTLITERATUR" UND SENGHORS
"CIVILISATION DE L'UNIVERSEL"
Der Begriff Weltliteratur ist 1827 von Goethe geprägt worden.
Ohne eine präzise Definition zu geben, deutet er durch seine
Aussagen an,
daß künftig von jedem Autor gefordert werde,
sich dem
kulturellen Leben anderer Nationen zu öffnen, damit er daraus
lerne, wie umgekehrt Autoren anderer Nationen auch von seiner
Produktion bereichert würden.
"Hierbei läßt sich( ... )die Bemerkung machen, daß dasjenige,
was ich Weltliteratur nenne,
dadurch vorzüglich entstehen wird,
wenn die Differenzen, die innerhalb der einen Nation obwalt79
durch Ansicht und Urteil der übrigen ausgeglichen werden." (
6)
Um zu vermeiden,
daß man hierin den Wunsch nach einer uniformen
und universell angeglichenen Kultur sieht,
verdeutlicht Goethe
später in Ober Kunst und Altertum:
"( ... )nur wiederholen wir, daß nicht die Rede sein könne, die
Nationen sollen überein denken,
sondern sie sollen nur einander
gewahr werden,
sich begreifen und, wenn sie sich wechselseitig
nicht lieben mögen,
sich einander wenigstens dulden lernen.,,(777)
Goethe meint hier offensichtlich das, was Senghor etwas mehr als
ein Jahrhundert später in Anlehnung an pierre Teilhard de
chardin(778)
civilisation de l'Universel, Weltkultur, nennen
776)Johann Wolfgang Goethe:
Brief vom 12.0ktober 1827 an seinen Freund
BoiBBer6B.
In: GoetheB Werke, HA,
Bd.X!!, 5.362
777)J.W.Goethe. Über KunBt und bltertum,
Bd.1,
zweiteB Heft, 1828. In, GoetheB
werke,
HA,
Bd.12,
5.363
778)"Oepuis 1a deuxi~me Guerre mondiale, tous lee continents, touteB lee races,
toutes les nations, mieux:

toutea les civilisations,
noua 80mmes, nolentes,
valentes, engages,
sans retour,
dans 1e procesBus da totalisation et da
Bocialisation humaines.
pierre Teilhard da Chardin l'avait pressenti,
däjA,
" ' .
. "

_
~;>'" ~ ~L ... ,roJ." ' ••••~..... "'C. '~. -'
' . .
. '
~~.
. . . . . . . . '

. '
. -


312
sollte, eben jenes Projekt einer kulturellen Öffnung, in dem die
Menschen Angehörige einer bestimmten KUltur bleiben, sich aber von
den kulturellen Eigenheiten anderer Völker bereichern lassen, als
ein projekt,
in dem sie Freude und Respekt vor der Vielfalt der
menschlichen Natur empfinden, welche sie dann sowohl in der
individualisierten form, die sie in ihrer eigenen Kultur erleben,
als auch in ihren verschiedenen Ausprägungen bei anderen Völkern
zu verteidigen bereit sind. Die Weltliteratur war für Goethe ein
weg zu dem, was heute zutage Dialog der Kulturen oder
Interkulturalität genannt wird.
seit seinem 1937 in Dakar gehaltenen vortrag über Le Probleme
culturel en A.O.F. hat Senghor ständig gefordert, daß
Schwarzafrika sich an jenem Dialog beteilige. Schon zu dieser zeit
hatte er keine Einwände gegen die in den Kolonien betriebene
Assimilationspolitik Frankreichs(779), nur durfte die Kultur der
kolonisierten Völker dadurch nicht zugunsten der französischen
unterdrückt und zum Verschwinden gezwungen werden. Er war bereit,
sich zu assimilieren, wollte aber nicht angeglichen werden(780).
Nachdem er nach dem zweiten Weltkrieg auf die aggressiven Aspekte
entre leB deux guerreB( ... )"
(Seit dem zweiten Weltkrieg Bind wir -
alle
Kontinente,
alle Rassen und alle Völker - nolentes-valentes, ob wir wollen oder
nicht,
und ohne die Möglichkeit einer Umkehr in den Prozeß der TotaliBierung und
Sozialisierung der Menschheit hineingeraten.
Schon in der Zeit zwischen den
beiden Weltkriegen hat dieB Pierre Teilhard de Chardin Yorausgefühlt ... )
L.S.Senghor:
L'Accord conciliant, op,cit.,
Französisch. 5.42,
Dt. 5.57
779)"51 nQUS voulons aurvivre,
1a n'cesaitA d'UDe adaptation De peut neus
~chapper: d'une assimilation.
Notre milieu n'est plus ouest-africain,
11 est
aU8si fransais,
11 est international; pour tout dire, 11 est afro-francals."
(Wenn wer überleben wollen,
können wir die Notwendigkeit einer Adaptation nicht
übersehen: die Notwendigkeit e~ner Assimilation. Unser Milieu ist nicht mehr nur
west-afrikanisch,
es ist auch französisch,
ist international} alles in allem, es
ist afro-französiBch. I L.S.Senghor: Le probl~me culture1 an A.O.F.
In:
LLbert6
1.
Ed.
du Seuil,
PariB 1964,
S.14
780)Vg1.dazu L.S.Senghor: VueB sur l'Afrigue Noire ou assemiler,
non ~tre
assimiles
(1945).
In: Liberte 1/ op.cit,
S.39ff
S1LJ .Pi
wau
3'1iii- -

313
der N~gritude verzichtet hatte, hielt er doch unverändert an
seiner Grundthese fest:
Als Trägerin einer bestimmten Spielart der
Humanität ist Schwarzafrika dazu verpflichtet, diese zu vertreten.
Das geschieht nicht auf Kosten der Gattung,
sondern zu deren
Vorteil, wenn Schwarzafrika die ihm eigene Sprache spricht, sich
dabei aber von anderen Kulturen befruchten läßt.
Der im Dezember
1977 in Abidjan gehaltene Vortrag über das Thema Pourguoi une
ideologie n~gro-africaine(781) läßt Senghors Vorstellungen in
diesem Punkt hervortreten.
Am Beispiel des Marxismus zeigt er, wie
dieser jeweils den kulturellen Realitäten der verschiedenen Völker
angepasst worden sei, die sie übernommen haben.
"Llnine a refus~ le modAle allemand pour cr~er un modAle
russe. Mao a refuse le modAle russe pour cr~er un modAle chino~g
Et nous,
serions-nous les seuls a imiter au lieu d'inventer?"(
2)
Die Erfindung der schwarzen Völker wird darin bestehen, meint er,
die Beiträge der fremden Kulturen an ihre eigenen anzupassen. Sie
sollten so verfahren, wie Mao Tse-Tung den Chinesen riet:
"La Chine doit s'assimiler en grand la culture progressiste
des Etats ~trangers, en tant que matiAre premiAre de
l'enrichissement de sa propre culture( ... ) Toutefois,
il faut
traiter tout ce qui est etranger comme en use avec des aliments,
qui sont d'abord mach~s dans la bouche,
tranformes ensuite dans
l'estomac et l'intestin,
impregnls de salive,
de suc gastrique et
de sucs intestinaux,
et divises ensuite en dlchets, qui sont
elimines, et en substances nutritives,
qui sont assimills; c'est
a ce moment-la seulement que les aliments deviennent utiles a
l'organisme.
Oe mime,
nous ne devons pas ~~31er, sans
discernement, tout ce qui est etranger."(
)
781 1In : Lcbert6 3, Ed. du 5eui1, Paris 1977, 5.290-313
782)"Lenin hat das deutsche Modell abgelehnt,
um ein russisches Modell zu
schaffen. Mao hat das russische Modell abgelehnt,
um ein chinesisches Zu
Bchaffen. Und wir,
wären wir die einzigen, die nachahmen,
statt zu erfinden?"
Pourauoi une Ideologie negro-africaine,
op.cit.,
5.299
783)"China soll sich in aller Mündigkeit dia fortschrittliche Kultur der fremden
Staaten aneigenen, wie einen Rohstoff zur Bereicherung seiner eigenen
Kultur( ... )Allein, allee, was fremd ist, muß so benutzt werden, wie man mit
RC

314
sich auf neuere archäologische, philosophische und ethnologische
Forschungsergebnisse stützend,
zeigt Senghor,
inwieweit die Neger
Grund genug hätten,
auf ihre vorkoloniale Vergangenheit stolz zu
sein(784). Von dem Dogonmythos der Schöpfung(785)
und der Mystik
der Bambara(786)
ausgehend,
stellt er dar, was er als gemeinsame
Hauptcharakteristika aller Negerkulturen betrachtet, welchen jeder
fremde Beitrag angepasst werden soll.
In diesem sinn schließt er
wie folgt:
n( ••• )les valeurs europeennes seront,
pour nous Negro-
Africains,
des moyens,
non des fins,
pour enrichir nos valeurs
propres et les faire servir a notre developpement integrale: a
l'elaboration d'un humanisme negro-africain et moderne( ... ) 11 est
temps,
encore une fois,
que les elites negro-africaines
d'aujourd'hui cessent de repeter des slogans fabriques ailleurs,
cessent d'etre des consommateurs deculture,
pour creer -
et
apporter,
ainsi,
7~~r contribution irrempla9able ä la Civilisation
de l'Universel. n (
)
Nur so werden die schwarzafrikanischen Autoren Werke
hervorbringen,
die zugleich universell und zutiefst
Nahrungsmitteln verfährt. Diese werden zuerst im Mund gekaut, dann im Magen und
im Darm verwandelt;
eie werden mit Speichel, Magen- und Darmsäften
durchfeuchtet,
und danach geteilt in Abfälle, die ausgeschieden, und in
Nährstoffe,
die verarbeitet werden; erst ~ann werden die Nahrungsmittel nützlich
für den Organismus.
Genauso dürfen wir nicht alles Fremde unterschiedslos
schlucken." zitiert nach senghor: Pourcruoi une ideologie negro-africaine,
op.cit., 5.298. Von mir übersetzt.
784)Pourguoi une ideologie negro-africaine, op.cit.,
5.299-301
785)Ebenda,
5.302f
786)Ebenda, 5.303ff
787)"( •.. )die europäischen werte werden für uns 5chwarzafrikaner keine Zwecke,
sondern Mittel zur Bere~cherung unserer eigenen Werte sein und sie dazu
befähigen, ·zu unserer vollen Entwicklung
beizutragen:
zur Erarbeitung eines
schwarzafrikanischen und modernen Humanismus( ... ) Es ist Zeit, daß die heutigen
6ch~arzafrikanischen Eliten damit aufhören,
im Ausland geprägte SChlagworte
nachzubeten,
d.i.Kulturkonsumenten zu sein,
um schöpferisch zu werden - und
somit ihren unersetzbaren Beitrag zur weltkultur zu leisten.~ Ebenda, 5.313
iI 6
:2
ras

315 I
schwarafrikanisch sein können. Und wenn Senghor eine
Verwandtschaft zwischen solchen schwarz afrikanischen Werken und
Hermann und Dorothea sieht, so meint er damit, daß Goethes Epos,
als ein stUck weltliteratur, zunächst zutiefst deutsch sei.
4.2.2.2
DIE VERSÖHNUNG VON AUTHENTIZITÄT UND UNIVERSALITÄT
Hermann und Dorothea ist die Geschichte eines jungen Paares in
einer deutschen Kleinstadt am Rhein. Von den Truppen der
Französischen Revolution vertrieben, fliehen viele Deutschen vom
linken Rheinufer auf die andere Seite des Flusses hinUber. Unter
ihnen befindet sich Dorothea. Im Auftrag seiner Mutter bringt
Hermann, der Sohn und einzige Erbe eines Wirtes und Besitzers
eines ziemlich großen Landgutes, den Vertriebenen Nahrungsmittel
und KleidungstUcke, lernt so Dorothea kennen und verliebt sich
gleich in sie. Während sich der Zug' der FlUchtlinge noch in einem
Nachbardorf aufhält, gelingt es ihm mit Hilfe des Pfarrers und des
Apothekers, zweier Freunde seiner Familie, Dorothea ins Haus
seiner Eltern zu holen und sich mit ihr zu verloben.
Aus dieser einfachen Fabel hat Goethe ein Epos gemacht, in dem
er anhand der Entwicklung, die diese kleinbürgerliche Familie
durch die Ereignisse erfährt, ein Bild vom menschlichen Leben
Uberhaupt entwirft.
seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zeigt die
Forschungsliteratur fast einstirnmig(788), daß das Werk nicht
788)Giuliano Baioni macht hier die Ausnahme,
indem er schreibt:
"Gewiß verdiente
das tüchtige,
arbeitsame und gehorsame deutsche Bürgertum angesichts eines vom
Chaos der Revolution erachütterten Europas gefeiert zu werden,
und Goethe zögert
nicht,
seine Klasse durchaus begeistert zu feiern,
denn in der patriarchalischen

316
schlechthin die Verherrlichung des deutschen bürgerlichen
Familienlebens sei(789).
Das typisch Deutsche in diesem Werke
bestehe in der Ansicht, die sich darin über die Französische
Revolution ausdrückt, und die auf nichts Anderem als den Werten
beruhe, worauf sich die künftige, von Hermann und Dorothea zu
gründende Familie stützen wird.
Der bürgerlichen Mentalität gemäß wünscht Hermanns Vater seinem
Sohn eine Frau, die eine solche Mitgift bringe, daß das Vermögen
seiner Familie sich vermehre.
"Und so hoff'
ich von dir, mein Hermann, daß du mir nächs~~Bs
In das Haus die Braut mit schöner Mitgift hereinführst"(
)
Eine der Töchter des Nachbarn,
jenes reichen Kaufmanns, dessen
Geschäfte immer besser gedeihen, wäre für ihn die ideale Wahl.
"Wenn du mir bald ins Haus ein Schwiegertöchterchen brächtest
Aus der Nachbarschaft her, aus jenem Hause,
dem grünen.
Reich ist der Mann fürwahr:
sein Handel und seine Fabriken
Machen ihn täglich reicher: denn wo gewinnt nicht der
Kaufmann?" (791)
Unbewegtheit ihrer Bräuche erechien eie ihm tateächlich als eine ewige und
paradigmatische Form,
die die "Klassizität" der homerischen Form rechtfertigte
oder gar gebot."
"Härchen".
,·W ilhelm Meisters Lehr; ahre" I
"Hermann und
Dorothea".
Zur Gesellschafteidee der deutschen Klassik.
In:
Goethe.
Jahrbuch der
Goethe-Geeellechaft.
Bd.92
(1975),
5.121
789}Vgl.
Robert Leroux:
La R~volution Francaise dans Hermann et Dorothee. In:
5
Etudee Germaniquee.
Nr.2-3
(Avril-5eptembre 1949),
5.174-186,
beeondere 5.l74f
-Maria Lypp:
BUrger ~nd WeltbUrger in Goethea "Hermann und Dorothea~. In:
Goethe,
Neue Folge dee Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft,
31
(1959),
5.129-143;
besondere 5.129
-Oekar 5eidlin:
Kla99ische und moderne Kla9siker.
Göttingen 1972,
5.72
-Karl Eibl:
Anamnesie des
"Augenblicke". Goethea poetischer
Ge8ellschafteent~~rf in Hermann ~nd Dorothea.
In:
Deutsche Vierteljahreeschrift
für Literatur und GeistesgeSChichte,
Nr.56
(1964),
l.Heft,
5.111-138,
dort
besondere S.117ff
-ran F.Roe: Ästhetik und Politik: Goethe und die Französische Revolution.
rn:
Goethe,
Jahrbuch der Goethe-Geeellechaft,
Bd.104
(1987),
5.31-46,
dort besonders
5.40
790)J.W.Goethe:
Hermann und Dorothea. Gesang rr, V.169-170
791)Ebenda, Gesang rr, V.18B-191
.
a~'- 'rilLS
t: Ua...!AClt;P;
M..
W493iL ;a: !UM
;;

317
Allein, trotz all seiner Bemühungen hat Hermann in diesem Haus,
das die bürgerliche Mentalität aufs vollkommenste verkörpert,
nicht Fuß fassen können. Hier gilt der materielle Reichtum, den
man durch gewisse Anforderungen an die Art, sich zu kleiden(II,
V.208), durch häuslichen Komfort und einen gewissen
Kultursnobismus zeigt. So muß zB.in dem Hause Klavier gespielt
werden. Hermann erfüllt die Kriterien nicht. So ist sein eigener
Vater, trotz seines Stolzes, alles, was er besitzt, aus dem nichts
i
I
I
geschaffen zu haben, durchaus nicht mit seiner situation
I zufrieden.
"Hätte mein Vater gesorgt für mich, so wie ich für dich tat,
Mich zur Schule gesendet und mir die Lehre gehalten,
Ja, ich wäre was anders als Wirt zum Goldenen Löwen!,,(792)
Und da sein Sohn Hermann,
zu seiner größten Enttäuschung
(II,V.246-250), bislang seinen Aufstiegswünschen nicht hat genügen
können, möchte er nun seinen Traum zumindest in einer
entsprechenden Schwiegertochter verwirklicht sehen.
"Aber so soll mir denn auch ein Schwiegertöchterehen endlich
Wiederbegegnen und so mir die viele Mühe versüßen;
spielen soll sie mir auch das Klavier; es sollen die
schönsten,
Besten Leute der Stadt sich mit Vergnügen versammelD
wie es sonntags geschieht im Hause des Nachbarsl,,(7yj)
Hermann ist Opfer dieser charakteristischen Haltung in
kleinbürgerlichem Milieu. Sein Naturell ist mehr dem vom Bürgertum
verachteten Bauernstand (11, 245-250)
zugeneigt.
792)Ebenda, V.256-258
793)Ebenda, V.268-72
;:w:ztisibE...,.
.?J,
5

318
Er ist ein Mensch, der sich durch Reinheit des Herzens (Gesang
11, V.155; Gesang V, V.55 und 63), Ruhe (Gesang IV, V.112-l30;
Gesang VI, V.223) und Heiterkeit (Gesang 11, V.10; Gesang V, V.37;
Gesang VII, V.49), mit einem Wort durch. edle Gesinnung (Gesang IV,
V.66 und 117; Gesang IX, V.298) auszeichnet. Sein ausgeglichener
charakter war schon in seiner Kindheit spürbar, wie der Pfarrer
bestätigt:
"Rein ist Hermann: ich kenn' ihn von Jugend auf, und er
streckte
Schon als Knabe die Hände nicht aus nach diesem und jenem.
Was er begehrte, das war ihm gemäß; so hielt er es fest
auch." (794)
Ihm liegt nicht an der Anhäufung materieller Güter.
"( ... ) nicht das Sparen allein, um spät zu genießen,
Macht das Glück, es macht nicht das Glück der Haufe beim
Haufen,
Nicht der Acker am Acker, so schön sich die Güter aU9~5
schließen."(
)
Stattdessen findet Hermann sein Glück in der Hilfsbereitschaft und
im Teilen mit Anderen. Eben beim Handeln gemäß diesem Charakter
stößt er auf Dorothea, jenes Mädchen, das einen den umständen,
unter denen die beiden einander begegnen, vollkommen
entsprechenden Namen trägt, denn Dorothea bedeutet Gottes
Geschenk.
In der Tat ist Dorothea das weibliche Gegenstück zu Hermann.
Auch sie kennzeichnet sich durch ihre Hilfsbereitschaft und ihre
edle Gesinnung. Bei der ersten Begegnung mit Hermann ist sie schon
794)Ebenda, Gesang V, V.53-55
795)Ebenda, Gesang IV, V.181-183
:"&J5Ii i
'LJ.~
,....w.~ .q .J,L..t.. , .
2
Ji

319
für ihre Leidensgenossen tätig.
In der Notlage,
in der im
allgemeinen jeder zuerst an sich selbst denkt, heißt es von ihr:
"( ... )ihr eigenes Unglück vergessend
Steht sie anderen bei,
ist ohne Hülfe noch hÜlfreich.,,(796)
Tatsächlich setzt sie ihre ganze Energie ein, um für eine soeben
niedergekommene Frau und deren Neugeborenes zu sorgen (lI, V.32-
39). Die Weise, wie sie Hermanns Hilfe erbittet und annimmt,
ist
von einer solchen Würde (lI,
V.28-31i
40-41), daß sie sein
Vertrauen sogleich erwirbt; Hermann vertraut ihr also alle
Geschenke an,
damit sie sie an die anderen Bedürftigen gerecht
verteile (lI, V.67-73i V.75).
Dorothea ist vor allem als ideale
Frau gestaltet.
Die Familie, die Hermann mit seinem weiblichen Gegenstück
Dorothea gründet,
ist, wie Ian F. Roe zutreffend feststellt(797),
Goethes Antwort auf die Französische Revolution. Nicht zufällig
trägt die männliche Hauptperson den Namen "Herrnann", der an jenen
germanischen Helden erinnert, der dem Vordringen der Römer in
Germanien im Teutoburger Wald Einhalt gebot.
Es kommt auch nicht
von ungefähr, daß Goethe für diese einfache Liebesgeschichte die
Form des Epos gewählt hat, eben jene literarische Gattung, welche
gewöhnlich der Darstellung großer Heldentaten vorbehalten ist.
Sicherlich drückt sich in der klaren Disproportion zwischen der
von Goethe gewählten Gattung und der dargestellten
kleinbürgerlichen Mentalität auch Ironie aus(798). Aber vor allem
realisiert sich in der großen epischen Form die Absicht des
796)Ebenda, Gesanq v, V.102-103
797)lan F.Roe. op.cit., s.39f
798)Siehe hierzu Oskar Seidlin, op.cit., S.25f

320
Autors, eine neue "Hermannschlacht" darzustellen,
in der dem
Übergreifen der Französischen Revolution auf Deutschland mit
moralischen Waffen Einhalt geboten wird.
Die Macht,
die das in Goethes Epos zuwege bringt, das sind die
von Hermann und Dorothea verkörperten menschlichen Tugenden. Durch
die Stärkung solcher Werte wird man alle sozialen Konflikte und
Revolutionen künftig im Keime ersticken. Goethe läßt das
programmatisch Hermann mit den folgenden Versen verkünden:
"Und gedächte jeder wie ich, so stünde die Macht auf
Gegen die Macht, und wir erfreuten uns alle des Friede9~~"
(
)
Eine Gesellschaft, deren Urzelle der Haushalt von Hermann und
Dorothea bildet, wird also in sich selbst das Gegenmittel gegen
Ungerechtigkeit einerseits und gegen daraus entstehende
Revolutionen andererseits enthalten.
In einer solchen Gesellschaft ist es nicht wichtig,
ob der
Regierende ein Monarch oder eine vom Volk gewählte Person ist.
Solange sein Regierungsprinzip auf den menschlichen Erztugenden,
Güte und Hilfsbereitschaft,
beruht, kann seine Autorität vorn Volk
akzeptiert werden(Soo).
Das illustriert Goethe durch die Gestalt
des Richters,
der, ohne gewählt worden zu sein,
eine spontane und
unumstrittene Autorität in der Gemeinschaft der vertriebenen
genießt(Gesang v,
V,198-206). Die Parallele, die der Pfarrer
zwischen ihm und Moses und Josua zieht (Gesang V, V.225-227), soll
799)Ebenda, Gesang IX, V.317-31B
BOO) Vg1. dazu was in Der Bürgergeneral (1793) der Edelmann sagt: "In einem
Lande, wo der Fürst sich vor niemand verschließt; wo alle Stände billig
gegeneinander denken; wo niemand gehindert ist, in seiner Art tätig zu sein; wo
nützliche Einsichten und Kenntnisse allgemein verbreitet sind - da werden keine
Parteien entstehen." J,W,Goethe: Der Bürgergeneral (1793). In: Goethes Werke,
WA, Bd.17, 5.307

321
die Vorstellung vom guten Regenten verdeutlichen. Wie Moses'
Autorität über das Volk von Israel von Gott selbst kam, sollte
jede Autorität von Gott, d.i. von der Natur gegeben werden. Der
Regierende soll ein zum Regieren begabter Mensch sein, worunter
hier ein Mensch verstanden wird, dem es nicht schwer fällt, den
anderen zu dienen, der von Natur aus bereit ist, sich fürs Wohl
der Gemeinschaft bis zum äußersten einzusetzen. Der Herrscher muß
natürlich "edel, hilfreich und guttI sein, und er darf
selbstverständlich nicht versuchen, sich über seine Mitmenschen
zu erheben. 50 lebt in Hermann und Dorothea der Richter trotz der
großen Achtung, die er bei den anderen genießt, eng mit ihnen
zusammen.
Die neue "Hermannschlacht" wird also nicht einmal mehr gegen
ein bestimmtes Land oder Volk ausgetragen. Es ist ein Kampf der
Menschlichkeit gegen alle Inhumanität. 50 beansprucht das Thema
dieses Werks, das exklusiv von Deutschland zu handeln und nur
Gcethes Antwort auf die Französische Revolution zu sein scheint,
universelle Gültigkeit.
Daß Senghor eine Verwandtschaft zwischen diesem Werk von Goethe
und den künftigen Hervorbringungen der schwarzafrikanischen
Literatur wünschte, ist weder zufällige Aussage noch
oberflächliche Parallele. Es handelt sich hier um eine
tiefgreifende Analogie zwischen Goethes Beurteilung der Situation
und Perspektive Deutschlands der Französischen Revolution
gegenüber einerseits und andererseits 5enghors Vorstellungen von
der Situation und den Perspektiven der schwarzafrikanischen Völker
dem Eindringen des imperialistischen Europa in ihren Kontinent
gegenüber. Die Analogie wird noch auffälliger, wenn man die
L
$
t
$
ISS

322
situation Deutschlands während der napoleonischen Besatzung in
Betracht zieht.
4.2.2.3
"HERMANN UND DOROTHEA" UND SENGHORS "PRIERE DE PAIX"
Gleich nach dem zweiten Weltkrieg schrieb Senghor ein Gedicht,
das seine Empfehlung an die schwarzafrikanischen Autoren zu
illustrieren zu wollen scheint, Werke hervorzubringen,
die gerade
dadurch,
daß sie authentisch schwarzafrikanisch seien,
Zugang zur
Weltliteratur fänden.
Es ist Priere de paix, das Friedensgebet von
1945, eine seinem Freund Georges Pompidou und dessen Gattin
gewidmete Elegie in fünf Gesängen.
Es liest sich wie ein Programm,
welches die Haltung entwirft, die die schwarzafrikanische
Intelligenz dem kolonialistischen Europa gegenüber künftig
einnehmen solle, wenn sie nicht nur für den eigenen Kontinent,
sondern auch und besonders für die ganze Menschheit tätig sein
wolle; wenn sie, wie Goethe in Hermann und Dorothea,
indem sie
gegen ihre eigene Gefährdung kämpfe,
zugleich ein allgemeines
Übel, den Egoismus und den Revanche-Geist bekämpfe.
Die Welt,
so beginnt Senghors Gedicht,
ist kaum aus der
Katastrophe des zweiten Weltkrieges erlöst worden.
Es ist Winter,
der erste Friedenswinter seit sechs Jahren.
Es ist, wie Senghor
.
.r,
sc'hreibt:
~.r
"Au commencement de la Grande Annäe, au sOleia- ~e
Ta paix sur les toits neigeux de Paris."! 0 )
SOl)"Zu Anfang des großen Jahres im Sonnenlicht Deines Friedens
über den Schneedächern von Paris" L.S.Senghor: Pri~ra da pa ix (1945).
In:
Chants d'ombre suivi de Hosties noires. Ed. du Seuil, Paris 1945,
1948 (28 6d.)
j r--

J2J
An einem stillen sonnigen Wintertag genießt Europa den hart
erkämpften Frieden. Frankreich ist eben von der deutschen
Besatzung befreit worden, während es noch Länder Afrikas und
anderer Kontinente,
welche ihm doch bei seiner Befreiung geholfen
haben, unter seiner Kolonialherrschaft hat.
Der Dichter denkt dann
im stillen über das harte Schicksal Afrikas nach,
seitdem das
neuzeitliche Europa dort eingedrungen ist. Er setzt diese Etappe
der Geschichte Afrikas mit der Passion Jesu Christi gleich; er
sieht seinen Kontinent gekreuzigt.
"seigneur, au pied de cette croix - et ce n'est plus
Toi l'arbre de douleur, mais au-dessus de l'Ancien
et du Nouveau Monde l'Afrique crucifi~e
Et son bras droit s'~tend sur mon pays, et son cet~
gauche ombre l'Am~rique
Et son coeur est Haiti eher, H~~~i qui osa proclamer
I' homme en face du Tyran." (
)
Die Lehre des christlichen Abendlandes aufnehmend,
betet er am Fuß
dieses neuen
Kruzifixes.
"Au pied de mon Afrique crucifi~e depuis quatre cents
ans et pourtant respirante
I
Laisse-moi T~ dire Seigneur, sa pri~re de paix et de
pardon. "( 03)
5.147. Deutoche Übereetzunq von Jahnheinz Jahn in. Botechaft und Anruf,
Bornheim-Merten 1988,
5.112-116,
Zitat dort 5.112
802)"Herr,
arn Fuß dieseo Kreuzee -
und nicht mehr Du biet der
Schmerzenbaum sondern,
über der Alten und Neuen Welt
das qekreuziqte Afrika
Und oein rechter Arm etreckt oich über mein Land,
der linke
beochattet Amerika
Und aein Herz iot Haiti,
das teure Haiti das mutig den Menschen
ausrief angesichts des Tyrannen."
Ebenda, 5.147, deutach, 5.112
803)"ZU Füeoen meines seit vierhundert Jahren qekreuziqten Afrikas
das doch noch atmet
Laß mich Dir sagen,
Herr,
sein Gebet um Vergebung und Frieden.
Ebenda,
5,148, deutach,
5.112
i·!('.
..
d 'it •.guSl JiS. .i
.5
_aso A
h
ca
.4
At
. i ,j

324
Er ruft sich dann alle Schäden wieder ins Gedächtnis, welche
Europa Afrika zugefügt hat. Er sieht die Missionare,
zumeist
"DununJcöpfe" und "Verräter,,(804), sehr oft in Zusa!llIllenarbeit mit
den Kolonialherren.
"Et les chrltiens,
abjurant Ta Lumi~re et la mansultude
de ton coeur,
Ont Iclairl leurs bivouacs avec mes parchemins,
torturl mes talbes, deport I mes docteurs et mes
maltres-de-science.
( ... )
Et cO!llIlle des terrains de chasse,
ils ont incendil
les bois intangibles,
tirant Ancetres et glnies par leur
barbe paisible.
Et ils ont fait de leur myst~re la distraction dominicale
de bourgeois somnambules. ,,(805)
Er denkt an die Umstrukturierung der afrikanischen traditionalen
Gesellschaften durch die Kolonisation.
"seigneur,
pardonne A ceux qui ont fait des Askia des
maquisards, de mes princes des adjudants
De mes domestiques des boys et de mes paysans des
salarils, de mon peuple un peuple de prolltaires.,,(806
804)Oie Wörter sind von Senghor selbst. Ebenda,
S.lS2
80S)"Und Christen haben,
dem Licht abtrUnnig und der Sanftmut
Deines Herzens,
Hit meinen Pergamenten ihre Biwaks erhellt, meine Schreiber
gequält, meine Gelehrten und meine Weisen entfUhrt.
( ... )
Und wie Jagdgründe setzten sie die unberührbaren Wälder in
Brand und zerrten Ahnen und Genien an ihren friedlichen
Bärten.
Sie machten deren Geheimnisae zur Sonntags zerstreuung
mondsUchtiger Bürger." Ebenda, S.148,
deutsch,
S.113
806)"Herr,
vergib denen" die aus den hskia Partisanen machten,
aus
meinen Fürsten Feldwebel,
Aus meinen Dienern Diensboten, aus meinen Bauern Tag!öhner
aus meinem Volk ein Volk von Proleten."
Ebenda, S.149,
deutsch,
S.113
~MTtJ;Qttitlw;gj;:9f..hQiZW&i\\liii aiitioc 0;;:3);.. , a
bUU;
iS
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Sb !iSlAM: 5 iM ;
Li
11.
3

325
Er gedenkt aller von den schwarzen Sklaven geduldig ertragenen
Mißhandlungen und aller Verluste Afrikas durch diesen
verderblichen Handel.
"Car il faut bien que Tu pardonnes ä ceux qui ont donn~
la chasse ä mes enfants comme ä des ~l~phants sauvages.
Et i15 les ont dress~s a coup de chicotte, et ils ont fait
d'eux les mains noires de ceux dont les mains ~taient
blanches.
Car il faut bien que tu oublies ceux qui ont export~
dix millions de mes fils dans les maladeries de leurs
navires,
Qui en ont supprim~ deux cent millions.,,(S07)
Und bei allen diesen Gedanken kann das gerechte Haßgefühl gegen
die Urheber jener Verbrechen nicht in seinem Herzen weiter
schlummern.
"Et voilä que le serpent de la haine live la täte g~ns
mon coeur, ce serpent que j'avais cru mort."IS
)
Aber was die GrUnde dazu auch sein mögen, der Haß muß immer
bekämpft werden, wenn man der Menschheit weiter dienen möchte. Der
Autor bittet also den Allmächtigen,
ihn in seinem Herzen
abzutöten.
I
r
"Tue-le,
Seigneur, car il me faut poursuivre mon chemin."(S09)
807)"Du mußt ihnen freilich verzeihen, Herr,
jenen die auf meine
Kinder Jagd machten wie auf Wildele fanten
Und sie mit Peitschenachlägen dressierten,
aus ihnen die
schwarzen Hände derer zu machen die weiße Hände haben.
Du mußt sie freilich vergessen,
Herr,jene die zehn Millionen
meiner Söhne verschleppten im Seuchenhaus ihrer Schiffe
Und ihrer zweihundert Millionen versklavten."
Ebenda,
5.149,
deutsch,
5.113
808)"Die Schlange des Hasses reckt ihren Kopf auf in melnem Herzen,
die Schlange dle ich gestorben glaubte."
Ebenda,
5.149, deutsch,
5.113
809)"Töte sle, Herr, denn ich muß meinen Weg verfolgen . . . •
Ebenda,
5.149, deutsch,
5.114

JZ6
Er bittet den Allmächtigen,
Europa trotz allem zu verzeihen.
"Seigneur Dieu,
pardonne a l'Europeblanche!,,(810)
Er erfleht besonders Verzeihung fUr Frankreich, die Kolonialmacht
seines eigenen Landes, und wünscht sogar, daß Christus es zur
Rechten des Vaters stellen möge.
Nicht daß er sich nicht mehr
dessen bewußt wäre, was Frankreich seinen Kolonien angetan hat,
nicht daß er die schlimmen WidersprUche nicht mehr kennte,
in
welche es sich in seiner Geschichte verwickelt hat,
nicht mehr
wüßte, welch große schuld Frankreich auf sich geladen hat.
"Oh!
je sais qu'elle aussi est l'Europe, qu'elle m'a
ravi mes enfants comme un brigand du Nord des
boeufs,
pour engraisser ses terres a cannes et coton,
car la sueur du negre est furnier.
Qu'elle aussi a porte la mort et le canon dans mes
villages bleus,
qU'elle adresse les miens les uns contre
les autres comme des chiens se disputant un os
Qu'elle a traite les resistants de bandits,
crache sur
les tetes-aux-vastes-desseins.
Oui Seigneur,
pardonne ä la France qui dit bien la
voie droite et chemine par les sentiers obliques
Qui m'invite ä sa table et me dit d'apporter mon pain,
qui me donne de la droite et de la main gauche
enleve la moitie.
Oui Seigneur, pardonne a la France qui hait res occupants
et m'impose l'occupation si gravement.,,(81 )
810)"Herr, mein Gott,
ver~eih dem weißen Europa."
Ebenda,
148, deutBch,
5.113
811)"0,
ich weiß wohl,
auch Frankreich iBt Europa,
auch Frankreich
hat mir Kinder geraubt wie ein Räuber des Nordens Ochsen um
seine Zucker- und Baumwollfelder zu düngen,
denn
Negerechweiß iet wie Dünger.
Auch Frankreich hat Tod und Kanonen in meine blauen Dörfer
gebracht die Heinen gegeneinander gehetzt wie
Hunde die sich um einen Knochen streiten
Auch Frankreich hat dca WcderBtänd"er WCB 8anditen behandelt
und auf die weiterschauenden Köpfe gespien.
Ja, Herr,
verzeih Frankreich, das den geraden Weg gepredigt
~"
il~;3X2& ..100.::";0 AM. 14:: . s: a4. 304.;: ... b
.ci.: UM
J•.
4

3,
Senghor möchte jenes Frankreich aber nicht als das wahre
Frankreich betrachten.
In jenem Frankreich sieht er vielmehr das
Böse überhaupt,
das keine Heimat hat, und das unbedingt und
überall bekämpft werden muß.
"Ahl
Seigneur,
eloigne de ma memoire la France qui
niest pas la France, ce masque de petitesse et de
haine sur le visage de la France,
Ce masque de petitesse et de haine pour qui je n'ai
que haine - mais je peux bien harr le Mal,
Car j'ai une grande faiblesse pour la France.,,(812)
Das Frankreich,
für das er Segen erfleht, das ist das Frankreich
der großen Revolution,
jene Nation,
die im Namen der ganzen
Menschheit sich für Gerechtigkeit eingesetzt und somit alle
Unterdrückten in Schutz genommen hatte.
"Benis ce peuple garrote qui par deux fois sut liberer
ses mains et osa proclamer l'avlnement des pauvres
a la royaute,
Qui fit des esc~f~es du jour des hommes libres egaux
fraternels. " (
)
auf krummen Pfaden wandelt
Das mich zu Tisch lädt und mir sagt ich solle das Brot
mitbringen
das mit der rechten Hand spendet und mit der linken die
die Hälfte davon entreißt.
Ja,
Herr, verzeih Frankreich,
das die Besatzung haßt und mir
schwerste Besatzung aufbürdet."
Ebenda, S.150, deutsch, S.114
812)"Ach, Herr,entferne aus meinem Gedächtnis das Frankreich das ja
nicht Frankreich ist,
entferne die Maske von Kleinheit und
Haß
aus Frankreichs Gesicht,
Diese Maske von Kleinlichkeit und Haß die ich so hasse,
denn
das Böse darf ich doch hassen.
Denn ich habe eine große Schwäche für Frankreich."
Ebenda, S.151, deutsch, S.114
813)"segne dieses geknebelte Volk das zweimal sich die Hände
befreite
und zweimal die Thronbesteigung der Armen ausrief,
Das aus den Sklaven des Tages Menschen machte,
freie, gleiche
~:~-,_.
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~'
..,-,' .q! t:as
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::

328
Durch die religiöse und weltliche Kolonisation habe Frankreich
auch nicht nur Schaden angerichtet.
Es habe dadurch zur Annäherung
verschiedener Völker beigetragen, die bis dahin einander nicht
kannten oder ignorierten.
"Bänis ce peuple qui ro'a apportä Ta Bonne Nouvelle,
Seigneur, et ouvert mes paupieres lourdes ä la lumiera
de la foi.
Tl a ouvert mon coeur ä la connaissance du monde,
me montrant l'arc-en-ciel des visages neufs de mes fr~res.
Je vous salue mes freres:
toi Mohamed Ben Abdallah,
toi Razafymahatratra, et puis toi lä-bas Pham-Mahn-Tuong,
vous des mers pacifiques et des forets ench~ntäes
Je vous salue tous d'un coeur catholique. I,(81 )
Aber das, wofür Frankreich zu loben ist,
ist kein exklusives
Verdienst des französischen Volks.
Frankreich hat nur Werte
gepflegt und verteidigt, die allen Völkern der Erde gemeinsam
sind, und welche sie zu schützen verpflichtet sind, was sie
übrigens schon mehr oder weniger tun.
Deshalb solle der Segen des
Allmächtigen neben Frankreich allen Völkern der Welt gelten:
U( ••• )
tous les peuples d'Europe,
tous les peuples
d'Asie,
tous lr~ peuples d'Afrique et tous les Peuples
d'Amerique. u (8
)
und brüderliche."
Ebenda, 5.151, deutsch, S.1l5
814)"5egne dies Volk das mir Deine Frohe Botschaft gebracht und
meine schweren Lider dem Licht des Glaubens geöffnet.
Es hat mein Herz geöffnet der Erkenntnis der Welt und mir
den Regenbogen der neuen Geeichter ge~eigt, meiner Brüder.
Ich grüße euch, meine Brüder: dich Mohammed Ibn Abdallah,
dich Razafymahatratra und dich dort unten
pharn-Manh-Tuong,
und euch alle aus dem Pazifischen Meer und
auch aus den Zauberwäldern,
Euch alle grüße ich. aus allumfassendem Herzen."
Ebenda, S.151, deutsch, S.115
615)"( .•• ) alle Völker Europas, alle Völker Aaiens, alle Völker
Afrikas und alle Völker Amerikas."
Ebenda, 5.152, deutsch, S.116
n',t(~'( ". 1fJ;;0!IUll't
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..·.;.• • • • • • •liIIIi!'JIibllll-.,Il!'Jl'1llMl!lIl!..IJ!I",.IUI!lZI.\\• •IIZ. . . . .AIIZllli..lIII22J1lIlllSlIllI.a.1IIIlI. . . .2Ii11Jt• •IlII
IIIlI.'"

329
Trotz aller Nöte, welche die Schwarzafrikaner durch die Geschichte
haben erleiden müssen,
dürfen sie nichts von ihrer Würde
verlieren. sie müssen ihre Würde bewahren,
indem sie sich mit
allen anderen Völkern der Welt im Kampf gegen ein und denselben
Feind vereinigen.
Ihre Aufgabe soll darin bestehen, das Übel
abzuwenden, das sie selbst haben ertragen müssen,
indem sie darauf
in wahrem schwarzafrikanischem Geist reagieren, d.h. mit
Humanität, ohne Haß und Revanche-Gefühl.
Dazu brauchen die
schwarzafrikanischen Völker aber eine große Überwindungskraft, die
sie nur von dem Allmächtigen Gott bekommen können.
Dafür betet
auch der Autor:
"( ... ) Et au milieu de ces
millions de vagues, vois les tätes houleuses de mon
peuple.
Et donne aleurs mains chaudes qu'elles enlacent
la terre d'une ceinture de mains fraternelles.,,(816
Senghors Gedicht behandelt die jüngste Geschichte der
schwarzafrikanischen Völker,
ihre unterwerfung unter koloniale
Herrschaft.
Aber da wo Wut und Haß herrschen könnten, wird
Verzeihung und Frieden gepredigt.
Es ist vorstellbar, wie Senghor
sich in einer solchen Haltung durch Goethe bestärkt sehen und wie
er den Wunsch hegen konnte,
mit solchen Werken die
schwarzafrikanische Literatur als mit Goethes Epos Hermann und
Dorothea gleichen sinnes in eine künftige weltliteratur zu führen.
816)"( ... ) Und mitten in diesen Millionen
Wogen,
sieh die wogenden Köpfe meines Volkes
Vergönne ihren heißen Händen daß Bie die Erde umschlingen mit
einem Gürtel von Bruderhänden."
Ebenda,
5.153,
deutsch,
5.116
~w;;d,- ~). ;.JF' S?JAt'Ä iJ 4U "M"l j)} C b . ,
.h';;;
U
aa

330
Da sowohl Iphigenie auf Tauris als auch Hermann und Dorothea in
Senghors Augen ein der weimarer Klassik und der
schwarzafrikanischen ontologie gemeinsames Ideal von Ausgleich und
Frieden verkünden, konnten sie in Goethes klassischem Werk von
Senghor nicht übersehen werden.
Was Iphigenie auf Tauris betrifft,
so konnte Senghor zudem die
opposition zwischen wilden und zivilisierten Völkern auf das
Verhältnis zwischen Kolonisierten und Kolonialherren übertragen.
Und dem Epos Hermann und Dorothea konnte er eine Empfehlung
entnehmen, die derjenigen entsprach,
die er nach dem Zweiten
Weltkrieg für das Verhältnis der kolonisierten Völker zum
imperialistischen Europa und besonders zum kolonialistischen
Frankreich propagierte: Humanität gegen Aggression.
4.3
SENGHOR UND DER NATURFORSCHER GOETHE
"Je ne parlerai que pour mlmoire de son oeuvre scientifique.
si discutle qU'elle puisse etre,
elle nous intlresse par sa valeur
exemplaire.
Elle nous signifie, cette oeuvre,
que nous ne pouvons
edifier la Citl nouvelle de la NegritUde sur les seules valeurs
littlraires et artistiques,
que celle-ci doit refleter notre
Ivolution Iconomique et sociale en integrant,
dans une
assimilation active,
les progres scientifiques de l'Europe.,,(817)
So Senghor im Jahre 1949 über Goethes naturwissenschaftliches
Werk. Goethe als Naturforscher sei dem neuen Reich der Negritude,
817)"Nur be,läuf,q werde ,ch h,er se,n naturwissenschaftliches Werk erwähnen. So
umstritten es auch sein mag,
interessiert uns dieses Werk durch seinen
vorbildlichen Wert.
Es bedeutet uns, dieses Werk,
daß wir das neue Reich der
N~qritude n,cht allein auf literarischen und künstlerischen Werten errichten
können,
daß dieses Reich unsere ökonomische und soziale Entwicklung
widerspiegeln soll,
indem es -
in einer aktiven Assimilierung - sich die
wissenschaftlichen Fortschritte Europas aneignet." L.S.Senghor, La MessagB da
Goethe ... , op.cit.,
5.86
.a: $I
13
:$:; ;
D
tL
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den neuen Schwarzafrikanern ein Modell. Als neu nämlich sei der
Schwarzafrikaner künftig zu bezeichnen, der,
ohne seine
ursprüngliche Eigenheit zu verlieren, durch die Kolonisation
bestimmte europäische zivilisatorische Werte zu seinem eigenen
Gedeihen assimiliere.
Zu jenen für Schwarzafrika nützlichen
europäischen zivilisatorischen Werten gehören,
für Senghor, die
naturwissenschaftlichen Fortschritte.
Sie vor allem, so meint er,
haben die neuen Schwarz afrikaner aktiv zu assimilieren, wenn sie
den Forderungen ihrer Entwicklung im neuen Kontext gerecht werden
wollen.
wie Goethes naturwissenschaftliches Werk, sein literarisches
ergänzend,
aus ihm einen vollendeten Menschen machte,
so solle die
Ergänzung der künstlerisch-literarischen Werte, welche die
NegritUde ja eigentlich kennzeichnen,
durch Aneignung der
naturwissenschaflichen Errungenschaften Europas Schwarzafrika eine
im neuen Kontext ausgeglichene Entwicklung sichern.
Auch wenn senghor sagt,
er wolle Goethes
naturwissenschaftliches Werk nur beiläufig erwähnen, dokumentiert
seine Aussage eine positive Einstellung den europäischen
naturwissenschaftlichen Fortschritten gegenüber.
Da Senghor eine
solche Einstellung den neuen schwarzafrikanern mit dem
ausdrücklichen Hinweis auf Goethe empfiehlt,
scheint er davon
auszugehen,
daß der Naturforscher Goethe ein Vertreter der
modernen europäischen Naturwissenschaft gewesen sei.
In der Tat war Goethe auch ein sehr eifriger Naturforscher.
In
Dichtung und Wahrheit berichtet er selbst, wie er schon als Knabe
ein reges Interesse für die Erkenntnis der Natur zeigte(818). In
818)"Schon aeit meinen frühaten Zeiten fühlte ich einen Unterauchungatrieb gegen
natürliche Dinge." J.W.Goethe:
Dichtung und Wahrheit,
4.Buch.
In, Goethee Werke,
HA.,
Band 9,
5.117
..
S41;:
.LA4 iRi''t"'",q .. · iUp4.4=.m........
_

332
seiner Jugend gaben ihm manche Kontakte während seiner Leipziger
Studienzeit(819)
und seine pansophisch-alchimistischen Erfahrungen
in Frankfurt Gelegenheit,
sein Interesse für die Naturwissenschaft
zu entdecken(820).
Daß er sich dann bis ins hohe Alter mit
Botanik, Geologie,
Farbenlehre, Meteorologie und Zoologie intensiv
beschäftigte, bezeugt das umfangreiche naturwissenschaftliche
Werk, das er hinterlassen hat. Goethe war durchaus der Meinung,
daß der Mensch sich die Natur durch Wissenschaft und Technik
zunutze machen solle,
freilich nicht im Sinne einer Herrschaft
über sie,
sondern in dem einer Teilhabe an ihrer unerschöplichen
Produktivität.
Als Naturforscher kann er aber keineswegs als Repräsentant der
modernen europäischen Naturwissenschaft gelten.
Er war vielmehr
deren entschiedener Kritiker.
In Anlehnung an die neusten,
besonders seit den achtziger Jahren über die Aktualität von
Goethes Kritik an der modernen Naturwissenschaft erschienenen

Studien(821)
soll hier gezeigt werden, was die Goethesche
~.
i,
819)"In solcher vielfachen Zerstreuung,
ja Zerstückelung meinea Weaena und
meiner Studien traf sich's, daß ich bei Hofrat Ludwig den Mittagstisch hatte. Er
war Medikus,
Botaniker,
und die Gesellschaft bestand,
außer Morus,
in lauter
angehenden oder der Vollendung näheren Är,zten.
Ich hörte nun in diesen Stunden
gar kein ander Gespräch als von Medizin oder Naturhistorie,
und meine
ginbildungskraft wurde in ein ganz ander Feld hinübergezogen." gbenda,
6.Buch,
S.
257
,
820)gbenda, 8.Buch, S.341f
821)rn den achtziger Jahren ist auf die Aktualität von GoetMee Kritik an der
,
neuzeitlichsn Wissenschaft wiederholt hingewiesen worden. Vgl. dazu
"
insbesondere:
alLeo Kreutzer: Wie herrlich leuchtet uns die Natur? Der Naturwissenschaftler
Goethe -
Portrait eines Verlierers.
In:
Ders.: Hein Gott Goethe.
Reinbeck bei
Hamburg 1980,
5.30-42
-Ders:
Zurück zu Goethe!
Kleine Rede über Regression.
In:
Der Deutschunterricht,
Jg.39,
4/1987,
5.5-10, dort besonders 5.10:
"Hit einem neuen
Modernisierungsschub konfrontiert,
der diesmal nicht nur lebensweltliche
Traditionen,
sondern Lebenswelt überhaupt abzuräumen droht,
haben wir Anlaß zu
einer Regression auf die Goethe-Zeit und auf Goethe selbst."
b)Alfred Scrumidt: Goethes herrlich leuchtende Natur.
Philosophische Studie
zur deutschen Spätaufklärung.
München 1984, dort besonders 5.14
:" ( ... )wenn uns
Goethes naturwissenschaftliche Arbeitsweise gerade heute zunehmend bemerkenswert
. .Ei.E,,&, '"fli 5 g4Y{Q
2#.&%..§bJ§f.Z!
a
. : 1& :
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wu
31

333
Naturanschauung mit einer von dem Negritude-Theoretiker Senghor
verfochtenen traditionalen schwarzafrikanischen Ontologie
verbindet.
4.3.1
GOETHES KRITIK AN DER NEUZEITLICHEN NATURWISSENSCHAFT
Goethe hat seine Sorge über die Entstehung und Fortentwicklung
der modernen Naturwissenschaft und Technik 1829 in Wilhelm
Meisters Wanderjahre der Figur der "Schönen-Guten" in den Mund
I gelegt:
erscheint,
BO deshalb,
~eil ~ir allmählich irre geworden sind an den
Errungenschaften eines technischen Fortschritts,
der seit Galilei und Newton auf
einem geschichtlichen "Entwurf" von Natur beruht hat,
der nicht darauf abzielt,
ihrer "Wirklichkeit"
zum Ausdruck zu verhelfen,
sondern darauf,
sie allseitig
verfügbar zu machen.
Die moderne Wissenschaft entwickelt sich in einem
instrumentaliatischen Horizont."
c)Adolf Huschg:
"Im Wssser Flsmme" - Goethes grüne Wissenschaft
(1984).
In:
Ders:
Goethe als Emigrant.
Frankfurt a.
Hain 1986,
5.48-74,
dort besonders 5.66:
"Goethe hat Unrecht bekommen vor dem Richterstuhl eines Wissenschaftsbegriffs,
der inz~ischen selbst angeklagt ist."
d)Hartmut Böhme: Lebendige Natur. Wisser.9chaft9kritik,
Naturforschung und
allegorische Hermetik bei Goethe.
In:
Deutsche Vierteljahres schrift für
Literatur~issenschaft und Geistesgeschichte. Nr.60 (1986), Heft 2, 5.249-272,
dort besonders S.250f:
"(.,. )man 'Wird heute leichter eine substantielle
Bedeutung der Goetheschen Naturforschungen einräumen 'Wollen
(. ,.) Dabei geht es
nicht um die Rehabilitation der Ergebnisse seiner Forschungen,
( .•• ).
Sondern
jene paradoxe Haltung,
die Kant als epochale Wendemarke respektiert,
und dennoch
einen Naturbegriff zu 'Wahren unternimmt,
der
im Kantschen Sinn "übersch'Wenglich"
ist, 'Wäre von heute aus tu lesen als das sensible Wahrnehmen davon, daß die
Fortschritte der Naturbeherrschung auch einen gravierenden Verlust bedeuten.~
e}Margret Bothe:
Goethe und Newton:
Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft,
In: Leviathan.
Jg.14,
Heft 1/1986, 5.36-60
f)Wolfdietrich Schmied-Ko'Warzik:
Ist Goethes Naturanschauung noch eine
Herausforderung gegenüber der heute herrschenden Naturwissenschaft? In:
Leviathan,
Jg.14,
Heft 1/1986,
5.61-77,
dort besonders 5.61:
"( ... )immer
deutlicher t r i t t uns inzwischen ins Bewußtsein,
daß Wissenschaft und Technik
nicht erst durch ihre An'Wendung korrumpiert werden,
sondern schon in ihrer
neuzeitlichen Formbestimmtheit jene heute offen zu Tage tretenden
zerstörerischen Momente in sich tragen."
g)Bodo von Greiff:
Über Wissenschaftskritik und Goethe.
In:
Der
Deutschunterricht.
Jg.39,
Heft 4/1987,
5.53-57
1
a

JJ4
"Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich,
es wälzt sich heran wie ein Gewitter,
langsam,
langsam; ab~~ es
hat seine Richtung genommen/
es wird kommen und treffen."(
2)
Das wie ein Gewitter langsam sich heranwälzende Maschinenwesen
- das in Deutschland damals erst einsetzende Industriezeitalter -
ist eine logische Folge der von der neuzeitlichen
Naturwissenschaft inszenierten Distanzierung des Menschen von der
Natur(B23). Und dagegen hat Goethe besonders durch seine Kritik an
Newtons optik erbittert gekämpft.
"Damit aber diese Lichter
(die Spektralfarben)
zum Vorschein
ko~~en, setzt er (Newton)
dem weißen Licht gar mancherlei
Bedingungen entgegen/ durchsichtige Körper, welche das Licht von
seiner Bahn ablenken,
undurchsichtige,
die es zurückwerfen,
andere,
an denen es hergeht; aber diese Bedingungen sind ihm nicht
einmal genug.
Er gibt den brechenden Mitteln allerlei Formen, den
Raum,
in dem er operiert,
richtet er auf mannichfaltige Weise ein,
er beschränkt das Licht durch kleine Öffnungen,
durch winzige
Spalten und bringt es auf hunderterlei Art in die Enge.
Dabei
behauptet er nun,
daß alle diese Bedingungen keinen anderen
Einfluß haben als die Eigenschaften, die Fertigkeiten (fits)
des
Lichtes rege zu machen,
so daß dadurch sein Innea~~ aufgeschlossen
werde, und was in ihm liegt,
an den Tag ko~~e." (
)
So schildert Goethe Newtons Experimentieren mit dem Licht.
Er tut
dies so umständlich, um zu zeigen, wie Newton die Natur habe
verstellen müssen,
bevor er zu dem Ergebnis gelangte, das er die
"Eigenschaften des Lichtes"
nannte.
Goethe beschreibt und
kritisiert einen Beobachtungsprozeß, bei dem zwischen dem
822)J.W.Goethe: Wilhelm Heisters Wanderjahre oder die Entsagenden.
In: Goethes
Werke, HA.
Bd.8, 5.429
823)"Zunächst ist zu sagen, daß der Newtonsche Wissenstyp die Natur unter dem
Aspekt des Herstellens, der techn~, präsentiert. Hehrfach ist gezeigt worden,
daß dazu eine prinzipielle Diatanzierung von Natur Voraussetzung ist.
Naturwissenschatlichea Wissen ist Ergebnis einer Trennung,

einer inszenierten
und methodisch erforderten Entfremdung von Natur." Hartmut Böhme, op.cit.,
257
824)J.w.Goethe:
Zur Farbenlehre.
Polemischer Teil,
in: Goethes Werke,
hrsg.
im
Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1902,
Bd.34/2,
5.8
'.
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beobachteten Objekt und dem Beobachtungsorgan, dem Auge, eine
ganze Vermittlungsapparatur liegt. Während für Newton "alle diese
Bedingungen keinen anderen Einfluß haben als die Eigenschaften
( ... ) des Lichtes rege zu machen",
bildet nach Goethes Auffassung
diese Apparatur mit dem zu beobachtenden Objekt ein neues Objekt.
Was das Auge mittels der Apparatur wahrnimmt,
ist eine
Verfälschung des Objektes bei direkter Beobachtung.
Indem das
direkte Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt beim Newtonsehen
Experimentieren aufgehoben wird, wird der Natur, und zwar im
Objekt und im Subjekt,
Zwang angetah.
Newton war indessen nur den Weg weitergegangen, den der
europäische naturwissenschaftliche Geist seit der Mitte des 16.
Jahurhunderts, mit der kopernikanischen Wende,
eingeschlagen
hatte, und welcher über das von Francis Bacon 1620 im Neuen
organon der Wissenschaften definierte Programm der
Naturbeherrschung,
Descartes' Konzept der universellen Mathematik
und Galileis experimentelle Widerlegung des Aristotelismus zu
seinem 1686 in principia Mathematica auf der Basis des Atomismus
und des Gravitationsgesetzes formulierten Weltsystem geführt
hatte.
Dieser neue Wissenstyp, der nach seinen Anfängen in der
Renaissance seine Apotheose in der AUfklärung feierte,
charakterisierte sich durch ein starkes Mißtrauen gegen die
empirisch-sinnliche Beobachtung. Diese wurde zunehmend durch
Beobachtungsapparate wie Mikroskop,
Teleskop u.s.w.
ausgeschaltet.
Die Naturforschung selbst setzte also nun Technik voraus. Die
Absicht war,
durch technische Konstruktionen das zu erforschende
Objekt dem beobachtenden Subjekt besser zugänglich zu machen.
Das
zu erforschende Phänomen mußte dazu künstlich in eine mathematisch
;,;;& 5:
.Ti
Ud
Eta

336
faßbare,
d.h. meßbare,
Situation versetzt werden, wie z.B.
bei
Galileis Versuchsanordnung zum Fallgesetz:
"( ... )auf einern Holzbrette von 12 Ellen Länge,
bei einer
halben Elle Breite und drei Zolle Dicke,
war( ... )eine Rinne von
etwas mehr als einern Zoll Breite eingegraben.
Dieselbe war sehr
gerade gezogen, und um die Fläche recht glatt zu haben,
war
inwendig ein sehr glattes und reines Pergament aufgeklebt;
in
dieser Rinne liess man eine sehr harte,
völlig runde und
glattpolierte Messingkugel laufen.
Nach Aufstellen des Brettes
wurde dasselbe einerseits gehoben,
bald eine,
bald zwei Ellen
hoch; dann ließ man die Kugel durch den Kanal fallen und
verzeichnete in sogleich zu beschreibender Weise die Fallzeit für
die ganze Strecke:
häufig wiederholten wir den einzelnen Versuch,
zur genaueren Ermittlung der Zeit,
und fanden gar keine
Unterschiede,
auch nicht einmal von einern Zehntheil eines
Pulsschlages. darauf ließen wir die Kugel nur durch ein Viertel
der Strecke laufen,
und fanden stets genau die halbe Fallzeit
gegen früher.
Dann wählten wir andere Strecken ( . . . ) bei wohl
hundertfacher Wiederholung fanden wir stets,
daß die strecken sich
verhielten wie die Quadrate der zeiten: und dieses zwar für
jedwede Neigung der Ebene( ... )"
Ober die Messung der Fallzeit berichtet Galilei wie folgt:
"Zur Ausmessung der zeit stellten wir einen Eimer voll Wasser
auf,
in dessen Boden ein enger Kanal angebracht war, durch den ein.
feiner Wasserstrahl sich ergoß, der mit einern kleinen Becher
aufgefangen wurde,
während einer jeder beobachteten Fallzeit: das
dieser Art aufgesammelte Wasser wurde auf einer sehr genauen Waage
gewogen; aus den Differenzen der Wägungen erhielten wir die
Verhältnisse g~s Gewichte und die Verhältnisse der
zeiten( ... )" (
)
Eine vollkommen glatte Kugel, die auf einer ebenfalls vollkommen
glatten Ebene rollt,
ist ein in der Natur sehr selten
anzutreffendes Phänomen.
In der Natur kommt eher vor, daß Körper
unterschiedlicher Beschaffenheit unter vielerlei mathematisch
meist schwer faßbare Bedingungen fallen.
Um das Fallgesetz
formulieren zu können,
hat deshalb Galilei das natürliche Phänomen
825)Galileo Galilei:
Unterredungen und ~athemati8che Demonstrationen über zwei
neue Wissenzweige,
die Mechanik und die Fallgesetze betreffend
(1638),
Deutsch,
Darmatadt 1973,
5.162.
Hier zitiert nach Bodo von Greiff,
op,cit.,
5.54
iwoo;;:r.;a,"i''''' U
o i

A
.&.

337
in eine mathematisch faßbare künstliche Situation nötigen müssen.
Dadurch allein können die Fallstrecke und die Fallzeit zueinander
in eine meßbare Beziehung gesetzt werden. Zur Messung der Fallzeit
hatte Galilei auch eine zusätzliche technische Konstruktion
herstellen müssen. Ganz im Sinne Goethes schreibt Hartmut Böhme
hierzu:
"Insofern das Experiment das zu Untersuchende herstellt
(konstruiert),
ist es techn~ - Technik. Es erzeugt kein w~~~en von
Natur, sondern poietisches Wissen (Herstellungswissen)."(
)
f
Für Goethe kann dieses Herrstellungswissen die Realität der Dinge
i
nicht ausschöpfen.
"Abbildungeri, wortbeschreibuni!9' Maß, Zahl und Zeichen
stellen noch kein Phänomen dar."(
)
Nicht daß Goethe der Maß- und Zahlenwissenschaft, der Mathematik,
jeden Wert in Erkenntnisangelegenheiten abgesprochen hätte. Er
zollte ihr vielmehr beschränkte Anerkennung (828).
"Der Mathematiker ist angewiesen aufs Quantitative, auf alles,
was sich durch Zahl und Maß bestimmen läßt, und also gewissermaßen
auf das äußerlich erkennbare Universum. I,(S.9)
Aber:
826)Hortmut Böhme, op.cit., 5.256
827jGoethes werke, HA/ Bd.12, 5.434
828}"Wir mUseen erkennen und bekennen, was Mathematik sei, wozu sie der
Naturforschung wesentlich dienen könne, wo hingegen sie nicht hingehöre,
und in
welche klägliche Abirrung wiseenechaft und Kunst durch falsche Anwendung seit
ihrer Regeneration geraten sei." Goethes Werke,
HA/ Bd.12,
5.454
829)Ebendo, 5.453
,

JJ8
"Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen I~Bt, so wie
sehr vieles, wa~ Öich nicht bis zum entschiedenen Experiment
bringen I~ßt."( J )
In Erkenntnisangelegenheiten unterscheidet Goethe n~mlich zwischen
einem "äußerlich erkennbaren"
und einem nicht mathematisch sondern
metaphysisch er faßbaren universum(8J1).
In seiner Schrift Der Versuch als Vermittler von Objekt und
Subjekt
(1792)
hat Goethe seine eigene Auffassung des
Experimentierens dargestellt. Seine Ablehnung der
Beobachtungsapparate gründet sich auf folgende Überzeugung:
"Da alles in der Natur,
besonders aber die allgemeinern Kr~fte
und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind,
so
kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen
andern in Verbindung stehe( ... ) Haben wir also einen solchen
Versuch gefaßt,
eine Erfahrung gemacht,
so können wir nicht
sorfältig genug untersuch~~2 was unmittelbar an ihn grenzt, was
zunächst auf ihn folgt." (
) .
Da auch jeder Beobachtungsapparat diesem Gesetz von Wirkung und
Gegenwirkung unterworfen ist, verwirrt er die natürliche
Wechselwirkung zwischen dem zu beobachtenden Objekt und dem
beobachtenden SUbjekt. In diesem Sinne schreibt Goethe:
"Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen
Menschensinn."(8JJ) .
830)Ebenda, 5.458
831)"Man kann in den Naturwissenschaften über manche Probleme nicht gehörig
sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu Hülfe ruf tl aber nicht jene 5chul-
und Wortweisheit: es ist dasjenige, was vor, mit und nach der Physik war,
iet
und sein wird." Ebenda,
5.454
832)J.W.Goethel Der Versuch als Ve~ittler von Objekt und 5ubjekt(1792). Inl
Goethes Werke, HA. Bd.13, 5.17-18
833)Goethes Werke, HA/
Bd.12, 5.430
.---------

339
Diese für das moderne wissenschaftsverständnis überholte
Einstellung Goethes erklärt sich dadurch, daß Experimentieren für
ihn ein wiederholtes Anschauen der lebendigen Natur bedeutet. Er
macht dabei einen wichtigen Untersch~ed:
"Betrachten wir( ... )dieses
(das Universum)
( . . . ) mit vollem
Geiste und aus allen Kräften,
so erkennen wir,
daß Quantität und
Qualität g~~ die zwei Pole des erscheinenden Daseins gelten
müssen."(
)
Während nun die mathematischen Beweisführungen und die
physikalischen Apparate nur das Quantitative im erscheinenden
Dasein behandeln können,
bezieht sich das menschliche Betrachten
auf dessen beide pole,
zugleich auf Quantität und Qualität.
Deshalb hält Goethe den Menschen,
"insofern er sich seiner
gesunden Sinne bedient",
für den "größten und genauesten
physikalischen Apparat, den es geben kann"(835). Nur dieses
Apparates,
fordert Goethe, dürfe sich der Naturforscher bedienen,
um die natürliche Verbindung mit der Natur zu bewahren. Er müsse
sich aber davor hüten,
endgültige Schlüsse aus einzelnen
isolierten Erfahrungen oder Versuchen zu ziehen.
834)Ebenda, 5.453
835)Ebenda, 5.458
-Erinnert sei hier an den Bergakademie-Professor Abraham Gottlieb Werner, den
Lehrer Novalis', mit dem Goethe u.a.
in Beziehung war, und der in ebenfalls ganz
vorneuzeitlicher Einstellung von der Benutzung von Instrumenten bei der
Untersuchung der Mineralien abriet,

und der atattdeasen das Wissen nach
sinnlichen Eindrücken systematisierte,
also nach qenauem Ansehen,
Betasten,
Beriechen, Abschmecken und Abwiegen.
-Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch.
daß der von 5enghor des öfteren
zitierte Ethnologe Dominique Zahan dem Kapitel
"Initiation et connaissance"
(Initiation und Erkenntnis)
seines Buches Religion.
spiritualit6 et pensAe
africaines
(Payot,
Paria 1970) merkwUrdigerweise als Motto einen Satz von Marcel
Mauss vorangestellt hat,
den dieser offensichtlich in Anlehnung an Goethe
formuliert hatte:
"Le corps est le premier et le plus naturel instrument de l·homme."
(D.Zahan,
op.cit., 5.87)

340
"Die Mannigfaltigung eines jeden einzelnen X~isuches ist also
eigentliche Pflicht eines Naturforschers."(
)
diese Mannigfaltigung des Versuches läßt der Beobachter die
beobachtete Erscheinung in ihrer Verflochtenheit mit dem Ganzen in
Raum und zeit auf sich einwirken, so daß er sympathetisch, d.h.
durch Teilnahme an der Produktion der "ilt\\lller schaffenden
Natur,,(837) , deren Sein durchschauen kann. Goethe spricht in
diesem zusammenhang von Urphänomen. Es ist das konkret anschaubare
Kodell der unter vielerlei Bedingungen, mit allen möglichen
Variationen in der konkreten Erscheinung zu beobachtende
Einzelphänomen, das sich dem beobachtenden Subjekt durch Teilnahme
an der lebendigen Realität des beobachteten Objekts dank seiner
:1.,'.~"produktiven Einbildungskraftl,(B3B) offenbart. Es ist Anschauung
~~;
'.
"i~~'I
"II"
.''.1":"
836) Der Vereuch ale Vermittler •.• , op.cit., 5.18
837)"Wenn wir ja im sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und
Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern
lollen; eo dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns,
durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur,
zur geistigen Teilnahme an
ihren Produktionen würdig machten." J .W,Goethe: Anschauende Urteilskraft. In:
Goethes Werke, HA, Bd.13, 5.30
838)"( ... ) trotz aller Vagheit und tastenden Vorläufigkeit seiner
erkenntnistheoretischen Oberlegungen hat Goethe das Grundproblem der
Wissenschaft vom Lebendigen klar erkannt:
Lebensprozease lassen sich weder
theoretisch noch praktisch von außen wie Dinge in ihren äußeren mechanischen
Beziehungen konstruieren,

sondern wir können ihre eigene naturhafte
Produktivität nur mit unserer produktiven Einbildungskraft nachzubilden
versuchen. Wir können dies letztlich aber nur deshalb,
da wir mit unserem
leiblichen und geistigen Sein selber teilhaben an dem in uns und durch uns
selbst fortwirkenden lebendigen Produktionszusammenhang der Natur." Wolfdietrich
Schmied-Kowarzik, op.cit., S. 70
-Ober die Bedeutung der Einbildungskraft beim Forschen sagte Goethe 1830 zu
Eckermann: "Ohne Einbildungskraft ist ein wirklich großer Naturforscher gar
nicht zu denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungskraft, die ins Vage
Qeht und sich Dinge imaginiert, die nicht existieren, sondern ich meine eine
solche, die den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt und mit dem Maßstabe des
Wirklichen und Erkannten zu geahnten, vermuteten Dingen schreitet." Zitiert nach
W.Schmied-Kowarzik, op.cit., 5.70

341
und Begriff zugleich(839), wie Goethe in bezug auf die Urpflanze
in einem Brief an Frau von stein vom 8.7.1787 betont:
"Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt,
über welches mich die Natur selbst beneiden soll.
Mit diesem
Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins
Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen,
d.h.: die, wenn
sie auch nicht existieren, doch existieren könnten, und nicht etwa
malerische oder dichterische Schatten und Scheine s~ng, sondern
eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben."( 4 )
Um zu einer solchen Naturerkenntnis zu kommen, muß der
Naturforscher die "Sprache der Natur" verstehen, was ein
bestimmtes Verhältnis zur Natur erfordert.
4.3.2
GOETHES NATURANSCHAUUNG UND DIE VON SENGHOR DARGESTELLTE
SCHWARZAFRIKANISCHE ONTOLOGIE
In Bedenken und Ergebung schreibt Goethe:
"Wir können bei Betrachtung des Weltgebäudes,
in seiner
weitesten Ausdehnung,
in seiner letzten Teilbarkeit, uns der
Vorstellung nicht erwehren,
daß dem Ganzen eine Idee zum Grund
liege, wornach Gott in der Natur,
die Natur in Gott,
von Ewigkeit
zu Ewigkeit,
schaffen und wirken möge. Anschauung,
Betrachtung,
Nachdenken führen uns näher an jene Geheimnisse.,,(841)
839) "Typus als konkrete Allgemeinheit heißt bei Goethe,
daß es sich hier um ein
Begriffliches und zugleich um ein Anschaubares handelt:
eine anschaubare
Begrifflichkeit." Alfred 5chmidt beim Rundfunkgespräch mit Rupert Riedl über
Goethes Naturwissenschaft in: Harald Eggebrecht
(Hrsg.): Goethe. Ein Denkmal
wird lebendig.
München u.
Zürich 1982,
5.33
840)
Zitiert Nach w. 5chmied-Kowarzik, op.cit., 5.70
841)Goethes Werke,
HA,
Bd.13, 5.31
IUS
ißt (
aN)

342
Diese an Spino~a anknüpfende Goethesche Grundvorstellung der Natur
ist vergleichbar mit der schwar~afrikanischen Auffassung der
Natur, welche Senghor u.a. folgendermaßen darstellt:
"Pour la philosophie n~gro-africaine,( .•. ) c'est l'änergie qui
est la substance de l'~tre, c'est-a-dire une force vitale qui
sous-tend tous les ~tants, voire les min~raux, tous les ph~nom~nes
et accidents de la nature( ... )
ear, sortis tous du sein de Dieu, nous ne sommes tous que des
parcelles de la divinit~: des ~tants ou existants de l'Etre-
Force."
(842)
Diese auch bei dem senghorschen Schwar~afrikaner an~utreffende,
pantheistisch anmutende Überzeugung von der durch die Identität
zwischen Gott und Natur bedingte Zusammengehörigkeit von Mensch
und Natur liegt Goethes Naturforschung zugrunde. Naturforschung
besteht dann für ihn darin,
daß der Naturforscher durch intensives
Erleben und genaues Beobachten seiner Zusammengehörigkeit mit der
Natur die Naturphänomene zu durchschauen, d.h. deren schaffende
Kraft ~uverstehen sucht. Das ist mit folgender Aussage Goethes
gemeint.
"Bei Betrachtung der Natur im Großen wie im Kleinen hab'
ich
unausgesetzt die Frage gestellt: Ig! es der Gegenstand oder bist
du es, der sich hier ausspricht?" (
3).
Es voll~ieht sich also bei der Erforschung der Natur im sinne
Goethes eine solche Durchdringung von beobachtetem Objekt und
842)"Für die schwarzafrikanische Philosophie( •.. )ist die Energie die Substanz
des Seins, d.h. eine Lebenskraft, die allen Seienden,
ja allen Mineralien,
allen
Erscheinungen und Vorfällen der Natur zugrundeliegt( •.. )
Denn, aus Gottes Schoße hervorgegangen, sind wir alle nur Teilchen der
Gottheit: Seiende oder Existierende des Kraft-Seins." L.S.Senghor:
Pourguoi une
id~ologie n~gro-afric.ine? In, Libert§ 3, N~gritude et Civilisation de
l'Universel,
Ed.
du Seuil, Paris 1977, 5.304
843)Goethes werke, HA,
Bd.12,
5.435

beobachtendem Subjekt, daß beide sich einander angleichen. Nichts
Anderes meint Senghor, wenn er schreibt:
"contrairement ä l'erotisme, en vogue aujourd'hui dans la
civilisation euramericaine, la sensualite( ..• )est la faculte innee
qu'ont les Noirs de saisir et vivre le monde exterieur par tous
leurs sens:
la vue et l'ouie,
le goUt et l'odorat, et le toucher,
et d'autres sens encore innommes. Saisir donc le monde exterieur
dans ses qualites sensibles, vivre dans ses formes,
couleurs et
mouvements, dans ses timbres et rythmes tant musicaux que
plastiques, dans ses sucs et saveurs, dans ses odeurs et senteurs,
dans sa texture et son tissu, dans sa peau comme dans son grain.
Le vivre, c'est-ä-dire, par-delä le plaisir des sens, s'identifier
ä l'objet, devenu l'Autre. dans la joie de aa communion. dans le
sentiment de laplenitude: du plus-etre.,,(8 4)
Goethe als Naturforscher und der Senghorsche Schwarzafrikaner
machen also gleiche Erfahrungen beim Umgang mit der Natur. sie
erleben die Identität von Objekt und Subjekt aufgrund der
Zusammengehörigkeit von Mensch und Natur. Denn:
"Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt und noch etwas mehr.
Alles, ~ag im Objekt ist, ist im Subjekt und noch etwas
mehr.,,(84 )
Dieses "Mehr", dieses "unbekannte Gesetzliche", wie Goethe es auch
nennt(846), sowohl im Objekt als auch im Subjekt entspricht der
844)"rm Gegensatz zu der heutezutage in der europäisch-amerikaniechen
Zivilisation Hode gewordenen Erotik ist die Sinnlichkeit( .•• )die den Schwarzen
angeborene Fähigkeit, die Außenwelt mit allen Sinnen zu ergreifen und zu
erleben: mit dem Gesicht und dem Gehör, dem Geschmack und dem Geruchsvermögen,
dem Tasten und anderen noch unbenannten Sinnen. Also die Außenwelt in ihren

sensiblen Eigenschaften ergreifen,
in ihren Formen,
Farben und Bewegungen,
ihren
Klängen und sowohl musikalischen als auch plastischen Rhythmen, in ihren Säften
und Würzen,
ihren Gerüchen und Düften,
in ihrem Gewebe und Stoff,
in ihrer Haut
wie in ihrem Korn leben. Sie erleben, d.h. über die Sinnenlust hinaus, sich mit
dem Objekt identifizieren. welches der Andere geworden ist. in der Freude der
Kommunion.
im Gefühl der Fülle: des Mehr-Seins." L.S.Senghor: Pourquoi une
id~ologie n~gro-africaine, op.cit., S.30?f. Hervorhebung von mir.
845)Goethes Werke, HA, Bd.12, S.436
846)"Es ist etwas unbekanntes Gesetzliches im Objekt, welches dem unbekannten
Gesetzlichen im Subjekt entspricht." Ebenda, S.436
'WF,1lAhtL"ia 4:
h ;;::. M54ii. $ .4 40; ». i it '.

Eigenheit jeder Entität. Hier tritt eine Grundrealität hervor, die
Goethe wahrgenommen hatte und welche fordert,
daß in der
Wissenschaft des Lebendigen das zu erforschende Objekt lebendig
und phänomenologisch untersucht wird.
Ernst Cassirer, einer der
Goethe-Interpreten, die jene GrundeinsteIlung Goethes gut
begriffen haben, macht in diesem zusammenhang auf die Bedeutung
des Begriffes "Metamorphose" bei Goethe aufmerksam, welcher eine
Goethesche anschauliche Formulierung dessen sei, was er,
Cassirer,
als produktiven Gegensatz von "Freiheit"
und "Form" definiert.
"Jetzt erkennt man, wie dieser Gedanke
(der "Metamorphose")
für ihn (Goethe)
nicht nur die Organisation des physischen,
sondern auch die des geistigen Seins bestimmt( . . . ) Er ist es( ... ),
der der "Anschauung", der "produktiven Einbildungskraft",
der
"Vernunft" ihre bestimmte Bedeutung verleiht und zugleich das
einheitliche ziel feststellt,
auf das sie( ... )bezogen sind.
Ein
stetig Werdendes, rastlos Tätiges, das jedoch sich Maß und
Schranke setzt, das ist für Goethe nunmehr das Leben des Geistes,
wie es das Leben der Natur war. Nun erhellt sich völlig was das
Gedicht "Die Metamorphose der Tiere" aussprach( . . . ):
"Was kann der
Mensch im Leben mehr gewinnen, als daß sich Gott/Natur ihm
offenbare, wie sie das Feste läßt zu Geist zerrinnen, wie sie das
Geisterzeugte fest bewahre?"
Denn nur miteinander wirken beide
Grundtendenzen( ... ) Das Gebilde löst sich in den Prozeß auf; aber
der Prozeß strebt wieder dem Gebilde zu( ... )Für ihn gibt es kein
fixiertes Weltbild,
sondern nur eine Welt,
die sich durch
Gegensätze hindurch, durch "Polarität" und "Steigerung" beständig
erneuert. Nur die Richtung dieses Prozesses, nicht sein ziel ist
uns auszusprechen vergönnt( ... ) In solche Tiefe hat Goethe die
Grundfrage,
( ... ) den Gegensatz und die wech~~7beziehung von
"Form"
und "Freiheit"
erfaßt und gedeutet."(
)
In seinem Buch Goethes Naturanschauung und die exakte
Naturwissenschaft
(1949)
erklärt Theodor Litt die Goethesche Idee
der Wechselbeziehung von Objekt und Sujekt bei der Betrachtung der
Außenwelt noch deutlicher. Dort heißt es nämlich:
;:
;:
"Die produktive Lebendigkeit der im Betrachter geschehenden
Erkenntnistätigkeit ist zuletzt Äußerung derselben schaffenden
847)Ernst cassirer. Goethe. In. Derselbe. Freiheit und FOrm. Studien zur
deutschen Geistesgeschichte(1916j, Darmstadt 1961, 5.242

345
Kraft, deren Werk er im Betrachteten vor Augen hat. HUben und
drüben arbeitet dieselbe schöpferische Urgewalt.
Das "Anschauen
einer immer schaffenden Natur" ist in Wahrheit( ... ), geistige
Teilnahme an ihren Produktionen",
ist ein Einswerden mit der ihre
Geschöpfe beseelenden Werdelust,
ist ein "Mitsti=en ins Ganze".
So gehört der Vorgang der Naturerkenntnis selbst dem umfassenden
Ganzen an, das er ergründen möchte.
In ihm erlebt der Mensch das
sichregen derselben Kraft, die das Universum zeugend
durchwaltet( ... ) Denn was durch Goethes ~aturdeutung geschieht,
das ist in Wahrheit nichts Geringeres als die Wiederherstellung
jenes ursprünglichen Verhältnisses zwischen der von Sinn erfüllten
welt und dem den weltsinn erfahrenden Menschen, das der Expansion
des messenden und rechnenden Denkens völlig zum Opfer zu fallen
droht." (848)
Als Beleg zu dieser Deutung kann folgende Bemerkung angeführt
werden, welche Goethe selbst im historischen Teil der Farbenlehre
in bezug auf den Physiker und Chemiker Robert Boyle
(1627-1691)
ganz teilnehmend machte:
"Die Scheidung zwischen Geist und Körper,
Seele und Leib, Gott
und welt war zustande gekommen.
Sittenlehre und Religion fanden
ihren Vorteil dabei: denn indem der Mensch seine Freiheit
behaupten will, muß er sich der Natur entgegensetzen; indern er
sich zu Gott zu erheben strebt, muß er sie hinter sich lassen, und
in beiden Fällen kann man ihm nicht verdenken, wenn er ihr so
wenig als möglich zuschreibt,
ja wenn er sie als etwas
Feindseliges und Lästiges ansieht. Verfolgt wurden daher solche
Männer, die an eine wiedervereinigung des Getrennten dachten. Als
man die teleologische Erklärungsart verbannte,
nahm man der Natur
den Verband; man hatte den Mut nicht,
ihr Vernunft zuzuschreiben,
und sie blieb zuletzt geistlos liegen. Was man von ihr verlangte,
waren technische, mechanische Dienste, und man fand sie zuletzt
auch nur in diesem Sinne faßlich und begreiflich.,,(849)
Mitten im Zeitalter der Aufklärung stellt sich Goethe also auf
die seite derjenigen, die wie Georg Hamann, Herder und die
Romantiker gegen die neuzeitliche Auffassung des Verhältnisses
zwischen Mensch und Natur kämpften.
848)Theodor Litt: Goethes Naturanschauunq und die exakte
Naturwissenschaft(1949).
In:
Derselbe: Naturwissenschaft und Menschenbildunq,
(J.Aufl.), Heidelberq 1959/ Das Zitat dort S.156f
849)Goethes Werke, HA, Bd.14, 5.122

346
Somit redete er auch schon dem Negritude-Theoretiker Senghor
das Wort, der, wie gezeigt, sich als Schwarz afrikaner von der
Weimarer Klassik deshalb angesprochen fühlte, weil sie das
griechiesche Ideal vom Ausgleich zwischen Vernunft und
Sinnlichkeit pflegte, ein Ideal, welches auf einer der
schwarzafrikanischen ähnlichen ontologie beruhte, nach der eben
keine "Scheidung zwischen Geist und Körper, Seele und Leib, Gott
und Welt" besteht, Geistiges und Materielles im Mikrokosmos, dem
Menschen, wie im Makrokosmos, dem Universum, zusammengehören, ja
miteinander verflochten sind. In demselben Sinne ist bei dem von
Senghor oft zitierten Ethnologen Dominique Zahan über das
Verhältnis des Schwarzafrikaners zum Universum zu lesen:
"( .•. ) le corps de l'homme et le monde constituent deux
entit~s ins~parables, pens~es l'une par rapport! l'autre.,,(850)
oder an anderer Stelle:
"( ... )il existe dans la mentalit~ africaine une correspondance
~troite entre l'homme et le monde; ces deux entit~s sont comme
deux miroirs plac~s face ! face qui se renvoient leurs images
r~ciproques: l'homme est un microcosme qui reflete le grand monde,
le macrocosme, et celui-ci, ä son tour, reflete l'homme."(851)
Diese Erweiterung des Menschen zum Universum zeigt der
Verfasser von wilhelm Meisters Wanderjahre durch das Figurenpaar
Makarie-Montan. Während Makarie wie ein lebendiger
850)"( •.• ) Der Körper des Menschen und die Welt machen zwei untrennbare, in
bezug aufeinander gedachte Entitäten aus." D. Zahan, op.cit., S.92
851)"( •.• ) es gibt in der afrikanischen Mentalität einen engen Zusammenhang
zwischen dem Menschen und der Welt; diese beiden Entitäten sind wie zwei
einander gegenüber gestellte Spiegel, die sich ihre 8ilder gegenseitig
zurückwerfen. der Mensch ist ein Mikrokoemos, der die große Welt, den
Makrokosmos, widerspiegelt, welcher seinerseits den Menschen widerspiegelt."
Ebenda, S.106

347
Raumforschungsapparat alles im Weltraum spürt, weiB Montan dank
der "terrestrischen Frau" alles, was im Erdinnern vorgeht. FUgt
man nun Wilhelm, den Wundarzt, hinzu, so entsteht die
Konstellation Makarie-Montan-Wilhelm, in welcher Hartmut Böhme
die Absicht des Verfassers sieht,
"das Wissen von Himmel, Erde und M"enschen - A~s5onomie,
Montanwissen, Medizin - zur Einheit zu bringen." (
)
Denn:
"In der theoretischen Alchemie ging es wesentlich um den
Entwurf der Göttlichkeit des gesamten Naturzusammenhangs, der
darin sich offenbart, daß der Leib der Erde, der menschliche Leib
und der Kosmos ein lebendiges, harmon~55hes, in seiner Dynamik
polar strukturiertes Ganzes bilden." (
)
.
Naturerkenntnis - Erkennen überhaupt - auf der Basis einer
solchen Auffassung des Verhältnisses Mensch/Natur erfordert eine
spezielle Pädagogik. Man muß zuerst lernen, sich seiner Sinne zu
bedienen, die Sprache der Natur zu verstehen und auf sie ständig
zu horchen. Denn ihre schaffende Kraft wirkt permanent und
überall. Dies wird Wilhelm Meister in seinen Lehrjahren durch die
Turmgesellschaft und besonders in seinem Lehrbrief geoffenbart.
Erkennen vollzieht sieh, wie Hartmut Böhme ebenfalls zutreffend
formuliert, als:
"Lesen der Chiffrenschrift der Natur, als vernehmgg der
Sprache, in der die Natur figürlich zu uns spricht."(
4)
852)Hartmut Böhme, op.cit., 5.267
853)Ebenda. 5.267f
854)Ebenda, 5.268
---.----" ..._..-._.- _..~...........------ ~--

348
Und dies geschieht vornehmlich durch das Erleben der welt,
durch das Nachdenken und Meditieren darüber. Montan vermittelt das
Wilhelm als die gr~ßte Lebensweisheit:
"Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller
Weisheit( ... ) Beides muß wie Aus- und Einatmen sich im Leben ewig
fort hin und her bewegen;
( ... ) Wer sich zum Gesetz macht ( .•. )/
das Tun am Denken, und das Denken am Tun zu prüfen, der kann nicht
irren, und irrt 5S' so wird er sich bald auf den rechten Weg
zurückfinden.,,(8
)
Auf ähnlichem Weg soll auch der Senghorsche Schwarzafrikaner
zur Erkenntnis gelangen.
"( ... )le savoir n~gro-africain forme un systäme coh~rent,
sinon logique, d'id~es et de pratiques. Mais il convient de mettre
l'accent sur le däsRier mot. Le savoir est moins dogme qu'id~es
v~cues, praxis."(
)
Daß der Schwarzafrikaner, wenn er die von der Tradition
festgesetzte höchste Bildungsstufe erreicht hat, sich im Gegensatz
zu den meisten europäischen Mystikern nicht von dem normalen,
gesellschaftlichen Leben absonderte(857), sei dieser
Grundforderung in Erkenntnisangelegenheiten zuzuschreiben.
Eigentlich gibt es keine Grenze beim Erwerb von Erkenntnissen. Die
Wechselbeziehung zwischen dem "Denken" und dem "Tun", zwischen der
durch Erfahrung gewonnenen Idee und der zu erlebenden Realität
bleibt permanent im Rahmen des Prinzips von Polarität und
steigerung.
855)Wilhelm Meisters Wanderjahre, Goethes Werke, HA, Bd.8, 5.263
856)"( ••. ) das schwarzafrikanische Wissen bildet ein kohärentes, nachgerade
logisches System von Ideen und Praxis. Aber man muß den Akzent auf das letzte
Wort legen. Das Wissen ist weniger Dogma als erlebte Ideen, als Praxis."
Senghor. Pourquoi une id§ologie n§gro-africaine, op.cit., 5.307
857)Ebenda, 5.307

34
Goethes Naturanschauung, worauf sein Wissenschaftsverständnis
beruhte, weist im Wesentlichen eine große Nähe zu der von Senghor
dargestellten schwarzafrikanischen Ontolgie auf. Daß Senghor den
neuen Schwarz afrikanern den Naturforscher Goethe als Modell zur
Übernahme der europäischen naturwissenschaftlichen Fortschritte
empfiehlt, kann auf zweierlei Weise interpretiert werden. Es
könnte einerseits daraus gefolgert werden, Senghor habe Goethes
Auffassung der Naturwissenschaft mißverstanden; denn, wie schon
gesehen, ist der Naturforscher Goethe kein Repräsentant des
modernen europäischen
wissenschaftlichen Geistes.
Andererseits war Senghor wohl bekannt, daß Goethes
naturwissenschaftliches Werk umstritten ist. Er wußte sicherlich
auch, worin es der herrschenden Auffassung von moderner
Naturwissenschaft nicht entspricht. Daß er den Naturforscher
Goethe als Modell empfiehlt, kann also durchaus auch heißen, daß
er als Negritude-Theoretiker dessen Auffassung von
Naturwissenschaft teilt, daß ihm der Naturforscher Goethe also als
Modell eines wissenschaftlers im sinne der N~gritude gilt. Wenn
Senghor empfiehlt, daß die "neuen Schwarz afrikaner" sich die
europäischen naturwissenschaflichen Fortschritte aneignen sollten,
so versäumt er auch in diesem Punkte nicht, die Weise zu
unterstreichen, wie dies erfolgen sollte. Auch in diesem Fall
sollte das nämlich auf dem Weg einer aktiven Assimilierung (dans
une assimilation active) geschehen. Das bedeutet in diesem
Zusammenhang, daß die Schwarzafrikaner Naturwissenschaft treiben
sollten, ohne ihre durch die schwarzafrikanische Kosmophilosophie
bedingte natürliche Verbindung mit der Natur einzubüßen. Damit
wäre der N~gritu~e-Theoretiker Senghor aber mit der entscheidenden
Frage konfrontiert gewesen, ob wissenschaftlich-technische

350
Fortschritte ohne Verlust jener Verbindung mit der Natur überhaupt
möglich seien.
Diese Frage hat sich Senghor offensichtlich deshalb nicht
gestellt, weil er davon überzeugt war, daß die von ihm postulierte
Mischkultur, zu deren verwirklichung die Negritude der Öffnung
beitragen würde, solche Gefahren nicht zu befürchten habe, die
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik in der Unmöglichkeit sieht, zugleich
Goethe und Newton zu folgen(858). Senghors Vorstellungen werden
indessen von seinem Landsmann Souleymane Niang aufgegriffen, der,
Mathematiker und Anhänger der Negritude-Bewegung, eine Befruchtung
der Mathematik durch die Negritude für möglich hält(859).
8S8)Vgl.dazu Wolfdietrich 5cnmied-Kowarzik, op.cit., insbebondere dort 5.77.
"Wenn ( •.. ) die in den neuzeitlichen Wissenschaften implizierte Entfremdung von
der Natur sich als nicht zu bändigender, fortschreitender Entzweiungs- und
Zerstörungsprozeß erweist, dann kann es kein friedliches Nebeneinander mit ihnen
geben, sondern nur ihre radikale Aufhebung. Dann hatte aber Goethe doch recht in
seiner unversöhnlichen Haltung gegenUber Newton. Und die naturphilosophischen
Ansätze von GoatMe, Novalis und vor allem von Schelling erweisen sich als
Vorboten einer von uns erst noch zu erkämpfenden Allianzbeziehung ( ••. ) zwischen
Mensch und Natur."
8S9)vgl. dazu 50uleymane Niang. N~gritude et math~matique. In. Gisela Sonn
(Hrsg): Le 5~n~gal ~crit. Horst Erdmann Verlag, Tübingen, Les NEA Oakar 1980,
5.113-127, insb. 5.122.
"La N~gritude va donc enrichir la p6dagogie des
math6matiques en y d6veloppant la strat~gie heuristique. Par la vertu du
dialogue, un v~ritable enseignement socratique pourra s·instaurer( .•• )" (Die
N6gritude wird also die Pädagogik der Mathematik bereichern, indem sie darin
eine heuristische Strategie entwickeln wird. Durch die Möglichkeit des Dialogs
wird sich darin ein sokratischer Unterricht herstellen lassen( ••. )
~~;:ii~~;?~~j#~"?5~~:i:~~-:u-
'"

-Forster (Johann Georg): Noch etwas über die Menschenrassen
(1786). In: Georg Forsters Werke, bearb. von 5iegfried Scheibe,
5erlin 1974, 5d.8, 5.1]0-155
-Derselbe: Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit.
In: Georg Forsters Werke, op.cit., Bd.8, 5.185-193
-Galilei (Galileo): Unterredungen und mathematische
Demonstrationen über zwei neue Wissenzweige. die Mechanik und die
Fallgesetze betreffend (1638), Deutsche Fassung, Darmstadt 1973
-Gleim (J.W.L.): 5ebastian Wisch, der Neger in 5urinam an seinen
Freund william Knirps zu Fernambuk (1785). Hrsg. von Jürgen
Stenzel, 5tuttgart 1970
-Gnäba Kokora (Michel): Une äme n~gro-africaine
face au message du
romantisme allemand. In: N~gritude et Germanit~. L'Afrigue Noire
dans la litterature d'expression allemande. Actes du 12e Congres
de AGE5 12-15 Avril 1979 a Dakar. Nouvelles Editions Africaines,
Dakar 1983, 5.129-136
-Derselbe: Ein Beispiel der Beziehungen zwischen westeuropäischer.
und schwarzafrikanischer Literatur. In: Dialog Westeuropa-
Schwarzafrika. Inventar und Analyse der gegenseitigen Beziehungen.
Wien, München, Zürich und Innsbruck 1979, 5.155-162
-Goethe (Johann Wolfgang von): per ZauberflÖte zweiter Teil (1798)
In: Goethes poetische Werke. Vollständige Ausgabe, 5tuttgart 1959,
Bd.3, 5.521-536
I
-Derselbe: Dichtung und Wahrheit. Werke, Hamburger Ausgabe,
München 1982, Bd.9 u.l0
I -Derselbe: Zum 5hakespeares-Tag (1772). In: Werke, Hamburger
I,
Ausgabe, op.cit. Bd.12, 5.224-228
i
-Derselbe: von deutscher Baukunst(1771}. In: Werke, Hamburger
Ausgabe, op.cit., Bd.12, 5.7-15
-Derselbe: Götz yon Berlichingen (1773). In: Werke, Hamburger
Ausgabe, op.cit., Bd.4, 5.73-175
-Derselbe: Eqrnont (1788). In: Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit.,
Bd.4, 5.370-454
-Derselbe: Prometh~us. In: Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.1
5.44-46
-Derselbe: Ganymed. In: Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.1
5.46-47
-Derselbe: Grenzen der Menschheit. In: Werke, Hamburger Ausgabe,
op.cit., Bd.l, 5.146-147
-Derselbe: Das GÖttliche. In: Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit.,
Bd.l, 5.147-149
-Derselbe: Über Kunst und Altertum, Bd.l, zweites Heft (1828). In:
Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.12, 5.142-164
I
Ii
I
i

350
Fortschritte ohne verlust jener Verbindung mit der Natur überhaupt
möglich seien.
Diese Frage hat sich Senghor offensichtlich deshalb nicht
gestellt, weil er davon überzeugt war, daß die von ihm postulierte
Mischkultur, zu deren Verwirklichung die NegritUde der Öffnung
beitragen würde, solche Gefahren nicht zu befürchten habe, die
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik in der Unmöglichkeit sieht, zugleich
Goethe und Newton zu folgen(858). Senghors Vorstellungen werden
indessen von seinem Landsmann Souleymane Niang aufgegriffen, der,
Mathematiker und Anhänger der Negritude-Bewegung, eine Befruchtung
der Mathematik durch die Negritude für möglich hält(859).
;.
858)vgl.dazu Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, op.cit., insbebondere dort 5.77.
"Wenn ( ••. ) die in den neuzeitlichen wissenschaften implizierte Entfremdung von
der Natur sich als nicht zu bändigender,
fortschreitender Entzweiungs- und
Zerstörungsprozeß erweist, dann kann es kein frisdliches Nebeneinander mit ihnen
geben, sondern nur ihre radikale Aufhebung. Dann hatte aber Goethe doch recht in
seiner unversöhnlichen Haltung gegenüber Newton.
Und die naturphilosophischen
Ansätze von Goethe, Novalis und vor allem von Schelling erweisen sich als
Vorboten einer von uns erst noch zu erkämpfenden Allianzbeziehung ( ••. ) zwischen
Mensch und Natur."
859)vgl. dazu Souleymane Niang: Negritude et mathematique. In. Gisela Bonn
(Hrsg)1 Ls senegal ecrit. Horst Erdmann Verlag, Tübingen, Les NEA Oakar 1960,
5.113-127, insb. 5.122,
"La N~gritude va donc enrichir la p~dagogie des
mathematiques en y developpant la strategie heuristique. Par la vertu du
dialogue, un veritable enseignement socratique pourra s'instaurer( ... )"
(Die
Negritude wird also dis pädagogik der Mathematik bereichern, indem sie darin
eine heuristische Strategie entwickeln wird. Durch die Möglichkeit des Dialogs
wird sich darin ein sokratischer Unterricht herstellen lassen( ••• )

351
5
ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNG
5.1 EINE BILANZ
Aus dieser Studie erhellt, daß die Kolonisation die Rezeption
der deutschen Philosophie und Literatur der Goethezeit im
frankophonen Schwarzafrika nicht nur ermöglicht, sondern bisher
auch exklusiv geprägt und orientiert hat.
Da alle Rezipienten Opfer der europäischen Expansion sind, ist
ihre Reaktion auf die Kultur der Goethezeit von dieser Situation
stark bestimmt worden. Zwei Grundtenzen sind festzustellen.
Die eine ist ablehnend. sie wird von Intellektuellen vertreten,
die sich mit Autoren der Goethezeit - meist Philosophen - als
Repräsentanten eines europäischen imperialistischen Denkens
auseinandersetzen, gegen welches sich ein schwarzafrikanisches zu
behaupten hat. Meist wird mit diesen Autoren der Goethezeit in
völliger Unkenntnis ihres geschichtlichen Zusammenhanges
umgegangen. Andere schwarz afrikanische Intellektuelle aber - meist
handelt es sich dabei um Germanisten - nehmen diese ablehnende
Haltung in voller Kenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge der
Goethezeit ein. Sie wissen, daß aufgrund einer kulturellen,
zeitweise auch politischen Herrschaft Frankreichs über das
Deutschland der Goethezeit die deutsche Intelligenz dieser Epoche
im allgemeinen den Wert der Freiheit und der selbständigkeit zu
schätzen wußte. Es ist ihnen nicht unbekannt, daß der von der
AUfklärung gehegte Kosmopolitismus bei der damaligen deutschen
Intelligenz das Bewußtsein nicht hat schwächen können, daß die
~.•...Fr

3
Deutschen wie alle Völker der Welt eine unaustauschbare Entität
bilden, welche sie zu verteidigen haben. Man muß sie nicht lehren,
daß die philosophisch-politische Grundidee des Sturm und Drang und
der deutschen Romantik darin bestanden hat, daß die Bewahrung und
Behauptung der kulturellen Identität und der politischen
Selbständigkeit der Deutschen nicht auf Kosten anderer Nationen
geschehen sollte, daß jede Nation, wie die deutsche, das Recht auf
solche kulturelle und politische Eigenheit hat.
Angesichts der jüngsten Geschichte Deutschlands aber -
besonders in seinen afrikanischen Kolonien - gilt die Goethezeit
mit ihren vorwiegend humanitären und antikolonialistischen Ideen
jenen schwarzafrikanischen Germanisten, die meist aus ehemaligen
deutschen Kolonien stammen, als gleichsam endgültig tote
Vergangenheit. Denn die heutigen Deutschen stehen für sie nicht in
der Tradition Johann Gottfried Herders, des Autors der Briefe zu
BefÖ~derung der Humanität (1794), sondern in der Tradition Hegels
und seiner Philosophie der Geschichte. Wohl haben sie auch Leo
Frobenius gelesen, aber in ihm sehen sie mehr den Autor von ~
dem Wege nach Atlantis (860) als denjenigen der KUlturgeschichte
Afrikas (861). Den können sie also mit seiner
kulturmorphologischen These einer Seelenverwandtschaft zwischen
Deutschen und Schwarzafrikanern beim besten Willen nicht
ernstnehmen. Er führt sie nicht zu Herder, nicht zum Sturm und
Drang und zur deutschen Romantik, sondern zu Hegel und zu dem
rassistischen Kolonialideologen Christoph Meiners. Er führt sie in
die Gedankenwelt, welche ihren Triumph im Dritten Reich feierte.
860)In dieeem Werk entwirft Frobenius ein auf Afrika bezogenes
Kolonisationsprojekt. Vgl. dazu Simo, op.cit., S.198f
86l)In dieeem Werk (op.cit.,· S.lOff) verteidigt Frobeniue Afrika gegen die
Vorurteile der Europäer.

353
Für sie ist selbst Goethe nicht ein früher Ver fechter der
kulturellen Identität und des Kulturdialogs, sondern ein ferner
Befürworter der Apartheid und der Unterdrückung und Ausbeutung
nicht-europäischer, insbesondere schwarzafrikanischer Völker durch
die Europäer(862). Dieser negative Aspekt sowohl in Goethes Werk
als auch bei manchen seiner Zeitgenossen ist tatsächlich
vorhanden, aber so verborgen, daß sein AUfdecken einiger
germanistischer Kompetenz bedarf.
Die andere Tendenz charakterisiert sich durch eine große
Sympathie für die deutsche Kultur allgemein und besonders für die
Goethezeit. Als Nicht-Germanist mag Senghor, der Bahnbrecher und
Hauptvertreter dieser Tendenz, die negativen Aspekte der
Goethezeit übersehen haben. Den Germanisten aber, die ihm auf
diesem Weg gefolgt sind, sind sie nicht unbekannt. Allein die
Aneignung der emanzipatorischen philosophisch-politischen
Grundidee der Stürmer und Dränger und der deutschen Romantiker ist
ihnen deshalb leichter gefallen, weil sie sich als frankophone
Schwarzafrikaner gegen das Hegemonialdenken desselben europäischen
Volkes wie die deutsche Intelligenz der Goethezeit zur Wehr zu
setzen hatten.
Die schwarzafrikanische Sympathie für die Goethezeit erweist
sich als aufschlußreich, sobald der Gegensatz zwischen
Kolonisiertem und Kolonialherrn, der die schwarzafrikanische
Rezeption der Goethezeit bisher geprägt hat, zugunsten des
Gegensatzes zwischen Tradition und Moderne zurücktritt. Letzterer
bildet den Reflexionsrahmen, in dem Goethe und die Goethezeit in
862)vgl. Kum'a Ndumbe 111. L'Afrigue et les Allemagnes. In. N4gritude et
Gerroanit4, NEA, Dakar 1983, 5.233-248, besonders das Motto zu dieser Studie,
worauf schon aufmerksam gemacht worden ist.
1
-,

354
fII
I
der Dritten Welt im allgemeinen und im besonderen in Schwarzafrika
Zukunft haben können.
5.2. DIE ZUKUNFT GOETHES UND DER GOETHEZEIT IM FRANKOPHONEN
SCtlWARZAFRIISA
Als Ausdruck der Besorgnisse von deutschen Schriftstellern und
Philosophen über einen unwiderruflichen und schonungslosen
Übergang von vormodernen zu modernen Lebensverhältnissen sind
Literatur und Philosophie der Goethezeit heute in dem Maße von
Bedeutung für Entwicklungsländer, als diese sich gegenwärtig in
einem vergleichbaren Prozeß befinden.
In Europa war die vormoderne Weltvorstellung in ihrer antiken
Form bei den alten Griechen, in ihrer christianisierten Form im
Neuplatonismus und besonders in der mittelalterlichen Mystik zu
finden. Damals war die philosophie allein, dann zusammen mit der
Theologie, die Wissenschaft überhaupt. Es herrschte ein
Totalitätsdenken auf der Grundlage einer Weltanschauung oder eines
alles verbindenden Glaubens.
In der Neuzeit haben vorwiegend deutsche Denker - besonders der
Goethezeit - immer wieder versucht, diesem Totalitätsdenken treu
zu bleiben. Daß gerade deutsche Schriftsteller und Philosophen im
sich formierenden neuzeitlich-europäischen Denken die Kontinuität
zur vormodernen Weltvorstellung aufrecht erhalten haben, könnte
dazu verleiten, diese geschichtlich fixierbare Erscheinung als
eine Wesensart der Deutschen zu deuten. So wird verständlich, daß
Menschen aus vormodernen Kulturen wie der L60pold S6dar Senghor

355
der dreißiger Jahre, die noch zudem ihre kulturelle Identität
gegen eine aufgezwungene neuzeitlich-europäische Kultur zu
verteidigen hatten, dieser Täuschung verfallen konnten, zumal sie
von einem deutschen Wissenschaftler, Leo Frobenius, als
wissenschaftliche Wahrheit verbreitet wurde. Eine Sympathie für
die deutsche Kultur, besonders für die der Goethezeit, sollte sich
aber nicht länger im Glauben an eine von Frobenius behauptete
Seelenverwandtschaft zwischen Deutschen und Schwarz afrikanern
kristallisieren und sich nicht länger darin auswirken, die
schwarzafrikanische kulturelle Identität in der Goethezeit zu
spiegeln. Sie sollte vielmehr als Ansatz zur Reflexion über
gegenwärtige Modernisierungsprozesse und zur Kritik an einem
bedenkenlosen Einstieg in die Moderne genutzt werden.
Die Ähnlichkeit, die Senghor 1968 - als er nicht mehr gegen die
Kolonisation zu kämpfen hatte - zwischen dem Ideal der weimarer
Klassik und der schwarzafrikanischen Weltanschauung herausstellte,
ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Das Ideal des Ausgleichs
zwischen Vernunft und sinnenwelt (auf der Ebene des Individuums),
der Allianz zwischen Mensch und Natur (auf der Ebene sowohl des
Individuums als auch der Gemeinschaft oder gar der ganzen
Menschheit), welches im Sturm und Drang auf eine aggressive weise,
in der Romantik durch eine Idee und Realität vermittelnde
philosophische Systematisierung, in der Weimarer Klassik durch die
auf Läuterung der Humanität ausgerichtete Suche nach
Ausgewogenheit zum Ausdruck kam, war eigentlich eine Regression
vorn damaligen neuzeitlich-europäischen Denken ins Vorrnoderne.
Durch die Kolonisation sind Schwarzafrika und andere Teile der
Welt in den Sog dieser neuzeitlich-europäischen Kultur
hineingezogen worden. Was diese Kultur aber auf grund der von ihr

herbeigeführten Scheidung zwischen Mensch und Natur für Schäden an
unseren natürlichen Lebensgrundlagen angerichtet hat und weiter
anzurichten droht, läßt sich nicht mehr bestreiten.
Der Weg aus dieser gefährlichen situation geht zwar nicht
unbedingt über Goethe und die Goethezeit. Aber die Beschäftigung
mit der Literatur dieser Epoche der Geschichte der deutschen
Kultur entfernt - trotz deren zeitlicher Entlegenheit - nicht von
den heute lebenswichtigen Fragen. In Entwicklungsländern - etwa,in
Schwarz afrika - kann die Auseinandersetzung mit Goethe und anderen
Autoren seiner zeit deshalb nicht nur Anlaß zu einer Reflexion
über Entwicklungsprobleme geben, sondern auch Wege zu einer
weniger destruktiven Entwicklung finden helfen.
Senghor hatte dies - besonders in der zweiten Phase seiner
Goethe-Rezeption - zwar schon begriffen, hat aber nicht alle
Konsequenzen daraus ziehen können. Er hatte sich zwar, im
Diltheyschen Sinne, in die Texte von Goethe eingefühlt; er hat
aber mit ihnen nicht im Habermasschen sinne voll kommunizieren
können. Als Nicht-Germanist war Senghor ungenügend ausgerüstet, um
die von ihm gelesenen Werke Goethes erschöpfend zu befragen, und
erst recht, das von ihnen Unerfragt-vermittelte zu vernehmen, was
einem Germanisten hätte vollkommen möglich sein können.
Germanisten gibt es heutezutage im frankophonen Schwarzafrika,
und die haben sich mit Goethe und der Goethezeit konsequent
auseinanderzusetzen. Das könnte, auf der Basis der relativen
Gleichzeitigkeit von Modernisierungsprozessen im Deutschland der
Goethezeit und im heutigen frankophonen Schwarzafrika, im sinne
einer "historisch-vergleichenden Entwicklungsforschung mit
Literaturwissenschaft" geschehen, wie sie von Leo
I'

357
Kreutzervorgeschlagen worden ist(863). Goethe kann insofern
gleichsam als Entwicklungshelfer und seine Zeit als
entwicklungs fördernd fungieren, als man Texte von Goethe oder aus
der Goethezeit zum Anlaß nimmt, Lebensverhältnisse des eigenen
Landes im Hinblick auf seine Entwicklung zu reflektieren. So
genutzt, können Goethe und die Goethezeit schwarz afrikanische
Leser zu sich selbst zurückführen .
.:~.'
Aufgrund dieser Bedeutung der Goethezeit für Entwicklungsländer
".'
dürfte die Beschäftigung mit ihr in Schwarzafrika sich nicht auf
die Germanistik beschränken, sondern sich auf die ganze dortige
"{

Intelligenz erstrecken. Der schwarzafrikanische Germanist hat die
dortigen Literaten, Geistes-, Sozial- aber auch
Naturwissenschaftler auf das hohe Interesse der Goethezeit
aufmerksam zu machen, indem er sich mit entsprechenden Beiträgen
an fachlichen und besonders interdisziplinären Diskussionen
beteiligt. Dabei ginge es darum, die schwarzafrikanische
Intelligenz darauf aufmerksam zu machen, daß Goethe und andere
Autoren seiner Zeit einen Weg vorgeschlagen hatten, um die
menschlichen Lebensverhältnisse zu modernisieren, ohne die
wichtige Verbindung zwischen Mensch und Natur zu zerstören, wie
das durch das neuzeitlich-europäische Modernisierungsmodell
geschieht.
Auf diese Weise wird die Beschäftigung mit Goethe und anderen
Autoren seiner Zeit im frankophonen Schwarzafrika keine rein
akademische Angelegenheit bleiben, auch wenn die Palmen, unter
863)vgl. Leo Kreutzer. Literatur und Fehlentwicklung. Lobrede auf eine
historisch-vergleichende Entwicklungsforschung mit Literaturwissenschaft. In:
Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende
Literaturwissenschaft, Heft 1990, 5.45ff

351
denen sie dort wandeln, einstweilen allesamt auf dem
Universitätscampus stehen.
c--.-;:..-.,...-'i'."".?~
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359
_LITERATURVERZEICHNI5_
Dieses Literaturverzeichnis führt alle Titel an, die in der
einen oder der anderen Weise für die Arbeit von Bedeutung gewesen
sind.
Unter I. Quellen finden sich alle Texte, die Gegenstand der
Analyse gewesen sind. Unter H. Kritische Literatur und
Darstellungen finden sich alle wissenschaftlichen Studien und
Werke, die ich zum Thema herangezogen habe. Unter 111. Allgemeine
Literatur sind solche Titel verzeichnet, die in einen breiteren
Kontext des Themas gehören.
I.
QUELLEN
-Baader (Franz): über das durch die Französische Revolution
herbeigerufene Bedürfnis einer neuen und innigeren Verbindung der
Religion mit der Politik (1815). In: Franz Baaders Schriften zur
Gesellschaftsphilosophie, hrsg. von Johannes Sauter in der Reihe
Die Herdflamme, Verlag G. Fischer, 14.Bd., Jena 1925
-Derselbe: Gedanken aus dem großen Zusammenhang des Lebens (1813).
In: Franz Baaders Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, op.cit.,
S.36-52
-Claudius (Matthias): Der Schwarze in der Zuckerplantage (1774).
In: Werke, 1.Bd., Stuttgart 1834-35, S.7
-Delavignette (Robert): Soudan-paris-Bourgogne, Grasset, Paris
1935
-Delavignette (Robert) u. Julien (Ch-Andrä): Les constructeurs de
la France d'Qutre-Mer. Ed. corr@a, Paris 1946
-Descartes (Renä): Discours de la mäthode suiyi des Meditations.
Union Gänärale d'Editions, Paris 1963
-Derselbe: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit
den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Übersetzt und hrsg. von
Artur Buchenau, Hamburg 1965
-Diderot (Denis): Pensäes sur l'interprätation de la nature. In:
Oeuvres completes, Ed. Assäzat et M. Tourneux, Paris 1875,
Neudruck, Liechtenstein 1966, torne 2
-Dirky de Malus (Pascal D.): La guestion du Dya ou la conception
de I'homme selon les peuples negro-africains. Vervielfältigtes
Manuskript 0.0. und o.J.
-Duttenhofer: über die Emanzipation der Neger. Nördlingen 1855
-Fichte (J.G.): über den Begriff der wissenschaftslehre oder der
sogenannten Philosophie. In: Sämtliche Werke, hrsg. von
J.H.Fichte, Verlag von veit und Co., 1.Bd., Berlin 1845, 5.27-411

-Forster (Johann Georg): Noch etwas über die Menschenrassen
(1786). In: Georg Forsters Werke, bearb. von Siegfried Scheibe,
Berlin 1974, Bd.8, S.130-155
-Derselbe: Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit.
In: Georg Forsters Werke, op.cit., Bd.8, 5.185-193
-Galilei (Galileo): Unterredungen und mathematische
Demonstrationen über zwei neue Wissenzweige. die Mechanik und die
Fallgesetze betreffend (1638), Deutsche Fassung, Darmstadt 1973
-Gleim (J.W.L.): Sebastian Wisch. der Neger in Surinam an seinen
Freund William Knirps zu Fernambuk (1785). Hrsg. von Jürgen
StenzeI, Stuttgart 1970
-Gn~ba Kokora (Michel): Une äme n~gro-africaine face au message du
romantisme allemand. In: N~gritude et Germanit~. L'Afrigue Noire
dans la litt~rature d'expression allemande. Actes du 12e Congres
de AGE5 12-15 Avril 1979 a Dakar. Nouvelles Editions Africaines,
Dakar 1983, S.129-136
-Derselbe: Ein Beispiel der Beziehungen zwischen westeurop~ischer
und schwarzafrikanischer Literatur. In: Dialog Westeuropa-
5chwarzafrika. Inventar und Analyse der gegenseitigen Beziehungen.
Wien, München, Zürich und Innsbruck 1979, 5.155-162
-Goethe (Johann Wolfgang von): per ZauberflÖte zweiter Teil (1798)
In: Goethes poetiSChe Werke. Vollständige Ausgabe, Stuttgart 1959,
Bd.3, 5.521-536
-Derselbe: Dichtung und Wahrheit. Werke, Hamburger Ausgabe,
München 1982, Bd.9 u.10
-Derselbe: Zum 5hakespeares-Tag (1772). In: Werke, Hamburger
Ausgabe, op.cit. Bd.12, S.224-228
-Derselbe: von deutscher Baukunst(1771). In: Werke, Hamburger
Ausgabe, op.cit., Bd.12, 5.7-15
-Derselbe: Götz von Berlichingen (1773). In: Werke, Hamburger
Ausgabe, op.cit., Bd.4, S.73-175
-Derselbe: Eqmont (1788). In: werke, Hamburger Ausgabe, op.cit.,
Bd.4, S.370-454
-Derselbe: Prometh~us. In: Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.1
S.44-46
-Derselbe: Ganymed. In: Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.1
S.46-47
-Derselbe: Grenzen der Menschheit. In: Werke, Hamburger Ausgabe,
op.cit., Bd.1, S.146-147
-Derselbe: Das Göttliche. In: Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit.,
Bd.1, 5.147-149
-Derselbe: Über Kunst und Altertum, Bd.1, zweites Heft (1828). In:
Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.12, S.142-164

361
-Derselbe: Faust. der Tragödie erster und zweiter Teil. In: Werke,
Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.3
-Derselbe: Winckelmann. In: Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit.,
Bd.12, 5.96-128
-Derselbe: Literarischer 5ansculottismus (1795). In: Werke,
Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.12, 5.239-244
-Derselbe: Antik und Modern. In: werke, Hamburger Ausgabe,
op.cit., Bd.12, 5.172-176
-Derselbe: Die schönen Künste in ihrem Ursprung. ihrer wahren
Natur und besten Anwendung. betrachtet von J.G. 5ulzer (1772). In:
werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.12, S.15-20
-Derselbe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Werke, Hamburger
Ausgabe, op.cit., Bd.7
-Derselbe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In:
Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.8
-Derselbe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und
Subjekt(1792). In: Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.13, S.10-
20
-Derselbe: Der Pfingsmontag. Lustspiel in Straßburger Mundart. In:
Goethes Werke, hrsg. im AUftrag der Großherzogin Sophie von
Sachsen, 41.Bd., 1. Abtheilung, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar
1902, S.147-168. Goethes Kommentar 8.242-244. Diese Ausgabe wird
im Folgenden als Weimarer Ausgabe bezeichnet und auch WA abgekürzt
werden.
-Derselbe: Betrachtungen über Morphologie überhaupt. In: Ders.:
Schriften zur Naturwissenschaft, bearb. von Dorothea Kühn u. Wolf
v. Engelhardt, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1964, Bd.10,
S.140""144
-Derselbe: Bildung der Erde. In: Ders.: Schriften zur
Naturwissenschaft, op,cit., Bd.11, 5.109-112
-Derselbe: Zur Farbenlehre. Polemischer Teil. In: Goethes Werke,
weimarer Ausgabe, op.cit., Bd.34,2
-Derselbe: Maximen und Reflexionen. Insel Taschenbuch 200,
Frankfurt a.Main 1976, Baden-Baden 1982
-Derselbe: Moderne Guelfen und Ghibellinen. In: Goethes Werke,
Weimarer Ausgabe, Bd. 41, zweite Abtheilung, S.274-277
-Derselbe: per Bürgergeneral (1793). In: Goethes Werke, Weimarer
Ausgabe, Bd.17, S.251-308
-Grund (Franz): Die Amerikaner in ihren moralischen. politischen
und gesellschaftlichen Verhältnissen. Cotta, Stuttgart u. Tübingen
1837
-Hampat~ Ba (Amadou): Kaydara. NEA, Abidjan/Dakar 1978
~~ ·.~-~{~i·~~"':~P'illi'liiii·ilViVl;;i4;;Oi.iiiliiill_""'liii;;;;;;;;;Aii211l11!1Il!;1I.""t
_ _::1101tll!j
~
_

362
-Hebga (Meinrad): Une seule pensee, une seule ciyilisation. In:
Presence Africaine, Nr.14-15 (1957), S.301-307
-Hege I (G.W.F.): Enzyklopädie der philosophischen wissenschaften
im Grundrisse. 111. Teil: Die Philosophie des Geistes. In: Werke
in zwanzig Bänden, Frankfurt a,Main 1970, Bd.10
-Derselbe: Phänomenologie des Geistes. In: Werke in zwanzig
Bänden, op.cit., Bd.3
-Derselbe: Enzyklopädie, op.cit., I. Teil: pie wissenschaft der
Logik. In: Werke in zwanzig Bänden, Bd.8, § 19-244
-Derselbe: Enzyklopädie. op.cit., 11. Teil: Die Naturphilosophie.
In: Werke in zwanzig Bänden, Bd.9
-Derselbe: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In:
Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt a,Main 1970, Bd.12
-Derselbe: Grundlinien der Philosophie des Rechtes. In: Werke in
zwanzig Bänden, op.cit., Bd.7
-Heine (Heinrich): Sämtliche Schriften. Bd.5, Schriften von 1831-
1837, Hrsg. von Karl Pörnbacher, München/Wien 1976
-Herder (Johann Gottfried): Auch eine Philosophie der Geschichte
zur Bildung der Menschheit (1774). In: Sämtliche Werke, hrsg. von
Bernard Suphan, Berlin 1877, reprint Hildesheim 1967, Bd.5, S.475-
583
-Derselbe: Briefe zu Beförderung der Humanität. In: Sämtliche
Werke, op.cit., Bd.18, S.1-356
-Derselbe: Gespräch über die Bekehrung der Inder durch unsere
europäische Christen. In: Adrastea, 3.Band, 5.Stück (1802). In:
sämtliche Werke, op.cit., Bd.23, S.498-505
-Derselbe: Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit(1784-1791). In: Sämtliche Werke, op.cit., Bd.13 und 14
-Derselbe: Neger-Idyllen. In: Ders.: Briefe zu Beförderung der
Humanität, 10. Sammlung, Riga 1797. In: sämtliche Werke, op.cit.,
Bd.18, S.224-236
-Derselbe: Stücke aus einem älteren critischen Wäldchen (1767).
In: Sämtliche Werke, op.cit., Bd.4, S.199-264
-Derselbe: Über die Deuere deutsche Literatur. Dritte Sammlung
Biga 1767. In: Sämtliche werke, op.cit., Bd.l, S.357-449
-Derselbe: Homer und Ossian. In: Sämtliche Werke, op.cit., Bd.18,
S.446-464
-Derselbe: Ist die Schönheit des Körpers ein Bote der Schönheit
der Seele? (1766). In: Sämtliche Werke, op.cit., Bd.l, S.43-56
-Derselbe: Journal meiner Reise im Jahre 1769. In: Sämtliche
Werke, op.cit., Bd.4, 5.344-509
e
**

363
-Derselbe: J.C.Lavaters physiognomische Fragmente.
Zweiter Versuch
(1776). Sämtliche Werke,
op.cit.,
Bd.9,
S.442-464
-Derselbe: Der entfesselte Prometheus.
In: Herders Werke,
hrsg.
von Heinrich Düntzer,
Berlin o.J.,
2.Theil,
5.141-156
-Derselbe: Von deutscher Art und Baukunst
(1773).
Hrsg. von
Irmscher (Hans Dietrich),
Stuttgart 1988
-Humboldt (Wilhelm von):
Betrachtungen über die Weltgeschichte
(1814).
In: Werke in fünf Bänden, Darmstadt 1960,
Bd.1, S.567-577
-Derselbe: Ober die Aufgabe des Geschichtsschreibers.
In: Werke in
fünf Bänden, op.cit., Bd.1, S.585-606
-Kant (Immanuel): Kritik der reinen Vernunft
(1781). Nach der
2.Auflage (1787), STW 55, Frankfurt a.Main 1974
-Derselbe: Kritik der urteilkraft (1790).
STW 57, Frankfurt a.
Main 1974
-Derselbe:
Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen
(1764).
In:
Ders.: Vorkritische Schriften bis 1768,
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-Derselbe: Von den verschiedenen Racen der Menschen zur
Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie im
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In: Werke in zwölf Bänden, Frankfurt
a.Main 1964, Bd.11, 5.11-30
-Derselbe: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
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-Klinger (Maxilian):
Sturm und Drang (1776). Stuttgart 1970
-Derselbe: Fausts Leben. Thaten und Höllenfahrt.
In: Ausgewählte
Werke, Cottasche Buchhandlung, stuttgart 1879, Bd.3
-Kotzebue (August von):
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dramatisches Gemälde in drey Akten.
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Ders.:
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Paul Gotthelf Hummer,
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-Lavater (Johann Caspar): Physiognomische Fragmente. Hrsg. von
Friedrich Märker, bei Heimeran, Oldenburg 1848
-Leibniz
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Veröffentlichung 1720), Stuttgart 1979
-Lessing (Gotthold Ephraim): Briefe. die neueste Literatur
betreffend (1759).
In: Werke, hrsg.
von Herbert G. Göpfert,
München 1973, Bd.5, 17.Brief, S.70-75
-Derselbe: Hamburgische pramaturgie. In: Werke,
op.cit., Bd.4,
S.229-708
-Derselbe: Doktor Faust. In: Werke,
op.cit., Bd.2, 5.487-491
D#",JS41W.W.«iA Te. ;.~"'L'~""

-Meiners (Chritoph): Ober die Natur der afrikanischen Neger. Int
Ders: Göttingisches Historisches Magazin, Hannover 1790, Bd.6,
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-Mozart (W.A.): pie Zauberflöte (Text von Schikaneder) , hrsg. von
W.Zentner, stuttgart 1971
-Müller (Adam): Von der Notwendigkeit einer theologischen
Grundlage der gesamten staatswissenschaften und der
Staatswirtschaft insbesondere (1819). In: Nationalökonomische
Schriften, hrsg. von Albert Joseph Klein, Lörrach 1983, S.370-427
-Derselbe: Die innere Staatshaltung systematisch dargestellt auf
theologischer Grundlage (1820). In: Nationalökonomische Schriften,
op.cit., S.428-463
-Derselbe: Elemente der Staatskunst (1808-1809). J.D.Sander,
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-Nietzsche (Friedrich): Menschliches Allzumenschliches. Stuttgart
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-Novalis (Friedrich Hardenberg): Die Christenheit oder Europa. In:
Schriften, hrsg. von Paul Kluckhohn u. Richard Samuel, Darmstadt
1968, Bd.3, S.507-524
-Derselbe: Hymnen an die Nacht. In: Schriften, op.cit., Bd.1,
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-Pezzl (Johann): Faustin oder das philosophische Jahrhundert
(1783). Hildesheim 1982
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Ders.: Geschichte und Politik. Ausgewählte Aufsätze und
Meisterschriften, hrsg. von Hans Hofmann, Stuttgart 1942, S.133-
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-Rathlef (E.L.M.): Die Mohrin zu Hamburg. Hamburg 1775
-Reitzenstein (Karl Frh. von): pie Negersklaven (1793).
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-Sadji (Amadou Booker Washington): NegritUde et Germanite. In:
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-Savigny (Friedrich KarI): Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung
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-Schiller (Friedrich): Kallias oder über die Schönheit (1793).
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-Derselbe: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen
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-5enghor (Leopold 5edar): Le message de Goethe aux Nägres nouveaux
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-Derselbe: Negritude et Germanite 1 (1961). In: Ders.: Liberte 3,
Ed. du 5euil, Paris 1977, 5.11-17
-Derselbe: L'Accord conciliant. In: Leopold 5edar 5enghor:
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-Derselbe: L'esthetigue negro-africaine. In: Ders.: Liberte 1. Ed.
du 5euil, Paris 1964, 5.202-217
-Derselbe: Peter Abrahams ou le classigue de la Negritude. In:
Ders.: Liberte 1, Ed. du 5euil, Paris 1964, 5.425-430
-Derselbe: Le probläme culturel de l'A.O.F. In: Ders.: Liberte 1,
Ed. du 5euil, Paris 1964, 5.11-21
-Derselbe: Elements constitutifs d'une ciyilisation d'inspiration
negro-africaine. In: Ders.: Liberte 1, Ed. du 5euil, Paris 1964,
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-Derselbe: L'Afrigue noire. La civilisation negro-africaine
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-Derselbe: Vues sur l'Afrigue noire ou assimiler. non ätre
assimiles (1945). In: Ders.: Liberte 1, Ed. du 5euil, Paris 1964,
5.39-68
-Derselbe: Assimilation et association. In: Ders.: Libert§ 2, Ed.
du 5euil, Paris 1971, 5.19-28
-Derselbe: Nous ne voulons plus etre des sujets. In: Ders.:
Liberte 2. Ed. du 5euil, Paris 1971, 5.17-18
-Derselbe: Ce gue l'homme noir apporte. In: Ders.: Libert§ 1, Ed.
du 5euil, .Paris 1964, 5.22-38
-Derselbe: Chants d'ombre suivi de hosties noires, Ed. du 5euil,
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-Tidiany (C.S.): Le Noir africain et les cultures indo-
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-Wagner (Richard): Kunst und Klima (1850). In: Gesammelte
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221
-Wieland (Chr.Martin): Über die Behauptung, daß ungehemmte
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Wielands Werke, Berlin 1911, 7. Bd., S.417-438
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Gesammelte Schriften. 1.Abteilung der Werke, Berlin 1911, 7.Bd.,
S.458-468
-Wolfram (von Eschenbach): Parzival. Aus dem Mittelhochdeutschen
zum ersten Male übersetzt von San Marte. Magdburg 1836
II.
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-Adotevi (Stanislas): N4gritude et negrologues. Union generale
d'editions, Paris 1972
-Angelloz (J.-F.): Actualite de Goethe. In: Etudes Germaniques,
No.2-3 (Avril-Septembre 1949), S.97-103
-Aziza (Mohamed): L.S.Senghor: La poesie de l'action. Conversation
avec Mohamed Aziza. Ed. stOCk, 0.0. 1980
-Baioni (Giuliano): "Märchen". "Wilhelm Meisters Lehrjahre",
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367
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(1975), S.73-127
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-Derselbe: cing "slogans" de Goethe dans leur authenticitä
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120
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-Baxa (Jacob): Gesellschaft und Staat im Spiegel der deutschen
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Jena 1924, Bd.8
-Beck (Adolf): Der "Geist der Reinheit'· und die "Idee des Reinen".
Deutsches und Frühgriechisches in Goethes Humanitätsideal. In:
Ders.: Forschung und Deutung. Ausgewählte Aufsätze zur Literatur,
hrsg. von Fülleborn (Ulrich), Frankfurt a.Main/ Bonn 1966, S.69-
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von Steinbach. Seine Entstehung und Wirkung. München 1943
-Binswanger (Hans Christoph): Geld und Magie. Deutung und Kritik
der modernen wirtschaft anhand von Goethes Faust. Stuttgart 1985
-Bitterli (Urs): Die Wilden und die Zivilisierten. München 1976
-Bleyler (Karl-Eugen): Religion und Gesellschaft in Schwarzafrika.
Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1981
-Bloch (Ernst): Figuren der Grenzüberschreitungj Faust und Wette
um den erfüllten Augenblick. In: Sinn und Form. Beiträge zur
Literatur, 8.Jg., 1-3/1956, S.177-200
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Nachwort von wolfgang Bender, Stuttgart 1966
-Böhm (Wilhelm): Faust der Nichtfaustische. Halle/ Saale 1933
-Böhme (Hartmut): Lebendige Natur. wissenschaftskritik.
Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe. In: Deutsche
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Geistesgeschichte, Nr.60 (1986), Heft 2, S.249-272
-Boka-Män6 (Lydie): Schwarzafrikanische Beurteilung der
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vorgelegt in der Deutschabteilung der Universität Abidjan, 1985
-Borchmeyer (Dieter): Die Weimarer Klassik. Athenäum Taschenbuch,
Königstein 1980, 2 Bände

-Derselbe: HÖfische Gesellschaft und FranzÖsische Reyolution bei
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-Bote (Margret): Goethe und Newton; Kritik an der neuzeitlichen
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-Boucher (Maurice): Goethescher Geist und zwanzigtes Jahrhundert,
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-Braemer (Edith): Goethes Prometheus und die Grundposition des
sturm und Drang. Berlin und Weimar 1968
-Brandt (Helmut): Der bleibende Schiller. In: Weimarer Beiträge,
Nr.31, 11/1985, 5.1774-1792
-Brednow (Walter): Symbol und Symbolik in der Biologie Goethes.
In: Goethe. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd.28 (1966), 5.
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-Broszinsky-Schwabe (Edith): Kulturreyolution in Afrika. Berlin
1979
-BrUggemann (Fritz): Goethes "EgJnont": die Tragödie des
versagenden BUrgertums. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft,
Nr.ll (1925), 5.151-172
-Buch (Hans Christoph): Die Nähe und die Ferne. Frankfurter
vorlesungen. Frankfurt a.Main 1991
-Burdach (Konrad): Das religiöse Problem in Goethes Faust. In:
Euphorion, Nr.33 (1932), 5.3-82
-Cassirer (Ernst): Freiheit und Form. Studien zur deutschen
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-Closs (August): Goethe und der europäische Geist. In: Euphorion,
Nr.67 (1950), l.Heft, S.23-35
-Comb~s (Joseph): L'Idäe de critigue chez Kant. PUF, Paris 1971
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Nouvelle Francaise, tome 38 (Mars 1932), 5.321-350
-D'Almeida (Theodore): L'Afrigue et son medecin. Collection Point
de Vue, Ed. Cle, Yaounde 1974
-Diagne (Pathe F.): L'europhilosophie face ä la penste du Ntgro-
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-Dobbeck (Wilhelm, Hrsg): August yon Einsiedel. Berlin 1957
-Duchet (Mich~le): Anthropologie et histoire au Si~cle des
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-DUntzer (Heinrich): Goethes Faust, 2. AUfl., Leipzig 1907
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369
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-Eberhardt (Hans): Goethes Umwelt. Forschungen zur
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-Eckermann (Johann Peter) : Gespräche mit Goethe in den letzten
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-Eggebrecht (HaraId, Hrsg.): Goethe. Ein Denkmal wird lebendig.
München u. zürich 1982
-Eggert (Hartmut): Über die Bedeutung kultureller vermittler.
Aphoristisches über Spezialistentum und aUfgeklärten
Dilettantismus. In: Daß eine Nation die andere verstehen möge.
Festschrift für Marian szyrocki zu seinem 60.Geburtstag, hrsg. von
Norbert Honsza und Hans-Gert Roloff, Rodopi, Amsterdam 1988,
S.187-196
-Eibl (KarI): Anamnesis des "Augenblicks". Goethes poetischer
Gesellschaftsentwurf in Hermann und Dorothea. In: Deutsche
Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte, Nr.58 (1984), 1.Heft, S.111-138
-Einern (Herbert von): Anmerkungen zu Goethes Schriften zur Kunst.
In: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, op.cit., Bd.12, S.548-651
-Einstein (earl): Negerplastik (1915). In: Werke, hrsg. von Rolf-
Peter Baacke, Berlin 1980, Bd.1, S.245-263
-Engelhard (Michael): Größer als das deutsche Reich. Die deutsche
Kolonialzeit Kameruns. In: Höpker (Wolfgang, Hrsg.): Hundert Jahre
Afrika und die Deutschen, Pfullingen 1984, S.39-42
-Eppelsheimer (Rudolf): Goethes Faust. Das Drama im Doppelreich,
Stuttgart 1982
-Erpenbeck (John): " ... die Gegenstände der Natur an sich
selbst ... ". Subjekt und Objekt in Goethes naturwissenschaftlichem
Denken seit der italienischen Reise. In: Goethe. Jahrbuch der
Goethe-Gesellschaft, Bd.105 (1988), S.212-233
-Falk (Hans Gabriel): Goethes griechische Visionen. In: Merkur,
10.Jg., 8/1956, S.733-745
-Fink (Gonthier-Louis): De Bouhours ä Herder. La th~orie francaise
des climats et sa reception outre-Rhin. In: Recherches
Germaniques. No.15 (1985), S.3-62
-Derselbe: Goethe und Voltaire. In: Goethe. Jahrbuch der Goethe-
Gesellschaft, Bd.101 (1984), S.74-111
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1909

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Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg 31. 2.Heft (1982), 5.191-
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-Fränkel (Jonas, Hrsg.): Goethes Briefe an Charlotte von 5tein.
Berlin 1960, Bd.1
-Frederking (Arthur): Goethes Euphorion. In: Euphorion, Nr.15
(1908), 5.697-712
-Fried (Anne): Goethes vielfältiges Erbe. In: Goethe. Jahrbuch der
Goethe-Gesellschaft, Bd. 100 (1983), 5.72-83
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-Frisi (Paolo): Essai sur l'architecture gothigue. Livorno,
coltellini 1766, deutsche Übersetzung 1767
-Geerdts (Hans Jürgen): Goethes erste Weimarer Jahre im Spiegel
seiner Lyrik. In: Goethe. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd.93
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-Gerichten (Brigitte): Die Bedeutung der Französischen Revolution
in Goethes Werken von 1790 bis 1800. TÜbingen 1963
-Gerstenberg (Ekkehard): Recht und Unrecht in Goethes "Götz von
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-Gide (Andr6): Classicisme. In Ders.: Incidences, Gallimard, Paris
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-Derselbe: R6flexions sur l'Allemagne (1919). In: Incidences,
Gallimard, Paris 1924, 5.11-21
-Derselbe: Goethe. In: La Nouvelle Revue Francaise, tome 38 (Mars
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-Derselbe: Journal 1939-49. Gallimard, Paris 1954
-Derselbe: R6ponse a une enguäte de la Renaissance sur le
classicisme. In: Incidences, Gallimard, Paris 1924, 5.210-212
-Gn6ba Kokora (Michel): L'Image de l'Afrigue dans les lettres
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-Göres (Jörn): Goethes Ideal und die Realität einer geselligen
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-Derselbe: Vom Genuß der Erkenntnis -bei Goethe. In: Goethe.
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-Derselbe: Die Idee der Entwicklung im spiegel des Goetheschen
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Zwiespaltes zwischen Klassikern und Romantikern. In: Jahrbuch der
Goethe-Gesellschaft, Nr. 32 (1970), 5.115-141
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-Derselbe: Zum 5ymbolbegriff im zweiten Teil des "Faust". In:
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'-':~~:d~~i:::~~~i·:;.;~~-~.TÄA~::'"'ii"1ff77-m-

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Identität. In: Weimarer Beiträge, 8/1985, 5.1237-1264
-Haussherr (Hans): Goethes Anteil am politischen Geschehen seiner
Zeit. In: Goethe. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd.11 (1949),
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-Heinermann (Theodor): Goethe in Frankreich. In: Euphorion, Nr.33
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inneren Form des Werks. In: Zeitschrift für Ästhetik und
allgemeine Kunstwissenschaft, 3d.12 (1917), 1.Teil 5.86-137;
2.Teil 5.161-178; 3.Teil (5chluß) 5.316-351
-Hesse (Hermann) : Die Plastik der Neger (Vossische Zeitung vom
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-Hillach (Ansgar): Klingers 5turm und Drang im Lichte eines
frühen, unveröffentlichten Briefes. In: Jahrbuch des freien
deutschen Hochstifts. Tübingen, 1968
-Hinderer (Walter, Hrsg.): Goethes Dramen. Neue Interpretationen.
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-Hippe (Robert): per "Walpurgisnachtstraum"
in Goethes "Faust",
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-Höhne (Herbert): Bemerkungen zu Goethes Bemühungen um eine Reform
der Finanzen in 5achsen-weimar-Eisenach (1782-1788). In: Goethe.
Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd.104
(1987), 5.231-252
-Holtzhauer (Helmut): Faust, 5ignatur des Jahrhunderts. In:
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-Horkheimer (Max) u. Adorno (Theodor W.): Dialektik der AUfklärung
(1947). Neudruck, Frankfurt a.Main 1969
-Irmscher (Hans Dietrich, Hrsg.): von deutscher Art und Kunst:
einige fliegende Blätter / Herder, Goethe. Frisi, MÖser.
(Hier
besonders das Nachwort des Herausgebers zu "Von deutscher
Baukunst"), 5tuttgart 1988

I
373
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